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Ich hätte weiter auf dem Weg bleiben können, auf dem ich ging, leer und verbittert, krank und innerlich verzweifelt. Ich hätte mir noch mehr Mühe geben können, den Whiskygestank meines trunksüchtigen Mannes auszulöschen, die Böden noch sauberer zu schrubben, mein betrübtes Herz zum Schweigen zu bringen. Natürlich hatte ich das tun können, aber welchen Preis hätte mich das gekostet?

      Eine komplexe Sinfonie von Akzenten – von Cockney und melodischem Irisch bis hin zu gehobenem Queen’s English – begleitete mich auf dem gepflasterten Weg, als wäre sie eigens für meine Ankunft geschrieben worden. Ich bestieg einen Zug und fuhr nach London, wo ich ausstieg und ein Taxi nahm. Die Schönheit der Stadt zog an mir vorbei: Kopfsteinpflaster und rote Doppeldeckerbusse, Laternenpfähle, die sich so majestätisch über die Straßen beugten, dass es aussah, als bewachten sie die Stadt. Männer in Anzügen auf Fahrrädern, Frauen in eleganten, taillenbetonten Kleidern, die auf hohen Absätzen daherstöckelten. Kathedralen mit Türmen, die sich dem Himmel entgegenstreckten. Kirschrote Telefonzellen an den Straßenecken, deren Türen oft offen standen wie eine heimliche Einladung. Schließlich erreichte das Taxi Phyls Wohnung in der 11 Elsworthy Road – einer von Birken und Ahorn gesäumten Straße, die verlockend wie ein Geheimgang war.

      Ich glaubte immer noch die Meereswogen unter meinen Füßen zu spüren, als ich auf den Stufen stand und mit der zuversichtlichen Hoffnung auf einen neuen Anfang an die Tür klopfte. Phyl riss die Tür auf, und im ersten Moment erkannte ich sie nicht. Das letzte Mal hatte ich sie zu Hause in Staatsburg gesehen, blass und von Selbstmordgedanken geplagt – doch nun stand sie mit roten Wangen und einem strahlenden Lächeln vor mir, begrüßte mich überschwänglich und drückte mich fest an sich. „Da bist du ja!“

      Transformation. Ja! Das war es, was ich suchte. Indem ich es beim Namen nannte, machte ich es mir zu eigen – eine Transformation meines Herzens und meines Leibes.

      Und beginnen würde es hier in London.

       Heute werde ich Jack treffen. – Dieser Gedanke ließ mich in Phyls Gästezimmer mit einem Lächeln erwachen. Ich war nun schon seit einem Monat in England. Es war mir wichtig gewesen, bevor ich meinem Brieffreund begegnete, zu Kräften zu kommen, mich ein wenig zu sammeln und mir den Frieden und die Ruhe zu gönnen, die ich dringend benötigte. Heute nun war es so weit.

      Der Teekessel pfiff. Es war Zeit aufzustehen.

      In den letzten Tagen war ich Englands Charme erlegen. Die Zeit war verflogen und hatte mir bewiesen, wie relevant sie ist, dass sie schneller vergeht, wenn man glücklich ist. Sie rann an mir herunter wie Wasser von einer hohen Klippe. Die Neugier hatte mich gepackt, alles über die 900 Quadratmeilen große königliche Stadt zu lernen und zu erfahren, was ich nur konnte. Schließlich musste die lange Trennung von meinen kleinen Jungen die Reise wert sein, und ich setzte alles daran, dass es so war.

      Als Phyl und ich über den Trafalgar Square schlenderten, schnaufte sie atemlos: „Du musst mittlerweile durch die ganze Stadt gelaufen sein. Bist du es noch nicht leid?“

      „Leid?“ Ich breitete die Arme aus und lachte. „Beim Laufen konnte ich schon immer am besten die schwermütigeren Anteile meiner Persönlichkeit abstreifen. Und ich bin einfach überwältigt von der Schönheit dieser Stadt.“ Ich setzte mich auf den Rand des Brunnens und winkte sie zu mir. „Was ich faszinierend finde, ist die Art und Weise, wie ich jetzt die Dinge sehe. Es kommt mir vor, als hätte ich durch den Glauben an Gott neue Augen bekommen; die Welt steckt voller Möglichkeiten und Faszination. Sie ist nicht mehr bloß Natur oder einfach Schönheit – sie ist eine Offenbarung.“

      Sie blinzelte in die Sonne und gab mir einen Rippenstoß. „Für mich sieht sie genauso aus wie immer.“

      „Oh, Phyl!“ Ich streckte meine Hände zum Himmel. „Erkennst du nicht, dass alles möglich ist? Alles! Die Welt verändert sich, wenn man die Liebe versteht, die dahinter, darüber und darunter steckt.“

      „Du schnappst dir das Leben mit beiden Händen, Joy.“ Sie klopfte anerkennend auf mein Knie.

      Wir gingen wieder nach Hause. Während der verbliebenen Wochen wurde ich von den Zahnärzten und Ärzten, die ich besuchte, durch die Mangel gedreht – meine Genesung war ein Hauptzweck dieser Reise. Außerdem verbrachte ich tagsüber viel Zeit mit Lesen und Recherchen, Schreiben und Unterwegssein. Ich lernte neue Freunde kennen und fand eine Schriftstellergruppe.

      Viele Briefe gingen hin und her zwischen Bill, den Kindern, Renee und mir. Ich wollte ihnen von jeder Einzelheit meiner Reise berichten.

       Joy:

       Oh Renee, ich wünschte, du wärst mit mir am Trafalgar Square gewesen, wo ich ein spanisches Restaurant entdeckte, das du geliebt hättest. Aber eins ist mir klar geworden: Die Londoner müssen halbe Enten sein. Ohne die Kreppsohlen an meinen Schuhen hätte ich durch die Straßen schwimmen müssen.

       Bill:

       Ich freue mich sehr, zu hören, dass alles „eitel Freude und Sonnenschein“ für dich ist und dass du wunderbar glücklich bist, aber wir machen hier eine schwere Zeit durch. Das Geld ist knapp. Verzeih, dass ich dieses Mal nicht mehr schicke.

       Joy:

       Liebster Poogle,

       es tut mir sehr leid, dass das Geld zu knapp ist. Ich werde hier mein Möglichstes tun, zu schreiben und zu verkaufen und das Kleingeld zusammenhalten. Ich denke oft an dich: Ich wünschte, du hättest hier bei mir sein können, als ich ein Freilufttheater besuchte und ein mächtiges Gewitter das Zelt durchschüttelte, so wie damals in Vermont! Einen Ausflug nach Hampstead Heath habe ich auch gemacht und dort sehr günstig drei Kunstwerke erstanden, darunter ein Aquarell für nur fünfunddreißig Schillinge. Es ist ein wunderschönes Viertel, mit allen möglichen Künstlern und Schriftstellern. Vielleicht sollten wir das Haus verkaufen und hierherziehen. Alles Liebe, Joy

       P. S. an Davy: Im Aquarium hier gibt es einen anderthalb Meter langen Salamander aus Japan!

      Davy hatte mir geschrieben, dass Bill ihm endlich erlaubt hatte, eine Schlange anzuschaffen – er nannte sie Mr. Nichols. Ich musste immerzu an meine Jungs denken, und als ich den Londoner Zoo besuchte, vermisste ich sie sehr und kaufte Souvenirs, um sie ihnen zu schicken.

      Ich besuchte Madame Tussauds und jede Kapelle, jede Kathedrale und jede Kunstgalerie, die mir offenstand. Dann machte ich mich auf eigene Faust auf den Weg nach Canterbury, wo ich das Gefühl hatte, in ein Buch einzutauchen, das ich als Kind gelesen hatte. Noch nie hatte ich ein Land gesehen, das aus meinen Träumen entsprungen zu sein schien: die verführerischen, sanft geschwungenen Hügel in ihren vielfältigen Grüntönen, durchzogen von Steinmauern und übersät mit Schafen.

      Immer wieder aufs Neue verliebte ich mich in England. Mit jedem neuen Anblick verwandelte sich meine Seele ein wenig mehr. Ich wollte stark und fest gegründet sein, bevor ich Jack persönlich kennenlernte.

      Ich reiste durch Kent, eine Landschaft voller Kühe und gewundener goldener Hügelketten. Ich versuchte sie in meinen Briefen zu beschreiben, aber wie nur sollte ich ihr gerecht werden? Meilen über Meilen voller Apfel-, Birn-, und Pflaumenbäume. Haselnusssträucher und Ebereschen mit roten Beeren, lodernd wie ein Feuer, das nicht verzehrte. Kastanienbäume und Hopfenfelder flogen an mir vorbei wie Bilder von Renoir. Ich saugte alles in mich hinein, was ich sah. Unter den Bombenkratern aus dem Zweiten Weltkrieg kamen antike römische Straßenpflaster und Mauern zum Vorschein. Wohin ich auch sah, gab es eine Geschichte. Wie provinziell und langweilig kam mir im Vergleich dazu Amerika vor.

      Und dann die Freunde, die ich fand. Nach zwei Tagen Aufenthalt klopfte ich auf Jacks Drängen hin an die Tür von Florence Williams. Ihr verstorbener Mann Charles Williams hatte sie immer seine „Michal“ genannt, und obwohl er nun nicht mehr lebte, war der Name geblieben. Er war ein Dichter, Theologe und Schriftsteller gewesen und hatte gemeinsam mit Jack und J. R. R. Tolkien den Inklings angehört. Ein Zufall, über

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