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wenn wirklich alles saudumm läuft, aber das hier«, Stadlers ausgestreckter Finger zeigte zuerst auf die Trümmer in der Nähe, die Rauchsäule über der Oberen Alp und schließlich auf den erschreckend menschenleeren Himmel, »das hier ist kein Zufall!«

      »Und das ist ja noch nicht alles.« Faust trat heran.

      »Wie, noch nicht alles?«, fragte Kiefer.

      »Habt ihr noch Strom in Bonndorf?« Kiefer schüttelte den Kopf.

      »Und funktionieren eure Telefone, eure Handys?« Kiefer zuckte die Achseln, kramte aber umgehend sein Handy hervor. Er drückte einige Tasten, doch der kleine Kasten ignorierte seine Befehle und lächelte nur milde in sich hinein.

      »Siehst du.« Faust wirkte verzweifelt. In einer der riesigen Taschen seiner schwarzen Zimmermannshose fand er seinen Flachmann, nahm einen tiefen Schluck und schüttelte sich.

      »Du auch?« Christian Stadler winkte ab, Kiefer griff gierig zu.

      »Ich weiß nicht, was hier abgeht«, Faust schraubte, nach einem zweiten Schluck, die Flasche langsam zu, »aber irgendwas läuft hier vollkommen falsch. Flugzeuge stürzen ab, der Strom ist weg, es läuft kein Wasser mehr, Telefone tot – selbst mein Navigationssystem streikt!«

      »Vielleicht Terroristen?«

      »Terroristen?« Stadler zog die Augenbrauen hoch. »Terroristen können ein Flugzeug vom Himmel holen, ein Elektrizitätswerk sprengen oder einen Funkturm kippen, aber so ein umfassendes Chaos?«

      Er schüttelte den Kopf. »Glaub ich nicht.«

      »Vielleicht kommt der Strom ja bald wieder und in den Nachrichten heute Abend wird alles erklärt?« Kiefers Satz klang wie das berühmte Rufen im Wald. »Es könnte doch irgendwie von der Sonne kommen. Sonnenwinde oder so was.«

      »Da steckt irgendeine Regierung dahinter«, sagte Faust, ohne Kiefer zu beachten. »Etwas so Umfassendes – das waren die Amis.«

      »Oder die Chinesen.«

      »Die Russen waren das.«

      5

      Vierhundert Tage zuvor bei Hamburg

      Die beiden besiegelten das Schicksal der Welt. Keiner war sich dessen bewusst, am wenigsten sie selbst.

      Und warum? Dummheit, Schicksal, Leichtsinn, eine Laune des Augenblicks? Langeweile verbunden mit zu vielen technischen Möglichkeiten? Oder Zufall, der stille Kollege Ich-lach-mir-ins-Fäustchen, der im Hintergrund seine Fäden zieht und selbst neugierig auf das Ergebnis wartet? Wenn es darum ging, die Welt zu verändern – er war zur Stelle. Nicht die Weltanschauungen von Terroristen, nicht die hehren Ziele der Tagträumer verändern den Planeten, nein, Gevatter Zufall zieht im Hintergrund die Fäden, spannt mal diesen, mal jenen für seine Pläne ein (überlässt denen anschließend auch gern den Ruhm der Geschichtsschreiber) und amüsiert sich dabei aufs Köstlichste.

      Axel suchte an diesem Tag im April des Vorjahres seit Stunden im Internet. In vierzig Tagen sollten Prüfungen sein. Geschichte und, was noch viel schlimmer war, Biologie. So gut er Zahlen und Formeln verinnerlichen und nutzen konnte, so wenig waren seinem Hirn Daten und Fakten der Vergangenheit zugänglich. Und noch weniger biologische Abläufe. Konnte jedoch etwas in einer Formel zusammengefasst und in − wenn auch noch so kompliziert anmutenden − Gleichungen dargestellt werden, war er in seinem Element. Schon als kleiner Junge waren Zahlen seine Welt. Tantchen (Tante Elli, um korrekt zu sein) erzählte heute noch bei jeder Gelegenheit, wie er als Vierjähriger alle in Staunen versetzt hatte: sie hatte ihm eine Tüte Gummibären geschenkt und statt diese, wie es Erwachsene von einem normalen Vierjährigen zu Recht erwarten dürfen, im Handumdrehen in sich hineinzustopfen, breitete er die Bären sorgsam vor sich aus. Er sortierte sie nach Farben und rechnete anschließend vor, dass dreimal soviel rote Bären da waren wie gelbe. Und dass er jetzt zwei grüne Bären essen müsse, damit das Verhältnis zu den weißen stimme. Das war zwölf Jahre her. Aber an Axels Vorliebe zu Zahlen hatte sich nichts geändert. Mit sechs bekam er seinen ersten gebrauchten Computer geschenkt, mit acht einen eigenen Internetzugang und mit zehn hatte er sich erstmals in eine fremde Webseite eingeloggt.

      Zwei Häuser weiter wohnte Friedrich Berger, der »Alte Fritz«, wie das ganze Dorf den damals schon weit über achtzig Jahre alten Mann nannte. Seit dessen Frau in den Siebzigerjahren mithilfe eines dicken Seiles die Scheidung eingereicht hatte und ihn mit Haus, Hof und einer herrlichen Streuobstwiese alleingelassen hatte, war er immer mürrischer geworden. Für die Kinder des Dorfes, für die er selten mehr als einen Kieselstein oder Schneeball übrig hatte, waren der alte Fritz und vor allem seine Obstwiese magische Anziehungspunkte. Wenn im Spätsommer die ersten Birnen reif waren und die Säure kleiner Äpfel jede Pore im Mund zusammenzog, entwickelte sich der Obstklau im Garten des Alten zu einem wahren Wettbewerb. Wer würde das meiste Obst mitbringen? Wen würde er erwischen und, vor allem: was würde er mit denen, die er überführt hatte, anstellen? Das Leben war ein endloses Abenteuer.

      Einmal hatte Berger einen Sechsjährigen, der glücklich zwei wurmstichige Äpfel in seinen Taschen versteckt hatte, zur Strafe in einen Apfelbaum gesetzt. Und sitzen lassen. Nach drei Stunden hatte ihn seine Mutter endlich erlöst.

      Axel selbst war nie ertappt worden. Vielleicht das Glück des Tüchtigen, denn Axel war einer der fleißigsten Obstlieferanten für die Kinder des Dorfes. Das wusste auch Fritz. Und einmal musste er in einen Haufen wunderschöner Äpfel, die verdächtig sauber aufgeschichtet am Fuße eines Baumes lagen, etwas eingespritzt haben. Jedenfalls lagen am selben Abend alle Kinder, die von Axels Beute gekostet hatten, mit Bauchkrämpfen im Bett. Abwechselnd hatten sie sich über die Toiletten gebeugt oder auf die Schüsseln gesetzt und sich dabei über die Unmengen Flüssigkeit gewundert, die in ihren Körpern gespeichert war und diese nun geräuschvoll verließen. Als es Axel nach drei Tagen wie der etwas besser ging, versuchte er sich in die Homepage des Versand unternehmens, dessen Lieferwagen in regelmäßigen Abständen vor dem Haus des alten Fritz hielt, einzuloggen. Nach vier Stunden war er drin, eine weitere Stunde und er hatte die Daten seines Nachbarn und nach weiteren drei Tagen durfte sich Herr Friedrich Berger stolzer Besitzer einer nicht ganz billigen Einbauküche nennen. Nur, dass er nicht stolz war. Und in seinem niedrigen Haus ohne groß angelegten Um bau auch wirklich kein Platz für ein solches Monster war. Kein Platz für Mikrowelle, kein Platz für Gefriertruhe und Riesenkühlschrank, kein Platz für die frei im Raum aufzubauende Kochinsel.

      Die Aufgabe, die Axel nun vor genau vierhundert Tagen Kopfzerbrechen bereitet hatte, erwies sich da schon deutlich schwieriger als die kleine Bestellung mit Nachbars Daten. Axel versuchte seit Stunden, sich in einen Computer seines Gymnasiums einzuhacken. Bisher ohne jeden Erfolg. Sein Plan war einfach, genial einfach, wie er selbst glaubte: Ein aus drei winzigen Komponenten bestehender Virus sollte sich im Computersystem des Gymnasiums breitmachen und, wenn nicht alles, was es so an Wahrscheinlichkeitsrechnungen gab, Makulatur war, müsste in den verbleibenden vierzig Tagen der Virus auch den Rechner mit den Prüfungsunterlagen erreicht haben. Nur drei winzige Dateien, besser: Dateifragmente, denn für sich genommen war jeder Baustein sinnlos, ja nicht einmal als Virus(komponente) zu entdecken. Alle drei Bausteine aber gemeinsam auf einer Festplatte würden bald fröhlich zueinanderfinden, Hochzeit halten, sich lustvoll vereinen und anschließend mit ihrer Arbeit beginnen: Uhrenabgleich, Einstellen des Zeitzünders und, nach geruhsamen vierzig Tagen, Löschung aller vorhandenen Dateien sowie des Betriebssystems. Nur sich selbst würden sie verschonen, was eine Neuinstallation ziemlich unmöglich machen dürfte, da jedweder Versuch, den Computer wieder dienstbar zu machen, sofort von der kleinen Virengemeinschaft sabotiert werden würde!

      Axel lächelte bei dieser Vorstellung.

      Zwei Stunden später, er grübelte noch immer über dem Problem des Uhrenabgleichs, kam endlich Lars, sein Schulfreund. Gemeinsam saßen die beiden seit Jahren ihre Stunden im Hamburger Geschwister-Scholl-Gymnasium ab.

      »Auf keinen Fall darf irgendjemand die Fragmente finden …«

      »… und sie müssen sich in alles hineinkopieren, was mit dem infizierten Rechner in Kontakt steht«, ergänzte Axel. »Mails, Datentransfers

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