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vorgeschlagen hatte und er mit den anderen Möglichkeiten auf jeden Fall besser gefahren wäre.

      Nummer drei war sein Albtraum. Nummer drei war verrückt! Er hatte eine schrille, blecherne Stimme und kicherte unentwegt. Nummer drei war auch an seiner Einweisung in die Psychiatrie schuld. Sie, Thomas und seine drei imaginären Begleiter, waren an diesem Tag vor zwei Jahren in Konstanz gewesen und warteten auf den Zug zurück nach Donaueschingen, wo Thomas seit seiner Geburt lebte. Nummer drei hatte schon die ganze Zeit gelacht und auf ihn eingeredet, wie unsagbar schlecht doch diese Welt sei und dass es für Menschen wie ihn keinen Platz gäbe. Die einzig ehrenvolle Möglichkeit, dem Ganzen ein Ende zu bereiten, sei, sich vor den nächstbesten Zug zu werfen.

      Diese Bemerkung hatte die anderen auf den Plan gerufen. Nummer zwei hatte prinzipiell zugestimmt, dabei aber an durchaus brauchbare Alternativen erinnert: man könne zum Beispiel Gift nehmen oder nach Paris reisen und sich vom Eiffelturm stürzen oder eine Guillotine bauen und sich selbst im Sinne der immerwährenden Weltrevolution richten. Man könne aber auch mit einem Fremden hier auf dem Bahnsteig einen Streit vom Zaun brechen und sich von ihm vor den Zug werfen lassen. Schließlich meldete sich Nummer eins (sein Kopfschütteln konnte Thomas in diesem Moment auf dem Bahnsteig fast körperlich spüren) und verlangte, die Entscheidung zum Thema Selbstmord wenigstens so lange zu verschieben, bis man, zu viert sozusagen, noch einmal in aller Ruhe jedes Für und Wider hierzu ausdiskutiert habe und (ganz wichtig!) die Meinung Betroffener eingeholt wäre.

      In diesem Augenblick fuhr der Zug ein. Die Stimmen in seinem Kopf brachen sich Bahn und schrien und tobten: Los, hihi, los, spring! Hihi, wir haben es gleich geschafft!

       Also ich würde den Eiffelturm vorziehen. Ich wollte schon lange einmal Paris sehen! Oh, Paris …

      Nummer eins räusperte sich immer wieder, wurde aber von den anderen beiden ignoriert und übertönt.

      In diesem Moment war Thomas auf dem Bahnsteig zusammengebrochen und während der Zug mit kreischenden Bremsen zum Stehen kam, kniete er inmitten verständnislos blickender Menschen auf dem Bahnsteig. Sie strömten an ihm vorbei und Thomas hielt sich die Ohren zu und schrie. Er schrie so laut er nur konnte, um dem Lärm in seinem Kopf Herr zu werden, um die, die ihm seit Jahren so vertraut waren, zu übertönen. Dann kamen zwei Polizisten und trugen Thomas, weiter schreiend, weg. Jetzt, im Aufzug, verhielten sich die drei auffallend still.

      »Und? Keine Kommentare, keine Ratschläge oder Meinungen?«, fragte Thomas leise.

      Ich sagte schon, dass die Treppe sicherer gewesen wäre. Sonst nichts.

      Auf Thomas’ Stirn bildeten sich erste Schweißperlen. Er verharrte weiter in der Kabinenmitte, als könne eine einzige unbedachte Bewegung seinerseits die Kabine zum Absturz bringen. Aber selbst wenn dieser ziemlich abwegige Fall eintreten sollte, konnte er nicht allzu tief stürzen, er befand sich bereits fast am tiefsten Punkt des schmalen Aufzugschachtes.

      Schließlich wagte er eine erste Bewegung. Er streckte die Hand aus. Er wusste, dass er mit dem Gesicht Richtung Tür stand. So stellte er sich in jeden Aufzug, vielleicht um sehen zu können, wer beim nächs ten Halt ein- oder ausstieg oder weil man einen Eingang, noch dazu den einzigen, einfach im Auge behalten muss! Jede andere Stellung hätte etwas Verschämtes, eine Bestrafung wie in der Schulzeit, wo Thomas manche Unterrichtsstunde in der Ecke, mit dem Gesicht zur Wand und allein mit sich und seinen verirrten Gedanken, zubringen musste.

      Er versuchte einen kleinen Schritt nach vorn, aber Nummer zwei hielt ihn zurück.

      Das würde ich nicht tun!

      Thomas hielt abrupt in der gerade begonnenen Bewegung inne –

      ein Hund, der vom Hof rennen will, aber von einer klirrenden Kette mitten in der Bewegung zurückgerissen wird.

      Oder bist du dir sicher, dass der Boden vor dir noch da ist? Was ist, wenn wir irgendwo im Nichts auf einer schmalen Säule stehen? He, wo hin führt uns dann dein tapferer Schritt nach vorn? Thomas wollte sich gerade ihre Worte durch den Kopf gehen lassen, als Nummer eins seine Zweifel zerstreute:

       Wir sind in einem Aufzug gefangen. Und ein Aufzug hat bekanntlich vier Wände, eine Decke und einen Boden. Also los, hör nicht auf das Geschwätz.

      Nummer zwei räusperte sich. Das war die ganze pikierte Antwort. Jedes weitere Wort verkniff sie sich.

      Thomas erschien das Argument mit der eventuellen Säule abwegig. Aber wenn sie nun doch recht hat? Hätte er vor ein paar Minuten auf sie gehört, wäre er jetzt im Treppenhaus. Und in Sicherheit. Er rieb seine Handflächen aneinander und atmete meditativ mehrmals mit geschlossenen Augen tief durch, um seine aufsteigende Angst zu bekämpfen. Er spürte sie deutlich, seine Angst. Sie wohnte irgendwo in der Nähe seines Magens, wo sie normalerweise nicht weiter auffiel oder störte. Aber in Situationen wie dieser (und ein stecken gebliebener Aufzug war nun wirklich wie geschaffen, Angst zu verbreiten, selbst wenn das Licht noch funktionierte − was in diesem Augenblick bekanntlich nicht der Fall war) streckte sich das kleine Pflänzchen Angst. Es öffnete die tausend Augen und, einmal wach geküsst, gab es dann kaum noch ein Halten.

      Aber Thomas hatte gelernt, gegen seine Ängste zu kämpfen! In ihm wohnten viele Ängste und er kannte sie alle. Die Angst vorm Alleinsein, Angst vor der Dunkelheit, Angst, ausgelacht zu werden, Angst vor der Psychiatrie, den Pflegern dort und dem Fixiertwerden. Des Weiteren war da noch die Angst vor Frauen (die einzige Frau, mit der er einigermaßen auskam, war Nummer zwei), die Angst vor Neu em und Höhenangst.

      Er kramte in seinen Taschen, umständlich und darauf bedacht, die Stellung in der Kabinenmitte zu halten. Die Angst rekelte sich in seinen Därmen und er spürte ihre Bereitschaft, plötzlich in nackte Panik umzuschlagen. Thomas war allein, es war dunkel und er war eingesperrt – drei Ängste, die ihre Zähne fletschten und nur darauf warteten, ihn zu zerreißen.

      Obwohl Thomas wusste, wo in seiner Hose der kleine Ball war, den er jetzt brauchte, tastete er sich zuerst doch langsam durch all seine anderen Taschen. Mit kindlicher Freude spürte er die vertrauten Gegenstände, die ihm wichtig waren. Und sie zu berühren beruhigte ihn. All diese Dinge waren ihm wichtig, so wichtig, dass er sie immer bei sich trug und für niemanden und nichts bereit gewesen wäre, auch nur einen Gegenstand herzugeben.

      In seiner Gesäßtasche, dort, wo jeder andere Mann seinen Geldbeutel aufbewahrt, steckten drei Bilder. Das erste, ein aus einer Tageszeitung herausgerissenes Foto, zeigte schwarz-weiß auf dünnem Papier ein altes, von Efeu überwachsenes Haus mit weißem Gartenzaun, an dem Rosen rankten. Das Bild war an einem warmen Tag aufgenommen, denn die einfachen Holzfenster standen weit offen und auf einer ausgetretenen Steinstufe lag faul eine fette Katze. Nummer eins bestand auf diesem Bild. Es sei seine Heimat.

      Nummer zwei war in eine Ansichtskarte von Paris vernarrt. Damit diese in die Tasche passte, hatte er sie falten müssen und von dem so entstandenen Falz blätterte Farbe ab. Aber noch immer konnte man den Eiffelturm als Großaufnahme und, auf kleineren und etwas schräg eingefügten Bildchen, die Seine, das Moulin Rouge, Sacré-Cœur und den Arc de Triomphe bewundern. In schwungvollen Lettern leuchtete der Name der Stadt: Paris.

      Nummer drei wollte hässliche Bilder. Saddam Hussein am Galgen oder einen überfahrenen Igel, dessen Därme neben ihm lagen. Aber Thomas war nicht bereit, dem nachzugeben. Da sie sich nicht auf eine weniger anstößige Abbildung einigen konnten, suchte Thomas aus einem Abfallbehälter in einem Drogeriemarkt ein Foto heraus. Ein enttäuschter Kunde hatte mehrere seiner fehlbelichteten Urlaubsfotos weggeworfen. Das Bild, das Thomas für Nummer drei einsteckte, war ein unscharfes Kinderporträt. Undeutlich und verschwommen waren blonde Haare vor einem blauenHimmel zu erkennen, der Rest, die Details und das Leben in dem Bild, verschwamm mit den Farben zu einem undeutlichen Traum. Er fand, das Motiv passte zu Nummer drei!

      In der vorderen rechten Hosentasche bewahrte Thomas Bachmann ein altesFünfmarkstück auf. Man weiß schließlich nie was kommt. Oder geht. Und an das ungültige Geldstückschmiegte sich ein kleines Stempelkissen sowie ein Stempel, wie er in jedem gut sortierten Büro zu finden ist, so einer, bei dem sich das Datum nach Tag, Monat und Jahr verstellen lässt und außerdem noch so wichtige Bemerkungen aufgestempelt werden können wie ERLEDIGT, GEMAHNT,

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