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stammten, in denen man seinen Großvater und seine Großmutter vor Jahren beerdigte. Als sein Großvater starb, war er sechs, bei seiner Großmutter elf Jahre alt und beide Male lagen die leblosen Körper noch zwei Tage in ihrer Wohnung aufgebahrt. Wer wollte, konnte Abschied nehmen und noch eine letzte Stunde mit ihnen verbringen. Er hatte es zwar immer nur fünf Minuten allein in dem muffigen Zimmer ausgehalten, dafür aber auch als Einziger ein Andenken an ihr letztes Hemd. Thomas spielte mit den Knöpfen, bevor er endlich den kleinen hellgrünen Gummiball hervorholte. Er war nicht richtig grün. Es war ein Ball von der Sorte, die, wenn man sie einfach nur fallen lässt, fast wieder bis zur selben Höhe zurückspringen und aus diesem undefinierbaren durchsichtigen Zeug bestehen, in dem, neben winzigen Luftbläschen, verschiede ne Farbstreifen eingeschlossen sind. Seiner hatte fast nur grüne Streifen. Deshalb war es sein grüner Ball.

      Thomas hielt den Ball in der ausgestreckten Rechten und, obwohl dies die Dunkelheit, in der er feststeckte, in keiner Weise veränderte, schloss er die Augen. Er zählte leise bis drei, dann öffnete er die Hand und ließ den Ball fallen.

      Anders als von Nummer zwei beschworen, folgte unmittelbar ein dumpfes Plopp. Der Ball sprang zurück, dann wieder ein Plopp. Und noch eines und noch eines. Plopp. In immer kürzeren Abständen genoss er den beruhigenden Ton, der von festem Boden erzählte, bis der Ball endlich über den Boden rollte und in einer der Ecken vor ihm liegen blieb.

      Es wäre aber im Bereich des Möglichen gewesen, meldete sich Nummer zwei. Das mit der Säule.

      Thomas nahm nun all seinen Mut zusammen. Er streckte die Hände wieder aus und wagte schließlich einen weiten Schritt nach vorn. Ein kleiner Schritt hätte allerdings auch gereicht, denn in der Enge der Kabine stieß er so fast mit dem Gesicht gegen die Aufzugtür. Seine Hände ertasteten die kalten Aluminiumplatten und den schmalen Schlitz genau in der Mitte. Thomas presste sein Auge gegen die Stelle, an der die beiden Schiebetüren zusammenstießen, konnte aber nichts, nicht einmal ein helles Flackern, erkennen. Und das einzige Geräusch war ein fernes Rauschen, das vielleicht von einem Wasserfall, ebenso gut aber auch vom Rauschen seines Blutes in den Ohren herrühren konnte. Und wenn er es sich recht überlegte, war die zweite Möglichkeit die wahrscheinlichere von beiden.

      Hihi, wir sind gefangen, gefangen, sang Nummer drei und war augenscheinlich glücklich. Wir sind gefangen und keiner wird uns vermissen, hihi. Und jetzt bleiben wir hier und verhungern und verdursten und ersticken und werden waaaaahnsinnig! Hihi.

      7

      07:17 Uhr, Krankenhaus Donaueschingen, Intensivstation

      Reichlich zwei Stockwerke über Thomas Bachmanns Gefängniszelle zwischen Erdgeschoss und Keller befand sich die Intensivstation des Krankenhauses. Erwartungsgemäß waren die Notstromaggregate der Klinik angesprungen. Sie hatten nach dem Stromausfall Punkt 07:00 Uhr nur kurz gezögert, einmal kräftig durchgehustet und waren schließlich zuverlässig wie ein Schweizer Uhrwerk zum Dienst angesprungen. Seitdem dröhnten im Wirtschaftshof die kraftvollen Dieselmotoren und versorgten die wichtigsten Lebensadern der Klinik mit Elektrizität. Auf den langen, kahlen Fluren brannte nur noch jede vier te Lampe und die Patientenzimmer blieben ganz unbeleuchtet. Aber von draußen drang helles Tageslicht durch große, geschlossene Fenster, welche die Gerüche von Krankheit und Tod in den engen, mit jeweils drei Betten besetzten Räumen festhielten. Auf der einen Seite der Scheibe jubelte der Frühling, auf der anderen das Schweigen des Herbstes.

      Eva Seger, die hier als Krankenschwester arbeitete, konnte sich nur schwer konzentrieren. Die Intensivstation, ein langer, breiter Flur mit insgesamt sieben Patientenzimmern, war zum Brechen voll und ständig lag der aufdringliche Ton eines mehr oderweniger bedeutenden Alarms in der Luft. Maschinen meldeten das Ende einer Infusion, unregelmäßige Atemzüge eines Patienten oder ein holpriges EKG. Und mit dem stromlosen Sekundenbruchteil vor dem Anspringen des Notstroms vor wenigen Minuten war es zu allem Überfluss auch noch not wendig geworden, jede der Maschinen auf ihre Einstellungen hin zu überprüfen und die ausgelösten Alarme zu quittieren. Eva Seger hatte hier in Donaueschingen ihren Beruf gelernt. Seit mehr als fünfzehn Jahren kannte sie die Klinik, zuerst auf einer chirurgischen Station, seit acht Jahren nun hier. Anfangs hatte sie die viele Technik gestört, aber es ist wie mit allem: War man erst einmal bereit, sich auf etwas einzulassen, waren die anfänglichen Ängste bald vergessen. Lächerlich.

      Seit Leas Geburt arbeitete sie nur noch Teilzeit. Erst mit Leas Einschulung und durch Susannes Hilfe war es ihr möglich, mehr als ein oder zwei Tage pro Woche zu arbeiten.

      Evas Blick wanderte aus dem Fenster, während sie ihrem Patienten, Aleksandr Glück, das Gesicht wusch.

      Es war an der Zeit, dass sie Hans von ihrer Schwangerschaft erzählte. Sie hatte schon viel zu lange gewartet. Immerhin ahnte sie es seit sechs Wochen und wusste es seit vierzehn Tagen mit Bestimmtheit. Komisch, dass ihm ihre morgendliche Übelkeit noch nicht aufgefallen war. Vielleicht war sie aber auch eine bessere Schauspielerin als sie selbst glaubte. Eva freute sich auf das Kind. Sie hatten nach Leas Geburt schnell ein zweites Kind gewollt, aber dass sie jetzt seit sieben Jahren ohne Verhütung miteinander schliefen ohne dass etwas passiert war, hatte Eva schon fast an ihren Fähigkeiten als Frau zweifeln lassen. War sie eine richtige Frau, wenn sie nicht einmal ein zweites Kind empfangen konnte?

      Eva liebte den Gedanken an eine riesige Familie. Sofort hätte sie auf die Arbeit hier verzichtet, um einzig und allein für ihren Mann und einen Stall voller Kinder da zu sein. Sie träumte oft davon, wie es wäre, wenn an dem riesigen Küchentisch nicht nur sie, Lea und Hans, sondern noch ein halbes Dutzend weiterer Kinder säßen. Lea war schon so groß, viel zu groß, als dass sie Evas Muttertrieb allein hätte befriedigen können. Aber Hans zuliebe hatte sie sich in den letzten Jahren eingeredet, dass so, mit nur einem Kind, alles irgendwie in Ordnung wäre. Wer weiß, vielleicht wäre das nächste Kind behindert oder krank oder tot. Dann doch lieber ein gesundes Kind, wie Hans immer sagte.

      Hans hatte sich mit der Situation bemerkenswert gut und schnell arrangiert. Für ihn war das Leben in Ordnung und Evas Sehnsucht nur schwer zu verstehen. Und das war der Grund, warum sie die frohe Nachricht so lange für sich behalten hatte. Aber sobald Hans morgen Abend aus Schweden zurück war, wollte sie ihm reinen Wein einschenken.

      Vor zehn Jahren hatten sie sich kennengelernt, sie und Hans. Damals hieß sie noch Eva Kiefer, war Martin Kiefers Frau. Bei ihrer ersten Hochzeit war sie gerade neunzehn und heiratete den Erstbesten, wie es ihr im Nachhinein vorkam. Aber um von ihrer Mutter wegzukommen war ihr damals jedes Mittel recht. Eva hatte keine Geschwister und ihr Vater war der unglücklichste Mensch, den sie kannte. Zwischen ihm und Mutter gab es selten ein gutes Wort. Eigentlich konnte sie sich an keinen Moment ohne Spannungen erinnern. Mutter wollte mehr, wollte etwas aus ihrem Leben machen, sich verwirklichen, entwickeln und etwas darstellen. Aber dazu hatte sie, wie sie selbst vor Fremden freimütig zugab, den verkehrten Mann, einen Mann, der nicht in der Lage war, ihre Wünsche zu erfüllen und sie dann zu allem Überfluss auch noch geschwängert hatte. Evas Mutter behandelte ihre Tochter ein Leben lang wie ein unerwünschtes Fundstück, das sich uneingeladen eingenistet hatte und einfach nicht mehr ging. Als Martin Kiefer irgendwann erschien und sein Interesse an Eva bekundete, war das Schlimmste, dass sie nun ihren Vater allein zurücklassen musste.

      Eva hatte seit Jahren nicht mehr bewusst an ihren ersten Mann gedacht. Seit es Hans gab, war alles Vergangene wirklich vergangen. Als Martin damals, als er noch ihr Mann war, eine unverfängliche SMS von Hans auf ihrem Handy fand, zeigte er kurz sein wahres Gesicht. Er vergewaltigte sie auf dem kalten Küchenboden und das Einzige, was sie sich dabei fragte, war, warum es in diesem Raum keinen Teppichboden gab. Weil es unpraktisch wäre, fiel ihr danach ein, als sie allein in der Küche saß und sich die Ohren zuhielt, während Martin zwei Stühle an der Wand über ihrem Kopf zertrümmerte. In den Minuten der Vergewaltigung aber wäre ein Teppichboden praktisch gewesen.

      Die SMS war ein Nichts, aber allein die Tatsache, dass ein fremder Mann seiner Frau schrieb, war für Martin Kiefer damals die Hölle. Heute lächelte er meist wie ein Mann von Welt, lächelte ein wenig zu selbstsicher. Die Vergewaltigung schien es für ihn niemals gegeben zu haben. Im Gegenteil, denn plötzlich bemühte er sich um seine Frau, warb um sie, sagte,

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