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als die Schwestern um ihn herumstanden und ihm von meinem Ausflug in die Kirche, in der meine Mutter zum Reinigen angestellt war, und von meinem Ausspruch erzählten, – daß ich auf seinen Knien saß und die rote Nelke hinter seinem Ohr hervorholte und sie hinter mein eigenes steckte. Er aber ließ mich reiten, „nach Sachsen, wo die schönen Mädchen auf Bäumen wachsen,“ und sagte wohlgefällig: „Ja, ja, du kriegst sie, Herzkäfer, gescheiter,“ und lachte in seinen Stoppelbart hinein.

      Wenn es nicht an diesem Abend war, so war es sicher an vielen andern so.

      Denn alles, was schön, erfreulich und begehrenswert war in dem kleinen Bereich, in dem ich lebte, das war mein. Ich streckte die Hand darnach aus und es neigte sich zu mir. Das war eine lange Zeit hindurch so.

      Die graue Katze gehörte mir, und die Mutter und die Schwestern und der alte Heinrich Kilian samt allem, was er in seiner Kammer hatte, und Häuslein und Garten und darüber hinaus. Das war die Zeit, da ich im Paradiese lebte, und aß von allen Bäumen im Garten und wußte noch nichts vom verbotenen Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen. Es war nichts verboten, und so konnte ich nicht sündigen.

      Mein Vater starb, als ich noch kein Jahr alt war. Er hatte mich in seiner Krankheit bei sich im Bett, wenn er genug Atem hatte, um mich auf seiner Decke sitzen zu lassen, und ich zupfte mit meinen kleinen Händen an seinem dichten Bart herum. Damals soll ich, geht die Sage, ein sehr schönes Kind gewesen sein mit einem braunen Lockenbusch und dunkelblauen Augen, und er, der sich immer einen Sohn gewünscht hatte und ihn nun, da er in so erwünschter Weise vorhanden war, verlassen mußte, sagte mit seinem letzten Atemzug: „Lasset mir meinem Büble nichts geschehen.“

      Das war nun ein heiliges Vermächtnis für die Mutter und die beiden Schwestern, die vier und sechs Jahre älter waren als ich, und denen die Lust an einem hübschen, lebendigen Spielzeug noch ein stärkerer Antrieb war, mich zu verwöhnen und zu hätscheln, als das letzte Wort des verstorbenen Mannes, der an ihnen nie die große Besitzerfreude gehabt hatte, wie an mir.

      Wir wohnten damals in einem der kleinen Häuslein „am Graben“, die der Stadt gehörten und von dieser samt den winzigen Vorgärtchen um ein Billiges an Taglöhner, Waschfrauen, Flickschuster, Näherinnen und dergleichen kleine Leute vermietet wurden.

      Es ist mir, als habe dort immer die Sonne geschienen, und tatsächlich blinkten auch die nach Südosten gelegenen kleinen Fenster der einstöckigen Häuslein, die kein Gegenüber hatten, in jedem Morgenstrahl, der vom Himmel kam; und in den schmalen Rabatten der Gärtchen hoben, vom ersten Schneeglöckchen bis zur letzten Aster des Herbstes, den ganzen Sommer die Blumen der armen Leute ihre Gesichter dem freundlichen Licht entgegen.

      Salat und Suppenkräuter baute meine Mutter in ihrem Gärtchen; sie hatte keine Zeit und auch nicht so recht die Gemütsart, die man braucht, um Blumen zu ziehen; die Blumen pflegte dafür Heinrich Kilian; der hatte ein Stücklein des Gartens in Pacht, nicht viel größer, als meines Vaters schmales Bett auf dem Kirchhof drüben, und doch groß genug für eine Fülle der rötesten Nelken. Rote Nelken, das waren seine Lieblingsblumen, von denen hatte er immer, so lang sie blühten, eine zwischen den Zähnen oder hinter dem Ohr, mit ihnen trieb er einen Luxus und eine Verschwendung, wie sonst mit gar nichts.

      „Kilian,“ sagte meine Mutter manchmal, wenn sie ihm seine gewaschene und geflickte Wäsche zurückgab, „Kilian, die Hemden halten nimmer. Ich setze einen Fleck an den andern, aber was genug ist, ist genug.“

      „Ja, ja,“ sagte der Kilian, „sie tun's schon noch. Gut geflickt gibt auch warm. Ich kauf' dann schon einmal neue, jetzt grad langt das Geld nicht dazu.“

      „Aber zu den teuren Nelkenstöcken, da langt's,“ eiferte die praktische Frau. Denn er hatte sich wieder einmal etwas ganz Wunderbares kommen lassen, etwas ganz Märchenhaftes, nie Dagewesenes von roten Nelken, das in der Zeitung ausgeschrieben gewesen war. Er fiel immer damit herein, es war nie so etwas ganz Besonderes, es wurden eben immer gewöhnliche rote Nelken, wie von jeher. Aber er hatte seine große Vorfreude daran, wenn sie Knospen trieben und die Knospen sich rundeten. „Diesmal gibt's ganz dicke, ganz große,“ sagte er dann geheimnisvoll.

      Das sagte er auch jetzt, als ihn die Mutter wegen der Hemden plagte.

      „Ja, ja, und dann sind's wieder dünne, und das Geld ist draußen, und der Winter kommt, und kein gutes Hemd ist im Kasten, und das Alter kommt auch.“

      Aber er lächelte bloß und ließ mich auf den Knien reiten. Und ich schlug mich auf seine Seite und sagte: „Jawohl gibt es dicke, gelt, Heinrich, es ist in der Zeitung gestanden?“

      Da seufzte die Mutter nur noch ein wenig und brummte: „Vier Kinder hab' ich, nicht bloß drei.“ Aber es hätte ihr eins gefehlt, wenn sie den Heinrich Kilian nicht mehr zu bemuttern gehabt hätte. Sie war eine gute, gute Frau. Sie gab alle ihre Kraft her für die, die sie liebte, sie wollte nichts für sich. Sie schaffte im Taglohn in guten Bürgerhäusern, sie wusch und putzte, sie hatte das Kirchenreinigen und das Schulhausfegen. Sie gehörte einem Heer von Frauen an, die da mit Kübeln und Besen hantierten. Sie brachte verschrumpelte Hände mit heim und in der Tasche das Geld, das unser tägliches Brot kostete. Und sie saß bis in den späten Abend hinein bei der Lampe, die einen grünen Blechschild hatte, und flickte alles, was wir den Tag über zerrissen, und einmal brachte sie einen Samtrest mit heim, der aus fünf bis sechs Stücken bestand, und machte mir ein Anzüglein daraus. Das alles tat sie mit wenig Worten und mit einem ruhigen, ebenen Gesicht. Ich glaube, wer nach ihren Augen gesehen hätte, der hätte viel gefunden. Aber ich weiß jetzt nur noch von einem einzigenmal, daß ich ganz weit hinein gesehen habe in diese Augen. Das war spät, das kommt jetzt noch nicht.

      Als sie das Samtanzüglein genäht hatte, nahm sie mich den Sonntag drauf an der Hand und ging mit mir in ein schönes, vornehmes Haus, das war mitten drin in der Altstadt. Es hatte eine breite, schwere Tür, daran war ein großer eiserner Kopf von irgend einem Ungetüm, der hatte einen dicken Ring im Maul.

      Daneben hing ein Glockenzug, der hatte einen Griff von einer Schlange, die eine lange Zunge herausstreckte. Und die Mutter hob mich auf und ließ mich daran ziehen. Da ging die Tür von innen auf und wir traten in eine Halle, darin war ein grünes Licht, das kam vom Garten herein, zu dem hin eine Pforte offen stand, und wir stiegen eine breite, dunkle Treppe hinauf, die ein geschnitztes Geländer hatte, und kamen in einen weiten Raum, an dem viele Türen lagen, und von dessen Wänden gemalte Männer und Frauen auf uns niedersahen. Ich hielt mich fest an der Hand der Mutter, denn unsere Schritte hallten in dem hohen Raum, der mit einem buntfarbigen Steinmuster gepflastert war, und es war kühl und groß und dämmerig da. Da ging eine Tür auf, es fiel helles Sonnenlicht auf die Steine des Pflasters, und in dem Sonnenlicht stand ein schöner alter Herr. Er hatte einen Sammetkittel an, darauf fiel ein langer, silberiger Bart hinunter, und seine vollen Locken schimmerten auch silberig, und er rief: „Aha, da haben wir ja das Zaunköniglein! Grüß Sie Gott, Frau Fugeler. So, so, das ist recht, wollen Sie nur gefälligst hereinspazieren!“ Er hatte ein so lachendes, helles, heiteres Gesicht, daß ich ihn immer ansehen mußte, auch als wir in dem Saal waren, in den er uns führte, er war das Hellste von allem. Zwar die Sonne fiel durch hohe Fenster herein, und auf dem Boden lag ein Teppich voll glühender Blumen, und an den Wänden hingen Bilder: Äpfel und Birnen und Trauben, die aussahen, als ob sie zum Essen wären, eine Wiese mit lauter durchsonnten, roten und blauen Blumen, ein Blütenbaum mit weißschimmernden Ästen. Aber der alte Herr war doch noch heller als das alles.

      Ich starrte ihn unverwandt an. Da sagte er lachend: „Was ist, kleiner Zaunkönig, was guckst du so?“ Und ich wurde dunkelrot und sagte aus der Mutter Schürze heraus, in die ich meinen Kopf gesteckt hatte, vor plötzlicher Verlegenheit: „Das da ist so glänzig.“ Ich deutete auf seinen Kopf. Da brach er in ein helles Lachen aus und ließ mich kleinen Buben in seinen Armen durch die Luft fliegen, ganz hoch hinauf gegen die Decke hin, auf der in hoher Arbeit ein Walfisch war, der den Propheten Jonas ans Land warf.

      Und meine Mutter saß da und hatte noch nichts gesagt.

      „Ja also, Frau Fugeler,“ sagte der alte Herr, „ich brauche so ein paar kleine Buben für mein großes Altarbild. Der da gibt schon so einen Engelsbuben mit seinen Locken und seinem Gesichtlein. Ziehen Sie ihn nur einmal aus, ich möchte ihn

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