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akzeptieren, bevor sie uns eines Tages vergiften. Auch den natürlichen Tod wollten wir nicht haben. Wir haben ihn davongejagt aus den Katakomben unserer Vorstellung. Wir haben die Zyklen der Natur aus unserer Nähe verbannt wie einen räudigen Hund, weil wir beständig versuchen, unserer eigenen Wirklichkeit zu entgehen. Mitten ins Herz der Wirklichkeit haben wir ein System gepflanzt, das uns von eben dieser Wirklichkeit jetzt trennt: ein System, das Krankheit mit Versicherungsprämien verdrängt, Schicksale als sozialen Marktwert verplant und den harmonischen Gang der Natur absichtsvoll verhindert. Damit haben wir die Katastrophe selbst vorprogrammiert.

      Lernen wir ihr zu begegnen, und lernen wir es auch, zu entdecken, dass niemand wirklich weiß. Weder wissen wir, was das Leben ist, noch was wir selbst sind. Diese Erkenntnis stellt kein Scheitern dar, sondern vielmehr eine geistige Erfüllung. Deshalb brauchen wir keinen Gott, der uns belohnt und bestraft. Wir brauchen keine Gralshüter und auch kein Dogma. Nur jenes lebendige Selbst, das uns entgegenblickt, wenn wir in den Spiegel schauen und welches „Gott“ fühlt. Und gleichzeitig jene Auflösung und Hingabe an das ganze All, wenn wir „Ich“ spüren, jenes Quäntchen Etwas, das sich jedem Zugriff entzieht, uns aber aus den Augen eines jeden Menschen ansieht. Das tragen wir nämlich in uns selbst: die Freiheit der Verantwortung zu uns selbst. Nur die Freiheit – nicht den Weg! Diesen müssen wir uns erst erschließen.

      Das wahre Böse sind die Verdrängungsmechanismen einer Kirche und Gesellschaft, die den eigenen Schatten bei sich selbst nicht sehen. Die mit der Waffe in der Hand den Frieden sichern und – welcher Höhepunkt des verdeckten Durchlebens ihres eigenen Chaos! – sogar den Krieg zur gerechten Sache erklären.

      Akron

      Die Religion ist gleichsam ein Fenster, durch das unser Bewusstsein in die Welt hinausblickt. Die Art unserer Religiosität sagt immer etwas darüber aus, wie wir die Welt in unserer Vorstellung selbst erschaffen oder – präziser ausgedrückt – wie wir sie aus dem aufgespannten Rahmen unserer kollektiven Sehnsüchte zurückgespiegelt bekommen. Religion ist also nicht vom Himmel gefallen. Auch sie wird von Menschen gemacht und reagiert auf existenzielle Fragen, die auf der Grundlage beruhen, dass die Seele in sich selbst keinen Frieden und in den Zielen der Welt keine Sinnerfüllung finden kann. Andererseits kann es natürlich auch kaum im Interesse der Religion selbst liegen, diese Fragen wirklich zu beantworten und die Seele zu erlösen. Schließlich würde ein erlöster Mensch kaum „Sinnfindungs-Modelle“ finanzieren, die ihn an sich binden. Also müssen die Religionsvertreter unter allen Umständen zu verhindern versuchen, dass die Seele ihre innere Begrenzung überwindet. Ja, sie würden lieber selbst den Teufel beschwören, als zu erlauben, dass der Mensch außerhalb ihrer Dogmen im Leben Sinnerfüllung erfährt. Unter diesen Vorzeichen muss man alle Äußerungen und Beiträge der Religion zur Erlösung des Menschen betrachten.

      Jahrhundertelang wurde dem Menschen eingetrichtert, dass Gott und Teufel um die Seele eines Menschen ringen und der Sinn des Lebens darin bestehen würde, dem Bösen zu trotzen. Da das Böse aber damit noch nicht überwunden war, wurde es in der Maske des Guten institutionalisiert. Somit konnte man im Namen Gottes ungehindert alles zerstören, dem man auch nur im Entferntesten das Kleid des Bösen anlegen konnte. Die Zerstörung des „Bösen“ mutierte zum „Guten“, zur Sinn spendenden Erfüllung der verdrängten Instinkte des Menschen, der keinen Sinn mehr erfuhr und der mit Lust zerstörte, was sich nicht dem Joch der „Erlösung“ unterwarf. Wie selbstverständlich aggressive Gewalt gegen Andersdenkende oder „Ungläubige“ als Mittel zum Zweck verherrlicht wurde, zeigt folgende Bibelstelle: Dann sah ich den Himmel offen, und siehe, da war ein weißes Pferd, und der, der auf ihm saß, heißt „Der Treue und Wahrhaftige“; gerecht richtet er und führt er Krieg. Seine Augen waren wie Feuerflammen, und auf dem Haupt trug er viele Diademe; und auf ihm stand ein Name, den er allein kennt. Bekleidet war er mit einem blutgetränkten Gewand; und sein Name heißt „Das Wort Gottes“. Die Heere des Himmels folgten ihm auf weißen Pferden; sie waren in reines, weißes Leinen gekleidet. Aus seinem Mund kam ein scharfes Schwert; mit ihm wird er die Völker schlagen. Und er herrscht über sie mit eisernem Zepter, und er tritt die Kelter des Weines, des rächenden Zornes Gottes, des Herrschers über die ganze Schöpfung. Auf seinem Gewand und auf seiner Hüfte trägt er den Namen: „König der Könige und Herr der Herren“. (Offenbarung 19, 11-16)

      So wenig es im Interesse der Religion liegen konnte, den Menschen zu befreien, um so mehr war es ihr Bestreben, die irrationalen Sehnsüchte aufzufangen und sie in gesellschaftliche Modelle einzubinden („Bete und arbeite!“). Denn hätte der Mensch in dem, was er für Gott hält, nicht Gott, sondern nur seine eigene Sehnsucht erkannt, die sich ihm als Gott darstellt und die er nach seinem eigenen Bild wahrnimmt, er hätte sich für die gesellschaftlichen Ziele der Herrschenden, die ihre Herrschaft immer in Verbindung mit dem kollektiv autorisierten Gott zu bringen verstanden, kaum benutzen lassen. Umgekehrt hätte er die Sinnfindungsansprüche seiner naiven Sehnsucht nicht so unbedarft in Verbindung mit seinen gesellschaftlichen Zielen befriedigen können!

      Die Suche nach dem Paradies funktioniert – überspitzt formuliert – nicht nur dadurch, dass wir es nie finden können, sondern auch, indem wir diese Tatsache verdrängen, um weiter nach dem perfekten System suchen zu können. Es ist falsch zu glauben, dass sich unsere Entwicklung in einem Umfeld des Gleichgewichts vollziehen kann; sie mag es zwar ständig suchen, aber sie darf es nicht erreichen, damit Entwicklung überhaupt möglich ist.

      Akron

      Fast scheint es so, als erlebten wir heute die Geburt eines neuen Weltbildes – oder wenigstens die Erweiterung des weltanschaulichen Rahmens für unsere Bilder. Diesen gilt es jetzt auszufüllen, damit wir ein größeres Stück der Wirklichkeit in unser Bewusstsein integrieren können. Das erste, was uns ins Auge sticht, ist der Umstand, dass die großen religiösen Institutionen in unseren Breitengraden an charismatischem Glanz verloren haben. Ihr vormaliges Erlösungsmonopol müssen sie jetzt mit Heilslehren aus anderen Kulturen und mit den üppig ins Kraut schießenden esoterischen Selbsterfahrungsgruppen teilen. Durch bewusstes und intensives Wahrnehmen und Fühlen versuchen die Menschen, sich ihrem eigentlichen Wesen zu nähern. Bisweilen wirkt es schon kurios, wenn zeitgenössische Erleuchtete im Selbsterfahrungs-Workshop genau denselben göttlichen Plan in atemberaubendem Tempo zu durchschauen meinen, den sie im Religionsunterricht noch als höchst lächerlich empfanden. Wir können von unseren selbst geschaffenen Bildern des Göttlichen nämlich nicht so einfach lassen! Die gegenwärtige Epidemie von Selbsterkenntniskursen verwandelt die alten patriarchalischen Gottesbilder in „Große-Mutter-Gottheiten“ oder ähnliche zeitgemäße Varianten. Alter Wein in neuen Schläuchen! In der Spätantike gab es auch keine größere Stadt, in der nicht ein Mithräum oder ein Isis-Tempel stand, wo man sich in die Geheimnisse der Mysterien einweihen lassen konnte. Die Sehnsüchte haben lediglich ihre rituellen Vehikel gewechselt. So fliegen sie denn jetzt auf den Selbsterfahrungs-Besen des neuen Göttinnen-Kults oder anderer esoterisch verbrämter Zeiterscheinungen in die tiefen Brunnenstuben der Ur-Mütter hinab, um die inneren Geheimnisse zu entdecken, die Schleier von den verborgenen Mysterien zu reißen und die wahre Selbsterkenntnis zu finden.

      Eines aber bleibt sich immer gleich: Böses wird verdrängt und auf andere projiziert, und die negativen Prägungen des eigenen Selbst werden vor sich selbst und anderen versteckt. Ihren Ursachen wird nicht begegnet, und da wir in einer Zeit psychologischer Erkenntnisse nicht mehr dumm genug sein dürfen, das Dunkle, Schattenhafte in uns vollkommen zu leugnen, dürfen wir ihm wenigstens falsche Namen geben. Wir nennen es Blindheit oder Unbewusstheit und bringen es mit der negativen Seite eines Geisteszustandes in Verbindung, dessen Gegenstück die Vollständigkeit oder Ganzheit wäre. Das heißt, wir gehen davon aus, dass das Böse die Abweichung vom Guten ist und dass es durch Erkenntnis und Bewusstseinserweiterung zu überwinden sei. Dabei merken wir nicht, dass gerade in diesen esoterischen Modellen der eigentliche, wahre Teufel sitzt, weil durch sie suggeriert wird, dass Bewusstwerdung und Erkenntnis der Tod des Teufels wären.

      Das Böse ist nicht der Widerspruch zum Guten. Es kann nicht

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