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mit Martin vielleicht nicht glücklich, aber wenigstens zufrieden sein zu können. Irgendwann würden Kinder kommen und das kleine Reihenhaus, das sie umbauten, würde eine Familie beherbergen. Aber je mehr Martin von Kindern sprach, desto größer wurde Evas Angst und ihre Unsicherheit. Sie wusste nicht, was es war, aber irgendetwas stimmte nicht mit ihr, mit dem Leben, das sie lebte.

      Dass der bloße Gedanke an einen Mann sie erregte, war ihr bis da hin noch nie geschehen. Sex war, wie Martins Sportschau-Samstag auch, ein Etwas, das zu einer Ehe dazu gehörte und genau so lief es dann zwischen ihnen auch ab: Nachdem Martin ihr tagelang vergeblich Avancen gemacht hatte, ließ Eva es schließlich irgendwann über sich ergehen, mit den Gedanken sonst wo, ohne Erregung, ohne Lust. Berührungen und Zärtlichkeiten waren ihr schon immer unangenehm gewesen. Wie sollte eine junge Frau genießen und geben können, was sie als Kind niemals erlebt hatte?

      Es war ein warmer Augustnachmittag gewesen damals, als sie sich auf einem abgelegenen Wanderparkplatz getroffen hatten. Genau wie auf dem Foto, aus dem heraus Hans sie jetzt anlächelte. Sie wussten beide, dass es an diesem Tag geschehen würde und sie hatten beide bis zum frühen Abend Zeit.

      Eva hatte gewusst, dass die kommenden Stunden ihr Leben völlig verändern würden, dass sie danach niemals wieder ihren Mann an sich heranlassen könnte. Und trotzdem wollte sie Hans, wollte ihn, wie sie noch niemals zuvor etwas gewollt hatte.

      Und dann konnte er nicht.

      Es ging nicht und das war fast das Schönste, was ihr hatte passieren können, dachte Eva. Denn was stattdessen seine Hände und sein Mund mit ihr taten, hatte ihr fast den Verstand geraubt. Was er ihr schenkte, war reines Glück, war das wirkliche Leben! Geschenke, ganz ohne männliche Gier nach eigener Befriedigung. Ihm war sein Versagen peinlich und er hatte sich geärgert, dass er, wo er doch endlich am Ziel war, nicht konnte.

      Eva hatte seine unbeholfene Art, damit umzugehen, amüsiert, sie liebte ihn mehr als alles auf der Welt. Und jetzt war sie endlich auch bereit, dies einzugestehen.

      Eva streichelte Hans’ Gesicht auf dem Foto. Ihr Herz klopfte laut, hämmerte, aufgeregt wie bei diesem ersten Mal.

      »Aber eigentlich habe ich ja bald zwei Kinder«, sagte Eva und zeigte auf ihren Bauch. Glück hob die Augenbrauen, dann verstand er. Ein breites Lächeln überzog sein Gesicht.

      »Das ist gut.« Er streckte die Hand nach ihr aus. »Darf ich?«

      »Ich bin erst im dritten Monat, noch ganz am Anfang. Sie können noch nichts spüren.«

      Trotzdem nahm sie seine dünne Hand und legte sie sich auf den Unterleib. Aleksandr Glück schloss die Augen. Für einen kurzen Moment war die Welt wieder in Ordnung, war er jung, gesund und voller Kraft und Olga, seine Frau, trug ihren gemeinsamen Sohn in sich. Es war eine kurze, überaus vollkommene Sekunde, die Eva ihm schenkte. Und sie spürte die Ruhe des Alten in sich strömen. Was war wichtig? Am Morgen hätte sie es noch gewusst, da war alles noch klar und geordnet. Es gab Wertigkeiten, die unumstößlich und sicher schienen, in Stein gemeißelt sozusagen. Aber das war lange her, fast schon ein anderes Leben. Eva durfte sich nicht fallen lassen, sie musste stark sein, stark für Aleksandr Glück, für Lea und Hans – und für das Ungeborene. Aber was war das Wichtigste? Sie selbst? Lea? Glück?

      »Sie müssen auf sich aufpassen«, sagte Glück, streichelte ein letztes Mal ihren Bauch, dann zog er die Hand unter die Bettdecke zurück. Hatte er ihre Gedanken erraten? »Nur wenn Sie gesund bleiben, wird es auch das Baby sein. Nur wenn Sie Kraft haben, können Sie morgen zu Ihrer Kleinen fahren.«

      »Morgen? Wird morgen alles wieder gut sein?« Sie hoffte, dass der alte Mann ihr sagen konnte, dass die Welt sich am nächsten Morgen wieder in den gewohnten Bahnen bewegen würde. Dass alles nur ein böser, böser Traum war.

      »Vielleicht. Wahrscheinlich aber eher nicht.«

      »Der Polizist hat erzählt, dass die meisten Straßen blockiert sind und dass in der Stadt geplündert wird. Wie soll ich da, als einzelne Frau, die dreißig Kilometer bis Wellendingen schaffen?«

      Aleksandr Glück musterte sie und sagte dann: »Gehen Sie nicht davon aus, dass in ein, zwei Tagen alles wieder beim Alten sein wird. Vergessen Sie diese Illusion, dazu sind die Veränderungen viel zu einschneidend und viel zu umfassend. Wegen mir müssen Sie nicht gehen, ich freue mich, wenn Sie mir noch ein wenig Gesellschaft leisten. Wahrscheinlich wird nie wieder eine so schöne junge Frau auf meiner Bettkante sitzen«, sie lachte und verdrehte die Augen. »Doch machen Sie sich langsam Gedanken, Schwester, was werden soll, wenn keiner kommt und alles wieder wie früher macht. Überlegen Sie sich das.«

      Sie betrachtete ernst den alten Mann. Er wirkte gefasst und weise, ruhig. War dies der Zustand, den man Alter nennt? Oder war es ein Zustand, den ein Mensch erst dann erreicht, wenn sein Tod unmittelbar bevorsteht, er dies weiß und er dies akzeptiert? Glück wirkte so klug und wissend als könnten seine Augen etwas anderes sehen, als könne er mehr sehen als sie selbst, die noch viel zu sehr dem Leben verhaftet war.

      »Sind Sie jetzt eigentlich ganz allein hier, Schwester? Wo ist dieser Polizist und wo der kleine Doktor?«

      »Dem Polizisten habe ich eine Hose und den Pullover eines …«, sie zögerte verlegen.

      »Eines Toten«, ergänzte Glück.

      »… gegeben. Er wollte in die Stadt, in seine Wohnung.«

      »Schade.« Glück wirkte nachdenklich. »Mit ihm hätten Sie sich vielleicht irgendwie durchschlagen können.«

      »Und Dr. Stiller liegt in seinem Büro und schläft und ist morgen früh hoffentlich wieder einigermaßen erträglich!«

      Nachdem sie Stiller unter dem Bett hervorgeholt hatte, musste Eva ihm ein starkes Beruhigungsmittel geben. Der Arzt war nur noch ein Schatten, zitterte und redete ununterbrochen von Ritter und Mehmet und den Schüssen. Sie hatte ihm eine Decke auf den Boden gelegt, ihn zugedeckt und ihm, wie einem kleinen Kind, versprechen müssen, die Tür offen zu lassen und nach ihm zu sehen. Das war irgendwann gegen fünf, seitdem schlief Stiller und Eva war mit den Kranken allein.

      »Was wird aus Ihrer Frau?«, fragte Eva.

      Olga Glück hatte auch heute ihren Mann besucht, kurz nachdem Ritter und sein Gefolge mit viel Lärm die Station verlassen hatten. Er konnte sie beruhigen und hatte ihre weiche, volle Hand lange gehalten. Dann hatte sie, ungeachtet all des Sterbens um sie herum, ihr allgegenwärtiges Strickzeug aus der Handtasche genommen und an einem Socken weitergearbeitet. Sie hatten sich leise unterhalten, sie auf Russisch, der Sprache ihrer Kindheit, und er in seinem knarrenden Deutsch. Er bestand darauf, Deutsch zu reden, es sei eine Frage des Anstandes, schließlich lebten sie ja nun endlich im Land seiner Urgroßväter. Aber ihr war das egal, denn nur in ihrer Muttersprache konnte sie ihm alles erzählen, konnte plappern ohne lange nachzudenken, fühlte sie sich wohl. Deutsch blieb ihr immer fremd und, wenn es sich einmal nicht vermeiden ließ oder Glück mit Nachdruck darauf bestand, kamen die Sätze nur unvollständig und langsam über ihre Lippen und sagten selten das, wozu sie gedacht waren. So hatten beide auch heute zusammengesessen – eine abgeschiedene, einsame Insel der Glückseligen.

      Dann beantwortete Glück Evas Frage. »Wenn ich endlich gestorben bin, wird meine Frau Tabletten nehmen.« Eva sah auf. Glück nahm ihre Hand. »Wir haben das schon vor Jahren so entschieden, Schwester und damals war ich noch gesund. Olga und ich, wir lieben uns seit fünfundfünfzig Jahren.« Seine Augen leuchteten, als er weitersprach. »Sie war sechzehn bei unserer ersten Begegnung und ich siebzehn.«

      Glück begann, Eva von seiner Kindheit in Moskau zu erzählen, von der riesigen Wohnung, mit Wänden und Fenstern so hoch, dass sie ihn immer mehr an eine Kirche denn Wohnung mahnten, und von seinem Vater, der als Wissenschaftler gearbeitet hatte. Als Hitler seine Kolonnen gen Moskau in Gang setzte, um Bolschewismus und Judentum auszurotten, war es von einem Tag auf den anderen vorbei mit Wohlstand und dem unbeschwerten Leben Aleksandrs. Man unterstellte den Deutschstämmigen, dass sie dem Angreifer näher stünden als dem Land, in dem sie geboren waren und lebten. Glück und seine Eltern wurden in ein sibirisches Lager deportiert und erst nach dem Ende des Großen Vaterländischen Krieges 1945 erlaubte man ihnen unter strengen Auflagen, sich in

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