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       6.

      Die Bürgerversammlung fand am frühen Nachmittag im Saal der Kaufmannschaft von Havanna statt. Überwiegend mit Kaleschen, teilweise aber auch zu Fuß, eilten die Männer aus allen Teilen der Stadt herbei. Patrouillen, die rings um das große Gebäude aufgezogen waren, erweckten wenigstens das Gefühl der Sicherheit. Indes konnte man davon ausgehen, daß die Gefahr von Übergriffen zumindest bei Tageslicht gering war.

      Arne von Manteuffel zählte zu jenen Bürgern, die dem Versammlungsort zu Fuß entgegenstrebten. Und er war der einzige, der keine sichtliche Eile an den Tag legte. Unter seinem Umhang trug er eine doppelläufige Pistole und einen Cutlass. Wer immer ihn aus dem Hinterhalt ansprang, würde sich die Zähne ausbeißen.

      Aber nichts geschah. Es zeigte sich immer wieder, daß die Galgenstricke zu feige waren, bei Tag offene Angriffe zu unternehmen. Die Bezeichnung lichtscheu traf für diese Leute im wahrsten Sinne des Wortes zu.

      Arne erinnerte sich an jene Nacht, von der er mittlerweile wußte, daß es die Nacht des Überfalls auf das Arsenal gewesen war. Der arme Kerl, den sie da in Reichweite seiner Faktorei umgebracht hatten, war einer von der Arsenalwache gewesen.

      Nur in der Masse waren sie stark, diese Entfesselten von der Schattenseite des Lebens. Das zeigten sie immer wieder, wenn sie Wehrlose oder fast Wehrlose ausraubten und töteten.

      Der holzgetäfelte Saal war schon nahezu vollständig besetzt. Trotz der frühen Tageszeit hatten Diener die Kerzen der Leuchter angezündet. Der Himmel über Havanna war noch immer wolkenverhangen. Das schwache Tageslicht, das durch die Fenster hereindrang, reichte den Schreibern nicht aus, um ihre Protokolle aufzusetzen. Und sollten Dokumente gelesen oder unterzeichnet werden müssen, so brauchten die Señores ebenfalls Licht, um den Federkiel führen zu können.

      Arne von Manteuffel fand Platz in einer der mittleren Reihen. Kurz nachdem er sich gesetzt hatte, wurde bereits vorn, am Tisch der Versammlungsleitung, eine Glocke geschwungen. Das Gemurmel ließ nach und verebbte kurz darauf ganz. Ein stattlicher Mann mit sorgfältig gepflegtem Vollbart erhob sich.

      „Señores“, sagte er mit dunkler, volltönender Stimme, „man hat mich gebeten, die Versammlungsführung vorerst zu übernehmen, bis wir jemanden für dieses Amt gewählt haben. Für die, die mich nicht kennen: Mein Name ist Felipe Herrera; ich bin Inhaber des Handelshauses Herrera y Castillo an der Calle de Mora. Grund für die Einberufung der Bürgerschaft ist die akute Notlage, in der wir uns befinden. Einziger Diskussionspunkt: sinnvolle Abwehrmaßnahmen. Ich bitte um Wortmeldungen.“

      Sofort begann das Gemurmel. In der dritten oder vierten Reihe sprang jemand auf.

      „Erst muß der Versammlungsleiter gewählt werden!“ rief er. „Hier muß alles seine Richtigkeit haben, sonst sind unsere Beschlüsse unwirksam!“

      Einige Männer lachten.

      „Was nutzt dir ein wirksamer Beschluß“, rief ein anderer, „wenn dich der Pöbel genauso wirksam ins Jenseits befördert?“

      Erneutes Gelächter. Felipe Herrera schwang die Glocke, und es wurde allmählich wieder ruhig.

      „Señores, ich bitte um Ihre Zustimmung, daß wir uns möglichst kurz fassen. Vor Einbruch der Dunkelheit sollten wir unsere Entscheidung in die Tat umgesetzt haben. Um das Verfahren abzukürzen, erklärte ich mich daher bereit, die Versammlungsführung weiter zu übernehmen, wenn niemand dagegen ist. Wir würden uns einen Wahlgang ersparen.“

      Minutenlanges Gemurmel folgte. Dann erhob sich ein älterer Mann in der vordersten Reihe und wandte sich zu den anderen um.

      „Bei allem Verständnis für Eile, Señores, muß ich doch sagen, daß wir uns an die Gepflogenheiten halten sollten. Ich meine, daß wir in der Person von Señor Don Alfonso Cortés y Menacha den geeigneten Versammlungsleiter hätten. Nichts gegen Señor Herrera, aber …“ Die weiteren Worte des grauhaarigen Mannes gingen im erneuten Stimmengewirr unter.

      Arne von Manteuffel mußte sich zusammennehmen, um sich nicht an den Kopf zu fassen. Da fingen diese Leute allen Ernstes an, über Kompetenzfragen zu diskutieren! Natürlich, wie konnte sich auch ein einfacher Handelsmann namens Herrera erdreisten, eine Versammlung leiten zu wollen! Ein solches Amt gebührte einem Mann von Stand – wem denn sonst! Cortés y Menacha war Magistratsbeamter, und er war adlig. Das allein zählte.

      Die nächste halbe Stunde verbrachten sie mit Für und Wider, bis sie allen Ernstes den adligen Beamten aus dem Magistrat zum Versammlungsleiter wählten. Bevor er abtrat, erlaubte sich Felipe Herrera den eindringlichen Hinweis, daß es darum gehe, geeignete Maßnahmen gegen den Pöbel zu ergreifen. Nur erbarmungslose Härte helfe im Kampf gegen das mordende und plündernde Gesindel.

      Es gab keine Reaktion. Statt dessen klatschten die ehrenwerten Señores Beifall, als Cortés y Menacha den Platz Herreras eingenommen hatte. Der Magistratsbeamte war ein behäbiger, zum Fettansatz neigender Mensch. Sein erster Vorschlag lautete, aus den Reihen der Versammlungsteilnehmer ein zwanzigköpfiges Gremium zu wählen, das zugleich autorisiert werden solle, im Namen aller die erforderlichen Entscheidungen zu treffen.

      Nur vereinzelt wurden Stimmen des Unmuts laut.

      „Und dann wählt ihr noch zehn Protokollführer, nicht wahr?“

      „Faßt am besten auch einen Beschluß, welche Weinsorte ihr zum Treffen eurer Entscheidung trinken wollt!“

      „Wenn ihr noch lange debattiert, habt ihr bald überhaupt keine Entscheidung mehr nötig!“

      „Sehr richtig! Dann zünden sie euch heute abend den Saal unter dem Hintern an!“

      Das beifällige Gelächter, das jedoch gleich wieder versiegte, stammte nur von jenen vereinzelten Stimmen – unter ihnen auch Felipe Herrera. Arne hielt diesen Mann für fähig, die Versammlung zielstrebig zu einem Entschluß zu führen.

      Daraus wurde nun jedoch nichts mehr. Unter Leitung des hohen Beamten beschloß die große Mehrheit der Versammlungsteilnehmer tatsächlich, das zwanzigköpfige Entscheidungsgremium zu wählen.

      Eine langwierige Prozedur mit Stimmzetteln und Stimmzählern wurde vorbereitet. Über die Frage, ob alle vorgeschlagenen Namen auf einen Zettel oder jeder Name auf einen eigenen Zettel geschrieben werden solle, entspann sich eine längere Diskussion.

      Es war dieser Zeitpunkt, zu dem Arne von Manteuffel und einige andere sich entschlossen, die Zusammenkunft zu verlassen. Auch Felipe Herrera hielt nichts mehr in den Reihen der Bürgerschaft. Die Hoffnung, daß sich die Bürger tatkräftig zusammentun würden, um ihren Besitz zu verteidigen und den marodierenden Banden die Stirn zu bieten, hatte sich zerschlagen. Arne von Manteuffel und Felipe Herrera gehörten zu den wenigen Entschlossenen, die ihre Häuser besetzt hielten und verbissenen Widerstand leisten würden.

      Diese Versammlung im Haus der Kaufmannschaft war ein Armutszeugnis für die Bürger dieser Stadt. Und es war zugleich das Eingeständnis, daß man nicht in der Lage war, der Umstände Herr zu werden.

      Erst zweieinhalb Stunden nach Versammlungsbeginn, so sickerte durch, hatte man es geschafft, das Zwanziger-Gremium zu bilden. Weitere zwei Stunden lang ging es innerhalb des Gremiums um die Frage, ob man eine Bürgerwehr bilden solle. Dies scheiterte dann an der Erkenntnis, daß man nicht über genügend Waffen und vor allem nicht über Munitionsvorräte verfügte.

      Es war bereits sieben Uhr abends, als sich das Gremium zu der denkwürdigen Entscheidung aufraffte, die gesamte Bürgerschaft mit Frauen, Kindern und alten Leuten in die Residenz zu evakuieren. Der Gouverneurspalast hatte eine wehrhafte Mauerumfassung und ließ sich besser verteidigen als ein Bürgerhaus.

      Die Evakuierung vollzog sich mit viel Händeringen und Gejammer der Señoras, die am liebsten bergeweise Koffer mit Schmuck und Kleidern mitgeschleppt hätten. Arne von Manteuffel unternahm um diese Zeit noch einen Rundgang durch die Straßen. Er konnte sich lebhaft vorstellen, wie die Schnapphähne angesichts dieser Szenen bereits händereibend in ihren finsteren Winkeln lauerten.

      Die Bürger mußten sich indessen mächtig sputen, wenn sie bis Einbruch

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