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erreichen?«

      »Nein.« Tröndle schüttelte den Kopf. »Normale Festnetztelefone funktionieren nicht. Wir haben es mit einem uralten Apparat probiert, aber auch hier tote Hose. Und mit Handys ist gar nichts zu machen. Die meisten Handys sind völlig hinüber und die zwei funktionierenden, die wir hier im Haus gefunden haben, geben nur Knacken und Rauschen von sich.«

      »Es weiß also auch keiner, was eigentlich los ist und wann wir wieder Strom haben?«

      »Nein.«

      »Irgendjemand muss doch Bescheid wissen!« In Stillers Stimme schwang Verzweiflung. »Es muss doch jemand wissen, wann die Telefone und der Strom wieder funktionieren. Und was mit meinem Computer los ist«, fügte er mit einem Blick auf das jetzt unnütze Ding in seiner Hand hinzu. »Wir leben schließlich nicht im Mittelalter!«

      »Aber«, in Tröndles Augen flackerte Angst, »es scheint noch viel schlim mer zu sein. Die Leute berichten von mehreren Flugzeugabstürzen in der Umgebung. Richtung Blumberg steigt Rauch auf und die Straße nach Villingen ist wohl nach mehreren Unfällen unpassierbar.«

      »Also dann«, Kellermann hatte einen Entschluss gefasst, »für heute werden bis auf Weiteres sämtliche Operationen abgesagt. Stiller, Sie stecken endlich das Ding da weg und schauen, welche Patienten unbedingt bei uns bleiben sollten und welche auf normale Stationenm verlegt werden können. Und stellen Sie sicher, dass es zu keinen Problemen infolge des Stromausfalles kommt.« Dann verließ er gemeinsam mit dem Verwaltungsleiter die Station. Zurück blieb ein hilfloser Stiller. Der Arzt blieb einen Moment auf dem breiten Flur stehen und betrachtete den routinierten Betrieb um sich herum. Alles lief weiter. Als sei nirgendwo der Strom ausgefallen, als könne man sofort jeden Menschen der Welt telefonisch erreichen, als würde sein kleiner Taschencomputer problemlos funktionieren. Das elektrische Licht – dem Notstromaggregat sei Dank − die routiniert arbeitenden Schwestern und Pfleger und die vertrauten Geräusche der unbeirrt tätigen medizinischen Geräte gaben ihm langsam seine Sicherheit zurück. Gollums dürrer Körper straffte sich.

      Eva brachte Aleksandr Glück das bescheidene Frühstück, Brei und etwas Apfelmus. Da die Aufzüge nicht funktionierten, hatte sie es selbst aus der Küche im Erdgeschoss holen müssen. Unterwegs hatte sie mehrmals versucht, bei Susanne Faust anzurufen, aber sie bekam nicht einmal ein Freizeichen. Und auch Hans hatte sich nicht wie versprochen gegen acht gemeldet. Er rief sonst jeden Morgen an, egal ob sie zu Hause oder hier auf Intensivstation war. Heute aber klingelte kein Telefon. Für niemanden.

      Die Station wurde zügig geräumt. Alle bis auf Aleksandr Glück, der noch Medikamente erhielt, die eine dauernde Kreislaufüberwachung nötig machten, wurden auf andere Stationen verlegt, denn Dr. Achim Stiller − Gollum − und sein Chef, Professor Kellermann, erwarteten als Folge der Flugzeugabstürze und Verkehrsunfälle jeden Augenblick Schwerverletzte. Kurz vor halb neun war man bereit.

      Der Ansturm jedoch blieb aus.

      Trotzdem wurden die fünf Operationssäle der Klinik eilig für Notfalleingriffe vorbereitet. Da jedoch sämtliche Kommunikationswege des Hauses unterbrochen waren – Telefon, E-Mail und Piepser funktionierten weiterhin nicht – hielten sich sieben Chirurgen und vier Anästhesisten im OP-Trakt in Bereitschaft, dazu acht Schwestern und Pfleger. Die Stationen wurden durch jeweils einen Assistenzarzt betreut und wer übrig blieb, erwartete in der Nähe der Krankenwageneinfahrt die kommenden Patienten. Zwei Schwestern übernahmen vorerst die Informationsübermittlung und pendelten im Haus zwischen den Chefärzten und ihren Mitarbeitern, der Verwaltungsleitung und den einzelnen Stationen.

      Ein erstes Opfer, Valentin Jost, der zum ersten nicht existierenden Patienten der Klinik wurde, spazierte halb neun durch den Haupteingang. Das Chaos dieses denkwürdigen Morgens hatte, wie es aussah, die Welt zurück ins Mittelalter gezaubert. Und eben dieses Chaos hatte an einer nicht funktionierenden Ampel im Donaueschinger Stadtzentrum einen Kleinbus in Valentin Josts Beifahrerseite befördert. Sein Wagen war danach Schrott und er selbst blutete heftig aus einer Platzwunde am Kopf, mit dem er gegen das Lenkrad geschlagen war. Der Fahrer des Kleinbusses hatte ohne auszusteigen zurückgesetzt und dabei einen Laternenpfahl gerammt. Dieser stürzte auf die Fahrbahn. Der Kleinbus umkurvte Josts Wagen, seine Reifen quietschten über den Gehweg, dann war er auch schon weg. Weder Polizei noch Rettungsdienste befanden sich in der Nähe oder waren zu erreichen. Vergebens hatte Valentin Jost versucht, ein Auto anzuhalten. Um die Unfallstelle und die umgestürzte Laterne herum staute sich der Berufsverkehr schnell in beide Richtungen und sickerte nur zäh durch die Engstelle. Die meisten Fahrer wichen im Vorbeifahren entweder seinem Blick aus oder zuckten nur bedauernd mit den Achseln. Zu Fuß erreichte er das Krankenhaus, die Stirn notdürftig mit seiner Jacke verbunden.

      Valentin Jost, Ehemann und Vater zweier Söhne, wohnte in Wolterdingen, nur vier Kilometer von Donaueschingen entfernt. Wie jeden Morgen war er zu seiner Arbeitsstelle unterwegs. Er arbeitete, neben zwei Dutzend Kollegen aus aller Herren Länder, als Programmierer in einer aufstrebenden EDV-Schmiede. Ende des Jahres sollte der Börsengang erfolgen und den Erlös aus dem Aktienpaket, welches jeder Mitarbeiter zum Vorzugspreis zeichnen konnte, hatte Jost bereits fest eingeplant: Er wollte mit seinen Jungs nach Florida, nach Cap Canaveral!

      Am Haupteingang nahm ihn eine der vorbeieilenden Schwestern in Empfang. »Kommen Sie«, sagte sie nach einem Blick unter seinen Turban, »das muss genäht werden. Ich bringe Sie zu einem Arzt.«

      Aber Valentin Jost gab es als Patienten eigentlich gar nicht, existierte nicht, weil bekanntlich alle Computersysteme streikten. Somit konnte die Versichertenkarte nicht eingelesen und kein patientenbezogenes Projekt angelegt werden. Weder sein Kopf noch die rechte Schulter, an der sich einige Prellmarken begannen abzuzeichnen, konnten geröntgt werden und auch die ärztlichen und pflegerischen Leistungen und Tätigkeiten ließen sich nicht, wie vorgeschrieben, dokumentieren.

      »Holen wir später nach«, versuchte der Chirurg, der Valentin Jost versorgt hatte und nun zur Überwachung auf die Intensivstation brachte, Dr. Stiller zu beruhigen. Aber als Stiller den Schmierzettel sah, auf dem die voraussichtlichen Diagnosen und Patientendaten gekritzelt waren, war er nicht mehr zu halten.

      »Können Sie mir verraten, wie wir hier ordentlich arbeiten sollen, wenn nichts funktioniert?«, herrschte er seinen verdutzten Kollegen an. »Das hier ist eine Intensivstation, nicht irgendeine Wald- und Wiesenabteilung! Ohne gescheite Diagnostik kann ich ihn nicht therapieren«, stellte er in süffisantem Ton und mit verschränkten Armen fest.

      »Sie sollen auch nicht therapieren, sondern überwachen!«, klärte der Chirurg ihn auf. »Die Platzwunde ist genäht. Aber, und das sollten Sie eigentlich wissen, solange eine Hirnblutung nicht ausgeschlossen werden kann, darf ich einen Patienten nicht gehen lassen!« Damit legte er den Schmierzettel, dessen Annahme Stiller bisher verweigerte, dem in einem Rollstuhl sitzenden Valentin Jost auf den Schoß und rannte von der Station.

      Eva und Stefan, ein Pfleger, brachten Jost in ein Zimmer, während Assistenzarzt Dr. Achim »Gollum« Stiller mit vor Zorn hochrotem Kopf das eben Vorgefallene detailliert notierte. Auf einem ebensolchen Schmierzettel, wie ihm bewusst wurde, was seinen Zorn und das Gefühl der Ohnmacht, welches er so abgrundtief verachtete, nur noch verstärkte.

      Stiller war seinem Naturell nach stets zerrissen. Einerseits verlangte das ihm von Kindesbeinen an eingeimpfte Pflichtgefühl nach allseits vorhersagbaren und korrekt erledigten Vorgängen. Auf der anderen Seite war er der Typ Mensch, den man gemeinhin einen Wadenbeißer nennt: ein kleiner giftiger Mann, dessen Unzufriedenheit mit seiner Position und dem eigenen Erscheinungsbild ihn zu einem stets angriffsbereiten Zeitgenossen machten. Stets stand er im Schatten seines zwei Jahre älteren Bruders, der, bereits Chefarzt in Würzburg, immer das Musterkind war − während Stiller mit der offensichtlichen Vorliebe seines Vaters dem älteren Bruder gegenüber und den vielen Komplexen des eigenen Äußeren wegen zu kämpfen hatte. Und was ihm heute an Persönlichkeit mangelte, versuchte er mit übertriebenem Autoritätsgebaren wettzumachen. Anpassung nach oben und Aggressionsabbau nach unten waren seine Devisen, die ihm wenig Sympathien und seinen Spitznamen eingebracht hatte.

      Eva, die aus Glücks Zimmer den Wortwechsel der beiden Ärzte mithören konnte, wusste, dass sie oder einer ihrer Kollegen demnächst als Blitzableiter dienen durften. Hüte dich

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