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alle Einwohner Wellendingens Punkt sechs am Abend hier versammelt, hier auf der kleinen Wiese, zwischen dem einzigen Gasthof des Dorfes und dem Ehrenbach. Nachdem sie ihn verurteilt hatten, wollten sie ihn nun auch hängen sehen. Einige Halbwüchsige standen auf Fahrzeugdächern und warteten auf das, was sie bisher nur aus Filmen kannten. Die Ziegen, denen die Wiese seit Kurzem gehörte, standen in ihrem Verschlag und beäugten das fremde Konstrukt: ein aus alten Balken zusammengezimmerter Galgen, der sich drei Meter hoch über ein mehr als mannshohes Podest erhob.

      Zwei Männer führten den Gefangenen über die Straße. Die Frauen und Männer des Dorfes gaben eine schmale Gasse frei.

      »Ich verfluche dich!« Eine alte Frau drängte nach vorn, versperrte den Männern den Weg und spuckte dem Verurteilten ins Gesicht. Aber der nahm den Speichel, der ihm über die Wange lief und dann vom Kinn auf seine zerfetzten Hosen tropfte, nicht mehr wahr. Es gabm Wichtigeres. Er suchte etwas, was nur er verstehen konnte.

      Sie stießen ihn weiter. Am Fuß der Konstruktion wartete der Pfarrer. Er hielt dem Gefangenen eine in Leder gebundene Bibel entgegen.

      »Bereust du deine Sünden?«

      Der Gefangene sah dem Pfarrer einen Moment ins Gesicht, dann stieß er ihn zur Seite und ihm die Bibel aus der Hand. Er hatte es eilig, so eilig. Er stolperte die schmale Leiter hinauf und an den Rand des Podestes. Ohne Widerstand ließ er sich eine grobe Schlinge um den Hals legen. Die Sonne schien ihm ins Gesicht, ein Hahn krähte. Das Letzte, was er sah, war eine Amsel, die unter lautem Gezeter vom Dach des Gasthauses aufflog.

      Dann stülpte der Henker ihm einen Sack über den Kopf.

      Erstes Buch

      – IST –

      Das Wort »Ist« steht für:

      − die konjugierte Form des Hilfsverbs »sein« in der dritten Person Singular

      − den Ist-Wert im Vergleich zum Sollwert

      − den Ist-Bestand oder das Haben im Vergleich zum Soll (Kaufmännisches Rechnungswesen)

      − den Ist-Zustand als Ausgangspunkt eines Projektes

      (Quelle: Wikipedia)

      1

      22. Mai, 01:53 Uhr, Wellendingen

      Nur in Eva und Hans Segers Küche brannte noch Licht − das einzige in ganz Wellendingen. Der kleine Ort im Südschwarzwald schlief. Dass es die letzte Nacht der alten Zeitrechnung war, wusste keiner.

      Eva Seger saß am Küchentisch, vor sich Brot, Butter, Wurst und Käse. Der riesige Holztisch war das Zentrum des Hauses. Auf der massiven Holzplatte sortierte sich der Tag der kleinen Familie. Hier wurde gegessen und gespielt. Hier erledigte Lea ihre Hausaufgaben, rollte Eva Teig aus, las Hans seine Zeitung. Hier schmiedeten sie Pläne.

      Evas Haar war vom unterbrochenen Schlaf zerzaust und immer wieder schob sie mit dem Handrücken eine ihrer Locken aus dem Gesicht. Am anderen Ende der Küche wetteiferten die Kaffeemaschine und das Nachtprogramm des Radios. Eine abstoßend muntere Moderatorenstimme versuchte Heiterkeit zu verbreiten.

      Die Tür zum Bad war nur angelehnt. Eva hörte den so vertrauten Ablauf: Hans putzte seine Zähne, duschte und rasierte sich. Als er sich zu ihr setzte, roch er nach Rasierwasser.

      Eva sah auf die Uhr; noch fünfzehn Minuten, dann musste er los. Waren fünfzehn Minuten genug für das, was sie ihm endlich sagen musste? Natürlich nicht, dachte sie, legte den Stapel Brote übereinander und zerteilte ihn in der Mitte. Wenn sie jetzt von dem erzählte, was in ihr heranwuchs, konnte sie diesen Morgen vergessen. Ebenso diesen Tag und auch den nächsten und übernächsten. Sie musste bis zu Hans’ Rückkehr aus Schweden warten, dann aber musste es raus.

      Hans Seger, eigentlich Johannes, verbrachte in unregelmäßigen Abständen drei,vier Tage im südschwedischen Malmö. Hans arbeitete für ein Importunternehmen und obwohl er Fisch und alles andere, was aus dem Meer kam, nicht ausstehen konnte – allein der Gedanke an Tintenfischringe verursachte ihm mit der Sicherheit von Ebbe und Flut einen fast unbezwingbaren Brechreiz – hatte er vor zehn Jahren den angebotenen Job angenommen. Abgesehen vom Fischgeruch bei seinen Einkaufstouren war er mit dieser Entscheidung mehr als gut gefahren. Fast zur gleichen Zeit hatte er damals Eva kennengelernt. Und sie hatten sich verliebt, obwohl sie verheiratet war und er selbst die eigene Hochzeit fest geplant hatte.

      Eva legte die Brote in eine Dose. Wie immer schrieb sie einen kleinen Zettel. Wir warten auf dich, schrieb sie. Der Versuchung, Wir drei warten auf dich! zu schreiben und ihn so mit seiner von ihr gefürchteten ersten Reaktion im Flugzeug allein zu lassen, widerstand sie. Das wäre nicht fair, wusste sie. Egal wie oft er nun auch schon gesagt hatte, dass er seine Familie liebe und so, wie sie war, komplett fand, musste sie ihm selbst von ihrer Schwangerschaft erzählen. Vielleicht bei einem kleinen Glas Wein.

      Hans war zufrieden mit seinem Leben und seiner Ehe. Er liebte es in dem Dorf zu leben, in dem er selbst aufgewachsen war. Wellendingen hatte kaum mehr als vierhundert Einwohner – einen Tick zu groß, um sich gegenseitig auf die Nerven zu gehen, aber klein genug, um jeden persönlich zu kennen und über ihn Bescheid zu wissen. Von hier aus war es nur ein Katzensprung in die nahe Schweiz. Die Straße von Bonndorf nach Stühlingen durchzog den Ort, Hügel umschlossen ihn und gaben Schutz vor Stürmen. Felder, Wiesen und dichte Wälder ernährten noch immer ein Gutteil der Menschen. Der Ehrenbach folgte als ungefährliches Rinnsal dem Verlauf der Straße und später einem engen, rasch die vierhundert Meter Höhenunterschied überwindenden Tal nach Südosten der Wutach und später dem Rhein zu.

      Hans leerte seinen Kaffee und ging zu seiner Frau. Sie sah fantastisch aus! Der dünne Bademantel, vor allem aber der eng zusammengezogene Gürtel, zeigte mehr als er verbarg. Er legte seine Hände um Evas Hüften und küsste ihren Nacken. Sie roch nach Schlaf – die Gerüche ihres Tages, gepaart mit einer Prise Schweiß – und fühlte sich warm und weich an. Hans liebte diese Momente zwischen Nacht und Tag, in denen seine Frau so zerbrechlich und schutzbedürftig in seinen Armen lag.

      Sie schmiegte sich an ihn und legte seine Hand auf ihren Unterleib. Natürlich konnte er noch nichts spüren, sie war erst im dritten Monat. Aber es wäre schön, wenn er Bescheid wüsste.

      »Liebst du mich?«, fragte sie und schmiegte sich an ihn. Hans lachte. »Du wirst dich nie ändern, oder? Natürlich liebe ich dich, das weißt du doch.«

      »Ich höre es eben gern«, sagte Eva und spielte die Verlegene.

      »Ich liebe dich. Und du bist die beste Ehefrau und Mutter und die weltbeste Köchin und Liebhaberin. Zufrieden?«

      Eva zögerte und schien, während sie die Dose mit Hans’ Broten verschloss, nachzudenken. »Na ja, zufrieden ist was anderes, aber es wird bis übermorgen reichen. Und wenn nicht, ruf ich dich einfach an.«

      Sie küssten sich.

      »Jetzt muss ich aber.« Nur widerwillig gab Eva ihn frei.

      »Hast du deine Krawatte?«

      »In meiner Tasche.«

      »Deinen Ausweis?«

      »Jawoll!«

      »Geldbeutel?«

      »Ja.«

      »Mich lieb?«

      »Hab ich.«

      Konnte man nach zehn Jahren noch solche Sehnsucht nach einander haben? Eva sah Hans zu, wie er in seine Schuhe schlüpfte und sein Sakko nahm. Er fehlte ihr jetzt schon.

      »Hier, dein Flugticket.« Sie lehnte im Türrahmen und hielt ihm das Ticket hin.

      Sie war etwas über einssiebzig und hatte schulterlange, braune Locken. Wäre ihre markante Nase, die etwas Indianisches versprach und sie immer weniger störte, nicht einen Tick zu groß gewesen, hätte man sie durchaus als ganz hübsch bezeichnen können; vielleicht ein Gesicht, das zu sehen man sich freut,

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