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könnte man auf die Idee kommen, du wärst neidisch.«

      »Aber Vater!« Ihre dunklen, leidenschaftlichen Augen funkelten.

      »Würden wir Männer in jedem Kleiderschlitz, in jeder offenen Tür oder jedem Loch in der Landschaft ein Vaginasymbol erkennen und das dann mit deiner Vehemenz angreifen – die Menschheit hätte sich längst ausgerottet.«

      »Aber …«

      »Psst!« Assauer legte einen Finger auf die Lippen. »Sei bitte einen Moment still.« Sie folgte seiner Aufforderung. Irgendetwas in seinem Blick verriet ihr, dass dies jetzt nicht mehr zu ihrem Wortspiel gehörte.

      Eckard Assauer musterte den Innenraum des Flugzeugs und die anderen Passagiere. Einige schliefen, andere sahen zum Fenster hinaus. Ganz hinten quäkte ein Baby, begleitet vom Zischen seiner Mutter, die es zu beruhigen suchte. Zwei Reihen vor ihnen klopfte ein Teenager gegen den kleinen, in der Rückenlehne des Vordersitzes eingelassenen Monitor, der vor wenigen Augenblicken verloschen war und ein japanischer Geschäftsmann klappte sein Laptop zu, wobei ihm seine Erziehung half, die Wut über den plötzlichen Computerabsturz vor den anderen Mitreisenden zu verbergen.

      »Was ist denn, Vater?«

      »Hörst du das nicht?«

      »Nein. Was meinst du? Ich höre nichts«, flüsterte sie.

      »Das ist es ja. Ich höre auch nichts.« Er legte seine Notizen auf den freien Platz neben sich und suchte nach einer Stewardess. Aber sie, die doch sonst immer irgendwo irgendwas zu erledigen hatten, schienen spurlos verschwunden.

      »Was hörst du nicht, Vater? Jetzt tu nicht so geheimnisvoll.«

      »Ich höre die Triebwerke nicht mehr.«

      Sybilla richtete sich in ihrem Sitz auf.

      Zu den durchaus begrenzten Vorzügen des menschlichen Wesens gehört zweifellos die mehr oder weniger ausgeprägte Fähigkeit der Verdrängung durch Gewohnheit. Dinge, Umstände oder eben Geräusche, die anfänglich maßlos stören, verlieren sich nach und nach in den Untiefen unserer Gewöhnungsfähigkeit. Wohl eine der wichtigsten Voraussetzungen menschlicher Entwicklung. Denn wie sonst, wenn nicht durch Gewohnheit und Anpassung, sollte es möglich sein, dass Menschen unter Umständen existieren können, die eigentlich jedem Wohlbefinden zuwiderlaufen. Ignoranz, gepaart mit einer gesunden Portion Anpassungsfähigkeit − und plötzlich verliert die Kälte Grönlands, eingepackt in einen dicken Pelz, ihren Schrecken. Triste Wohnsilos der Großstädte verwandeln sich, sobald der Fernseher eingeschaltet ist, in das frische Grün der Welt und selbst der bitter-beißende Geruch des eigenen Partners lässt sich irgendwann ertragen. Menschen verdrängen, was sie stört, so sie es nicht ändern können oder die Kraft hierzu fehlt. Und so lässt es sich selbst mit Geräuschen leben, die für den, der sie nicht kennt, die Hölle sind. Menschen leben an Autobahnen und Rangierbahnhöfen, sie arbeiten in Stahlwerken und sie sitzen stundenlang in Zügen und genießen nach einiger Zeit sogar das unablässige Rütteln und das rhythmische Tatack-Tatack des dahinjagenden Ungetüms. Und sie ignorieren das monotone Surren und Brummen laufender Düsentriebwerke.

      Erst als ihr Vater sie darauf aufmerksam machte, fiel Sybilla die Stille auf. Und jetzt, da sie die Stille wahrnahm, bekam diese etwas Beängstigendes. Es war nicht nur das Nichtvorhandensein eines Geräusches, es waren die Informationen und Tatsachen, die das Gehirn mit diesem Geräusch verband. Waren das Heulen und Jaulen der Triebwerke zu hören, funktionierten diese, trieben die Maschinen an und rasten ihrem Ziel entgegen. Aber ebenso eindeutig fielen die Schlussfolgerungen aus, wenn die Triebwerke schwiegen.

      4

      07:07 Uhr, Wellendingen

      Susanne Faust versuchte den Schock, den der Flugzeugabsturz zurückgelassen hatte, mit Routine zu bekämpfen. Sie war mit Lea ins Haus zurückgekehrt und hatte das Kind an den Tisch gesetzt. Dann räumte sie die Spülmaschine ein und, als sie den Knopf drückte und nichts passierte, wieder aus. Sie öffnete den Wasserhahn, um das Geschirr vom Frühstück von Hand zu spülen aber aus dem Hahn kam nur ein kurzes, heiseres Fauchen, einige Tropfen Wasser, dann nichts mehr. Susanne starrte den Wasserhahn an. Schließlich packte sie Leas Schulbrote ein und machte sich mit ihr, wider besseres Wissen, auf den Weg in die kleine Dorfschule. Sie ahnte, dass der Unterricht heute ausfallen würde, aber sie hatte Eva versprochen, die Kleine zur Schule zu bringen. Die Dorfschule für die erste und zweite Klasse lag im Zentrum des Ortes, unmittelbar neben dem Geburtshaus von Konstantin Fehrenbach, dem großen Sohn Wellendingens, der in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts für ein paar Monate Reichskanzler sein durfte. Oder musste.

      Im Süden, über der kleinen Hochebene, die »Obere Alp« genannt wurde, dort wo das Flugzeug vor wenigen Augenblicken abgestürzt war, mäanderten Rauchschwaden in den Himmel und wer darauf wartete, dass Sirenen in Wellendingen oder dem nahen Bonndorf Rettungsmannschaften zusammenschrien, der wartete vergebens. Es blieb still.

      Frieder Faust war nach dem ersten Schrecken ebenfalls ins Haus zurückgerannt. Er hatte Bubi noch tief schlafend im Bett vorgefunden und ihm die Decke weggerissen.

      Die Probleme zwischen ihnen hatten begonnen, als der Bengel anfing zu pubertieren, und das war ziemlich spät gewesen. Vor sieben Jahren hatte Bubi die ersten Pickel bekommen sowie jeweils ein dunkles Haar an seinem Kinn und am Ansatz seines damals wie heute unbedeutenden »Ladykillers«, wie er ihn nannte. Damals war er bereits fünfzehn gewesen. Ein Alter, in dem andere ihre Pubertät gerade abschüttelten wie die zu eng gewordene Haut der Kindheit und sich mit stolzgeschwellter Brust langen Zöpfen und knospenden Brüsten zuwandten. Aber nicht Bubi.

      »Komm!«, befahl Faust. »Mach, dass du rauskommst!«

      Bubi, aus dessen Bett es streng nach Schlaf und Masturbation roch, rollte sich wie ein Embryo zusammen. »Das Bewerbungsgespräch ist auf nächste Woche verschoben«, knurrte er verschlafen und tastete mit geschlossenen Augen nach seiner Decke.

      »Vergiss das Bewerbungsgespräch. Auf der Oberen Alp ist ein Flugzeug abgestürzt. Irgendwo zwischen Golfplatz und Mauchen, schätze ich.«

      Bubi war plötzlich hellwach. Es war unschwer zu erkennen, wie der schmächtige Körper sich schlagartig straffte, seine verklebten Augen aufleuchteten und es in seinem Kopf unter den strohblonden, kurzen, dünnen Haaren arbeitete.

      »Zieh dich an. Ich warte im Pick-up.«

      »Ich hole noch schnell meine Kamera.«

      »Kamera?« Faust schien seinen Sohn nicht verstanden zu haben.

      »Wir holen noch ein paar Männer und dann schauen wir, ob wir da oben vielleicht noch jemanden retten können. Du wirst deine Kamera nicht brauchen.«

      »Und ob ich die brauche!« Bubi behielt sein verschwitztes T-Shirt an und sprang in seine Jeans. »Die Bilder, die ich mache, maile ich ans Fernsehen und verkaufe sie. Du sagst doch immer, ich soll endlich selbst Geld verdienen.«

      »Beeil dich«, sagte Faust und ging. Bubi stürzte mit der Digitalkamera in der Hand hinterher und gemeinsam fuhren sie vom Hof.

      Der 23. Mai war ein Mittwoch und die meisten Männer hatten schon vor sieben ihre Häuser verlassen und sich auf den Weg zur Arbeit gemacht. Wellendingen selbst bot gerade noch einem Landwirt, einer Familie, die die alte Mühle betrieb, einem kleinen Bauunternehmen und ein paar Handwerkern genug Einkommen, um davon leben zu können. Die anderen waren in Firmen im drei Kilometer entfernten Bonndorf, in Donaueschingen, Waldshut oder der Schweiz untergekommen. Ein Job in der Schweiz hatte den Vorteil, dass die dort gezahlten Gehälter deutlich über dem deutschen Niveau lagen. Auch Frieder Faust arbeitete oft jenseits der Grenze und er prahlte gern damit, dass sein Haus fast abbezahlt sei.

      Frieder und Bubi fuhren von Haus zu Haus. Wer nicht bereits auf der Straße stand und zu der nahen Rauchsäule hinstarrte, kam auf ihr Hupen hin aus dem Haus. Schnell saßen auf der Ladefläche des Pickups neben Bubi, der den Beifahrersitz für den alten Bernhard Hall freimachen musste, Jürgen Mettmüller, Uwe Sigg und Eugen Nussberger und diskutierten über die Katastrophe. Einen Zusammenhang zum Ausfall

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