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mehr als nur ein paar Zufälligkeiten mit seinem patriarchalischen Bruder gemeinsam hat. Der Unterschied zum Kaiser liegt vor allem darin, dass er die Menschen nicht von außen beherrscht, sondern sie sozusagen von innen her missioniert, durch ihre eigenen Affirmationen dirigiert, die er ihnen vorgegeben hat. In einem Satz: Der Meister des Sermons ist entweder der Offenbarer tiefster Wahrheiten und verborgenster Geheimnisse oder der Besitzer der gespaltetsten Zunge, die der Tarot an verschlungenen Irrlehren für uns bereithält.

      Analyse

      Der Hierophant in der Erscheinung eines mesopotamischen Priester-Königs steht in einem komplementären Verhältnis zum Kaiser. Wenn jener die Projektion unseres inneren Elternbildes nach außen trägt, dann ist dieser ein Symbol der kontrollierenden Autorität des Patriarchats. Er stellt den religiösen Überbau dar, unter dessen schützendem Dach das in der Welt dominierende Prinzip des Kaisers überhaupt erst aufblühen kann.1 Sein Bestreben, die Dinge auf verschiedenen Ebenen und in unterschiedlichen Zusammenhängen zu sehen, wird durch die geometrischen Formen unterstrichen. Es sind ineinander gefügte Fünfecke und Fünfsterne, in die der hohe Priester eingebettet ist, und in dessen Zentrum sich ein weiteres, kleineres Pentagramm befindet, das ein tanzendes, männliches Kind darstellt, was nach Crowley die Vereinigung des Mikrokosmos mit dem Makrokosmos darstellt.1

      Diese Fünfecke symbolisieren die Perspektive oder das Fenster, aus dem der Oberpriester in den Kosmos schaut und nach einer Antwort sucht: Denn irgendwo muss sie ja stecken, die ultimative Wahrheit, die Weltformel, die ihm erklärt, wie die Schöpfung entstanden ist, was sie am laufen hält und welchen tieferen Gesetzen sie folgt. Dabei bedient er sich völlig wertfrei bei allen Religionen und Philosophien, denen er habhaft werden kann. Doch erst, wenn er merkt, dass er selbst das ist, was er sein eigenes Ziel nennt, und das sich in seiner Ausdehnung immer weiter von seinem Zentrum entfernt, das gleichzeitig wachsen muss, um sich seiner Ausdehnung bewusst werden zu können, wird er das Geheimnis lösen. Das zeigt die mit neun riesigen Nägeln um seine spirituelle Aura geschlagene Schlange2, die den geistigen Blindfleck genauso wie die Erkenntnis verkörpert (Taube am Schlangenende), denn manchmal verbirgt sich vor einem Menschen die Wahrheit, solange er in der göttlichen Erkenntnis nicht die Formel Jod – Caph entdeckt.2 Sein ungeliebter Schatten drückt sich im maliziösen Lächeln sowie in der linken Hand des Priesters aus, der die Ungläubigen mit seinen zu Teufelshörnern gespreizten Fingern erschrickt. Zusammen mit Taube und Schlange können wir in dieser Geste die verdrängte Wahrheit sehen, die er gerne unterschlägt, solange sie nicht mit seinem Selbstbild korrespondiert. Das kann im schlimmsten Falle auch bedeuten, dass er aufgrund seiner Mission die Menschen in seinen Bann reißt, damit sie ihm helfen, seine Vorstellungen zu tragen. Er, der den Weg erkannt hat, gibt den Menschen das Drehbuch vor, nach dem sie den Film drehen, in dem sie die Vision von Gott nach seiner eigenen Regie dann nach seiner Fertigstellung gemeinsam anschauen und auch glauben (als fixes Weltbild zementieren). Der Schlüssel zum Geheimnis dieser Karte heißt: Die Sehnsuchts-Allmacht des Hohepriesters bebildert die Sterne! (Oder – boshafter formuliert – veräppelt die Seelen!)

      Nähern wir uns nun den Details. Der Priesterstab mit den drei Ringen steht für die obere Triade am Lebensbaum (Kether, Chokmah, Binah); auf der irdischen Ebene drückt er aber auch die drei Zeitalter von Isis, Osiris und Horus und damit die Verbindung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft aus.3 Des Hierophanten Thron ist von Elefanten umgeben und er sitzt auf einem Stier. Dieser Stier, der auf kultische Verehrung in antiken Religionen zurückgeht, stellt das Goldene Kalb dar, ein Kult, der im Alten Testament als Götzenbild bekämpft wurde.4 Um den Hierophanten herum gruppieren sich die vier Cherubim in den vier Ecken der Karte, die als geflügelte Wesen die Bundeslade bewachen. In der Bibel haben sie vier Gesichter: Mensch, Löwe, Stier und Adler, die in der christlichen Mythologie die vier Evangelisten vertreten. Sie sind auch die Vertreter für die vier Urstoffe Feuer, Wasser, Luft und Erde und werden mit den vier festen Zeichen des Tierkreises verbunden (Wassermann, Löwe, Stier und Skorpion). In der ägyptischen Sagenwelt verkörpern sie die Sphinx und in der kabbalistischen Tradition das JHVH-Tetragrammaton. Was sehen wir noch? Die fünf weißen, herzförmigen Rosenblätter seines Scheitelchakras stehen für geistige, durchscheinende Transzendenz, einen tiefen und unerschütterlichen Glauben an die allwissende Vorsehung und damit an alles, was er in seinem männlichen Weltbild als intuitiver Bannstrahl des Weiblichen empfängt. Die Schlange »in seinem Kopf« hat sich um seine Anima (im gematrischen Sinn ein Mädchen namens Rose) entrollt und Crowley suggeriert: Und auch lasst die Narren die Liebe nicht verwechseln; denn da gibt es Liebe und Liebe. Da ist die Taube, dort ist die Schlange. Wählet gut!5 Auch wenn er in dem, was er für die Göttin hält, nicht die Göttin, sondern nur sein Frauen-Suchbild erkennt, so gehört das, was er durch den Geist der Rosenblätter einatmet (Rose = Vagina), mit zum Feinsten, was er durch das Bild seiner Göttin aufnehmen kann.

      Kommen wir zum Besten. Als diametrale Einsicht oder als ein unbewusster Teil aus einer anderen Raum-Wirklichkeit, als Ausschnitt der Sexualität im Licht verdrängten Erkennens oder im Geiste emotionaler Unberührbarkeit scheint die in einen dunkelblauen Mantel gehüllte und mit einem Schwert bestückte Hohepriesterin vor ihm auf, deren Haupt durch die Spitze des mittleren Pentagramms in einen erhellenden Lichtkegel getaucht wird.3 Sie ist die neuäonische Form des Hierophanten und kündigt bereits die gewaltige Veränderung an, die sich später in VIII – Ausgleichung manifestiert: die Priesterin, die nicht nur über, sondern auch mitten unter den Menschen steht. Mit der Sonne im Bauchgeflecht und dem Mond in der Hand empfindet sie männlich-aktiv-positiv und handelt weiblich-empathisch-negativ. Die Mondsichel zeigt, dass sie offen für persönliche Gefühle ist, ein Kind ihrer eigenen Sehnsucht, das in das Paradies zurückstrebt, aus dem sie einst verstoßen worden ist, und das sie auf Erden zu repräsentieren glaubt. Aus christlicher Perspektive verkörpert sie gar eine Maria Magdalena, die der hohe Priester dem Meister Jesus in die Arme legen möchte. Zumindest versucht er sie über die menschlichen Gefühle hinauszuheben, dass sie in der persönlichen Liebe den Hauch des Göttlichen spürt. Doch im Æon des Horus stellen sich die ganzen Energieflüsse um, denn Atu V ist eine Ankündigung des Unterganges des Patriarchats. Künftig wird alle Macht der Frau gegeben sein, die in Liebe unter Willen die Aufgaben des Hierophanten verrichtet (Atu VIII). Das alte Machtsystem wird sich in »Liebe ohne Willen« auflösen, und an seine Stelle wird ein natürliches Machtgefüge treten, das die Geschlechter verbindet und universell gültig ist. Etwas schlangenzüngiger formuliert wäre der Pontifex dann nur noch eine Art Reisebüro, in dem wir die Tickets buchen können, die uns in den Himmel zurückführen und bei regelmäßigem Training und der richtigen geistigen Haltung auch die göttliche Absolution garantieren.

      Weiterführende Bemerkungen

      1 Im Pentagramm auf der Brust des Hierophanten kündigt sich das neue Zeitalter (XX – Der Æon) in Form des Horuskindes an, das im Mittelpunkt verschiedener ineinander gelegter Fünfecke und Fünfsterne, Symbole der Quintessenz und der Sinnfindung, steht. Es ist ein Symbol der psychischen Verwandlung im Inneren des mächtigen Mannes. In dieser kindlichen Rolle erfüllt der Geist jetzt seine psychische Aufgabe als Vermittler zwischen Gegenwart und Zukunft, durch das (zukünftige) Aussöhnen von Konflikten und das Vereinen von Gegensätzen. Das Kind ist schon deswegen ein schönes Symbol, weil es dem Menschen suggeriert, dass sich das Leben verwandeln lässt, ohne deshalb zu sterben oder seine körperliche Gestalt verlieren zu müssen, ganz nach dem Motto: Das Gute überträgt sich auf das Kind und kommt in der Zukunft zum tragen – kurz:Das Kind soll es einmal besser haben! Ein Irrtum, wie wir wissen, wenn auch ein bisweilen notwendiger Hoffnungsträger.

      2 Crowley schreibt: Auch in den Strahlen des Auges (XVI – Der Turm) befindet sich eine Taube, die einen Olivenzweig trägt. Die Schlange ist in Form der Löwen-Schlange Xnoubis oder Abraxas dargestellt. Durch diese werden die zwei Formen des Verlangens repräsentiert, was Schopenhauer als den »Willen zum Leben« und den

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