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kannten sich vier Monate – erst zu wenigen schüchternen Berührungen gekommen war, wusste Eva, dass Hans der Mann ihres Lebens war.

      Plötzlich spürte sie Übelkeit aufsteigen. Sie riss sich den Gummihandschuh herunter, presste die Hand vor den Mund und stürzte nun schon zum zweiten Mal an diesem Morgen aus dem Zimmer.

      Als sie zurückkam, war sie weiß wie Schnee und der Geschmack von Erbrochenem lag auf ihrer Zunge. Sie steckte sich einen Kaugummi in den Mund.

      »Ist alles in Ordnung, Schwester?« Eva versuchte ein Lächeln.

      »Natürlich«, sagte sie. »Es ist alles in Ordnung.« Sie betrachtete den alten Mann. Hilflos lag der auf seinem Bett, so wie ihn Eva vor wenigen Minuten zurückgelassen hatte. Obwohl er das Schlimmste jetzt hoffentlich hinter sich hatte, war er dem Tod doch näher als dem Leben. Und trotzdem, vielleicht aber auch deswegen, spürte er, dass mit seiner Schwester heute etwas nicht stimmte.

      Eva nahm ein Handtuch vom Nachtschrank und trocknete Aleksandr Glück den Rücken ab.

      »Schwester?« Sie musste wieder lächeln, obwohl es in ihren Innereien noch gefährlich rumorte. Aber Aleksandr Glück sagte nicht Schwester, sondern Schwästerrr, mit einem schier endlosen Rollen am Ende. Sie liebte dieses R und wie er es, mit seiner tiefen, warmen Stimme und dem typischen Akzent der Russlanddeutschen aussprach.

      »Ja?«

      »Warum hat vorhin alles gepiepst, wie tausend Vögelein?«

      »Der Strom ist weg.«

      »Oh, ist er das? Das kenne ich aus Russland. Wir hatten oft tagelang keinen Strom und immer einen Berg Kerzen im Schrank. Aber bei uns brannten keine Lampen, wenn der Strom weg war.« Er zeigte mit dem Kinn auf eine flackernde Neonröhre über seinem Bett.

      »Jetzt läuft das Notstromaggregat, glaube ich.« Sie leerte die Waschschüssel.

      »Schade Schwästerrr, dass Sie nicht immer hier sein können. Sie kommen so selten.«

      »Ach, jetzt übertreiben Sie aber!«, antwortete Eva mit gespielter Entrüstung. »Die anderen sind doch auch alle nett.« Eva wusste aber, was er meinte. Sie – das hatte er ihr vor wenigen Tagen selbst gesagt – sie erinnere ihn an seine Frau. Ihre Art, die Wärme und Ruhe – alles wie bei seiner Frau. Und Eva würde seiner damals zwanzigjährigen Frau zum Verwechseln ähneln, heute, nach über fünfzig Jahren Ehe. Sie wollte sich die Hände waschen, der Wasserhahn fauchte, dann war er still. Eva bewegte den Hebel der Mischbatterie hin und her, doch immer mit demselben Ergebnis – es gab kein Wasser mehr.

      »Ich bringe Ihnen Ihr Frühstück.«

      Auf dem Flur standen der Chefarzt, Professor Kellermann, und Stiller, ein junger Assistenzarzt, der heute auf der Intensivstation Dienst tat. Stiller wurde von allen nur Gollum genannt und wer Tolkiens »Herr der Ringe« gelesen oder gesehen hatte und Stiller kannte, wusste warum. Stiller war klein, mager, mit viel zu lang geratenen Armen, die meist hilflos an ihm herabhingen. Er hatte leicht vorquellende Augen und dünne Lippen verbargen nur halbherzig die nikotingelben Zähne.

      »Ich werde alles notieren.« Dr. Stiller war in seinem Element. Mit wachen Augen schlich er durchs Leben, beäugte alles und jeden voller Misstrauen und war eigentlich erst mit einer Situation zufrieden, wenn es an dieser etwas auszusetzen gab. Und wenn er den Schuldigen hierfür gefunden hatte. Den Schuldigen. Den gab es immer.

      »Ich werde alles notieren.«

      8

      07:28 Uhr, Bundesstraße 27 bei Donaueschingen

      Auf der Bundesstraße, die Donaueschingen und das angrenzende Hüfingen in eleganter Schleife umkurvte, herrschte morgendlicher Berufsverkehr. Lkw-Kolonnen rollten aus der Schweiz kommend der Autobahn nach Norden zu und umgekehrt quälten sich auf der einspurigen Strecke die Laster Richtung Süden. Dazwischen Pendler.

      Ricarda Schusters Arbeitsweg führte jeden Morgen an Donaueschingen vorbei. Sie arbeitete in der mittelalterlichen Altstadt Villingens in einem kleinen Versicherungsbüro. Sie war sich sicher, heute würde sie keinen einzigen Abschluss, dafür aber zuhauf Reklamationen, Stornos und was sonst noch alles auf den Tisch bekommen. Dieser Tag musste zur Katastrophe werden! Denn beim morgendlichen Duschen ging gegen sieben plötzlich das Licht aus. Zeitgleich versiegte mit heiserem Röcheln das Wasser. Sie stand splitternackt und nass in ihrem fensterlosen Bad und beim Versuch, die Tür zu ertasten, war sie ausgerutscht und mit dem Kinn gegen die Toilette geprallt. Aber nein, das war es noch lange nicht. Wenn ein Tag so richtig gut anfängt, geht er regelmäßig auch so weiter!

      Nichts funktionierte. Kein Licht, kein Wasser, kein Radio, die Kaffeemaschine hatte ohne Strom auch keine Lust, und zu allem Überfluss streikte das Telefon ebenfalls. Aber wenigstens sprang der kleine Volkswagen an, das Radio aber nicht. Sie legte eine CD ein. Eminem war jetzt genau richtig!

      In der Stadt herrschte ein mittelstarkes Chaos, keine einzige Ampel funktionierte. Sie glotzten mit schwarzen toten Augen blöde auf den zunehmenden Verkehr.

      Irgendwie hatte sie es geschafft, die Stadt heil zu durchqueren und sich in den Fahrzeugstrom Richtung Villingen einzusortieren. Während der Fahrt versuchte sie eine SMS zu verschicken, Eminem schimpfte mit dröhnenden Bässen über die Welt und seine Mutter und der Lkw-Fahrer vor ihr, der auf der Suche nach einem funktionierenden CB-Funkkanal den Verkehr einen Moment unbeachtet gelassen hatte und fast in den Gegenverkehr gerast wäre, vollführte plötzlich eine Vollbremsung. Ricarda, die Augen fest auf ihr ultraflaches Handy gerichtet, raste ungebremst in den Truck. Sie sah noch aus dem Augenwinkel die fröhlich flatternde Plane mit der Aufschrift Gut versichert? und begann sich gerade die Telefonnummer darunter einzuprägen, als der ihr folgende Transporter ihren alten VW unter den Laster rammte. Dann ging für sie die Sonne viel zu früh unter. Ricarda Schuster brach sich beide Beine, vier Rippen, einen Halswirbel und den kleinen Finger. Eine Rippe hatte sich in ihre Lunge gebohrt und aus einer klaffenden Wunde am Kopf blutete sie stark. Vier Männer versuchten vergebens, sie aus dem eingekeilten Wagen zu ziehen, während andere sich erfolglos bemühten, Polizei, Rettungsdienst und Feuerwehr zu erreichen. Wäre der Unfall eine Stunde früher passiert, hätte sich reibungslos eine eingespielte Rettungsmaschinerie in Gang gesetzt. Notärzte hätten die Blutungen gestillt und Feuerwehrmänner die Frau aus dem VW herausgeschnitten. Polizisten hätten den Verkehr um die Unfallstelle herumgeleitet und ein Rettungshubschrauber Ricarda schließlich in die nächste Klinik geflogen.

      Um 7:28 Uhr aber verblutete Ricarda Schuster, ohne noch einmal die Augen zu öffnen. Der Verkehr staute sich schnell in beide Richtungen und Dutzende hilflose Männer und Frauen sahen ihr beim Sterben zu.

      9

      7:45 Uhr, Krankenhaus Donaueschingen, Intensivstation

      Mit sichtlicher Anstrengung wuchtete Peter Tröndle die eigentlich automatisch öffnende, zweiflügelige Glastür zur Intensivstation auf. Tröndle war Verwaltungsleiter und Verzweiflung und Entsetzen standen ihm ins Gesicht geschrieben.

      »Nichts«, keuchte er, »nichts funktioniert mehr.« Er ließ sich auf einen quietschenden Bürostuhl fallen.

      »Stimmt«, kam es tonlos von Stiller. Der Assistenzarzt starrte seit Minuten auf seinen flachen, kaum zigarrenkistengroßen Westentaschencomputer. Der Monitor starrte mit schwarzem Auge zurück. Der Computer war völlig normal angesprungen, als aber das Betriebssystem hochgefahren war, zitterte plötzlich das kleine Bild, ein kurzer Moment, in dem sich unaufgefordert sämtliche vorhandenen Dateien öffneten und wieder schlossen. Dann war Funkstille.

      Das war für Stiller zu viel. Mit offenem Mund starrte er noch immer sein Allerheiligstes an. Er hielt ein Grab in den Händen. Beerdigt waren Termine und Adressen, Telefonnummern und Nachschlagewerke, Fotos. Morgen früh hatte er doch mit seiner hochschwangeren Frau einen Termin beim Frauenarzt! Ultraschall. Baby angucken. Vielleicht könnten sie diesmal endlich sehen, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird. Aber wann, wann zum Teufel sollten sie bei ihrem Arzt sein? Und wie war die Rufnummer der Praxis?

      »Was

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