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auf denen sich Ende des zwanzigsten Jahrhunderts Menschen, die Jahrzehnte friedlich neben- und miteinander gelebt hatten, abschlachteten wie Tiere. Und das im Herzen Europas, nicht etwa im Irak oder im Kongo. Es wäre damals, bei den Bildern vom Krieg im auseinanderfallenden Jugoslawien, wohl kaum jemandem in den Sinn gekommen, dass das, was sich Zivilisation nannte, auch in Deutschland wie ein Kartenhaus in sich zusammenfallen könnte, sollte erst einmal eine der untersten Karten herausgezogen werden. Bisher waren es immer Kriege, die alles wegbrechen ließen. Zuerst ein Konflikt, dann Krieg, dann Anarchie und Elend und Einsamkeit. Was aber folgt, wenn das Wegbrechen zuerst kommt?

      Eva schauderte.

      Sie war inzwischen an der weit offen stehenden Tür zum Speiseraum angekommen. Bis auf das schwache Licht, das die soeben untergehende Sonne zwischen den Bäumen hindurchschickte, war es dunkel. Auf einem Tisch standen einige Schüsseln und Teller und Besteck. Weiße Porzellanscherben zerschlagener Teller lagen herum. Eva durchquerte den weiten Raum und ging an der langen Theke der Speisenausgabe und der alten Registrierkasse vorbei zu einer Tür. Hinter dieser Tür lag ein Flur, der Küche und Speisesaal miteinander verband. In dem fensterlosen Gang herrschte vollkommene Stille. Alles schien verlassen. Im schmalen Lichtkegel der kleinen Taschenlampe, die eigentlich dazu diente, die Pupillenreaktion Hirnverletzter zu prüfen, sah sie, dass fast alle Türen, die vom Flur abgingen, offen standen. Es gab hier mehrere sogenannte Seminarräume mit jeweils einem Dutzend Computer, an denen die Mitarbeiter der Klinik geschult wurden. Alle Monitore und Computer waren verschwunden, ein letzter zerschlagener Bildschirm lag am Boden. Auch die Schiebetür in die Großküche stand weit offen. Betreten nur in Schutzkleidung gestattet! , mahnte seit Kurzem ein Schild. Sie folgte dem Schein der Lampe, kam an einem kleinen Raum vorbei, in dem sauberes Geschirr lagerte, dann stand sie an einem Förderband. Über das Band rollten dreimal täglich die Tabletts für die Patienten vorbei und wurden von Arbeiterinnen mit dem Gewünschten bestückt.

      Auch hier erschien ihr alles ruhig.

      Vielleicht hatte der Polizist ja doch übertrieben, überlegte Eva. Vielleicht gab es doch eine Chance, noch in dieser Nacht nach Hause zurückzukehren. Er hatte sicher übertrieben, als er von Mord und Plünderungen erzählte. Und was auf der Station geschehen war, war nur ein dummer Zufall.

      Durch die Küchenfenster fiel warmes Abendlicht. Sie wollte gerade die Taschenlampe ausknipsen, als sie ein Geräusch stutzen ließ. Ein Klirren, wie wenn Glas gegen Glas schlägt. Sie blieb stehen und lauschte. Die beiden Herdreihen, mit riesigen Töpfen am Rand und ebenso überdimensionierten Kellen darüber, warteten auf den kommenden Tag. Gulliver im Land der Riesen, dachte sie mit einem Blick auf Töpfe, Pfannen und Kellen. Sie ging um den ersten Herd herum, folgte dem Geräusch. Offenbar kam es aus dem winzigen Aufenthaltsraum am Ende der Küche.

      Plötzlich stolperte sie. Sie verlor das Gleichgewicht und die Taschenlampe aus der Hand, und landete in einem kalten Brei aus rosafarbener Creme und dunkelroten, jetzt in der Dämmerung fast schwarzen Schlieren. Ihre Lampe rollte unter den Herd. Dort blieb sie so liegen, dass sie das starre Gesicht des Chefkoches beleuchtete. Eva erkannte den Mann sofort, ihn, der immer etwas früher als seine Mitarbeiter kam und meist auch länger blieb und der, auch im größten Stress um die Mittagszeit, immer Zeit für einen Scherz mit den Schwestern fand und fragte, wie ihnen sein Essen schmecke.;

      Genau dieser Chefkoch lag tot neben ihr und als Eva sich abstützte um aufzustehen, hielt sie plötzlich ein Ohr in der Hand. Sie warf es zur Seite als sei es glühend heiß und schrie, schrie, wie sie noch nie in ihrem Leben geschrien hatte. Der bis unter die Decke geflieste hohe Raum verstärkte ihre Schreie wie ein riesiges Megafon und warf sie hundertfach zurück. Er wollte ihre Schreie nicht. Unfähig, sich zu bewegen und erschrocken von der Intensität ihrer eigenen Stimme, stand Eva neben dem Koch und starrte auf die Leiche. Überall war sie mit Erdbeercreme und geronnenem Blut beschmiert.

      In diesem Moment wurde die Tür des kleinen Aufenthaltsraumes aufgerissen. Eva hob den Blick und sah Mehmet in die Augen. Mehmet erkannte sie sofort und brüllte: »Es ist die Schlampe von der Intensivstation!« Er suchte seine Pistole und, als er sie nicht fand, riss er Fuchs die Maschinenpistole aus der Hand und schoss eine Salve auf die Schwester. Er hatte aus der Hüfte heraus zu hoch gezielt und die meisten Geschosse prallten an den Gerätschaften über dem Herd ab und versetzten die Kellen und Löffel in Schwingung. Sie stießen gegeneinander und stimmten einen misstönigen Trauermarsch an. Ein Projektil zerriss eine der Neonröhren, die förmlich explodierte, und drei weitere Kugeln schlugen in die gegenüberliegende Wand, die daraufhin einige der weißen Kacheln fallen ließ.

      Eva duckte sich hinter dem Herd als sie Ritters Stimme hörte.

      »Spinnst du, wir brauchen sie lebend, du Idiot!« Er riss Mehmet die MP weg und stieß ihn aus dem kleinen Raum.

      »Los, fangt sie!«

      Dass er nicht schon früher draufgekommen war, ärgerte er sich. Wo sonst, wenn nicht auf einer Intensivstation, würde es Schmerzmittel geben!

      Mehmet durchquerte mit einigen kräftigen Sprüngen die wenigen Meter bis zum Herd. Eva schüttelte ihre Überraschung und das Entsetzen endlich ab, rannte zum Ausgang, während Mehmet über die Arbeitsfläche der Küche setzte. Er kam genau in der von ihm auf dem Boden verursachten Schweinerei an, rutschte aus und landete weich auf dem Koch.

      »Idiot!«, zischte Fuchs, der mit wehendem Mantel an ihm vorbeirannte.

      Eva eilte durch den dunklen Gang, nahm die Abkürzung an den Aufzügen vorbei ins Treppenhaus. Sie sah nicht mehr zurück. Mit wenigen Schritten rannte sie zwei Etagen empor und an einem Mann im Bademantel vorbei, der rauchend im Wartebereich stand und die Asche seiner Zigarette genüsslich auf den Boden streute.

      »Schwester, mein Urinbeutel ist voll!«, rief er ihr mit erhobenem Arm hinterher.

      Eva rannte den fast dreißig Meter langen Flur zu ihrer Station, riss die erste der Türen auf und stand vor dem Eingang zum Aufwachraum. Aufwachraum, dachte sie, Einschlafraum wäre treffender! Sie sah sich um. Sie musste diese Tür irgendwie verriegeln, musste die drei Verrückten daran hindern, hier einzudringen! Die Tür öffnete nach innen. Wenn sie nur irgendetwas so davorlegen könnte … Ihr Blick fiel auf die Betten mit den Toten. Ohne langes Überlegen schnappte sie das erstbeste Krankenbett und rollte es quer vor die Flügeltür. Dann arretierte sie die Bremsen.

      Aber wenn sie die Scheiben einschlagen, kann einer von ihnen hereinklettern.

      Sie rannte zurück in den Aufwachraum und sah sich um. Aber die Regale und Schränke, die als Barrikade infrage kämen, waren fest eingebaut. Einige Stühle und Hocker standen herum, sonst nichts.

      Fast nichts!

      Ohne weiter nachzudenken bückte sie sich und packte die Leiche einer alten Frau an den Armen. Die Frau war schwerer als Eva vermutet hatte. Sie war schon fast kalt und als Eva sie auf die Bettbarrikade stemmte, schlugen ihre Arme wie Pendel gegen Evas Beine. Aber Eva wusste, dass dies ihre einzige Chance war. Sie musste sich verbarrikadieren, quasi mit Leichen einmauern, um die Verrückten fernzuhalten. Sie musste das Kind retten, sich retten. Hans weiß doch noch gar nichts von dem Baby!

      Ihr war schwindelig – vor Hunger, vor Anstrengung, wegen des Kindes in ihr. Aber sie ging zurück und zerrte einen Mann mit offener Operationswunde aus seinem Bett und über den glatten Boden zur Tür. Leiche um Leiche zerrte sie durch den Raum. Weiter und immer noch eine. Evas Arme schmerzten und ihr rann der Schweiß vom Körper und ihr Geruch vermischte sich mit dem Geruch von Erdbeercreme und Tod und Blut.

      26

      21:32 Uhr, Krankenhaus Donaueschingen

      Fuchs und Mehmet hatten den deutlich längeren Weg durch den Speisesaal genommen. Auch sie waren die Treppen hinaufgerannt und als sie den Raucher trafen und ihn fragten, wo die Schwester hin wäre, begann dieser, über seinen vollen Urinbeutel zu schimpfen und dass er nie wieder in diese Klinik gehen würde. Mehmet rannte einfach auf gut Glück einen (falschen) Flur entlang, Fuchs folgte ihm, als Ritter den Wartebereich erreichte.

      »Hier entlang, ihr Idioten!« Ritter humpelte auf Evas Versteck zu. Als er, Fuchs

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