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denn dann?«

      Ich war nicht die Einzige, die sich über diese Frage den Kopf zerbrach. Seit der Veröffentlichung des Textes im Jahr 1984 wollten viele Menschen wissen, welches Handwerkszeug Lorde genau meinte. In Kommentaren, Essays, Workshops, Dissertationen, Protestslogans, Panels, und so weiter stellten alle dieselbe Frage: welches Handwerkszeug? Alle Menschen mit einem starken Interesse an der Befreiung von Frauen, Nichtweißen, Armen, indigenen Menschen und der Umwelt, alle, die sich an gegenkulturellem Denken beteiligen, sehnen sich danach, das Handwerkszeug des Herren zu identifizieren.

      Die meisten Analysen kommen zu dem Schluss, das Handwerkszeug des Herren seien Systeme wie der Kapitalismus, der Kolonialismus oder das Denken der Aufklärung. Eine Studie, auf die ich gestoßen bin, argumentierte überzeugend, Gesetze, die das Saatgut regulieren, seien ein Handwerkszeug des Herren. Andere vertreten (etwas konservativer) die Ansicht, das Handwerkszeug des Herren seien Hilfsmittel wie Gerissenheit, Taktik und Hinterhältigkeit. Für solche Gesprächspartner:innen ist »ein Werkzeug ein Werkzeug«, und gäbe es denn einen besseren Weg, das Haus des Herren zu zerstören, als mit dessen eigenen Mitteln?

      Die Diskussionen sind endlos, übersehen aber ein wesentliches Element: Um zu entscheiden, welche Werkzeuge wir verwerfen sollten, müssen wir uns auf das Objekt konzentrieren, das diese erbaut haben – das Haus des Herren. So viel Betonung liegt auf dem Wort Handwerkszeug, dass wir die Bedeutung des Wortes Haus übersehen haben.

      Wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf das metaphorische Haus des Herren verlagern, werden wir sehen, dass es eine Täuschung ist. Es ist ein Gefängnis, das aussehen soll wie ein Zuhause, ein Kerker, der sich als Palast tarnt, ein trauriger Ort, der vorgibt, ein glücklicher zu sein. Sogar das Wort Haus, wie wir es heute verstehen, bezeichnet nicht länger einen Ort der Geborgenheit und Wärme, sondern einen des Marktwerts, der Privatisierung und der Erweiterung des Egos.

      Du kannst im Haus des Herren Bilder aufhängen. Du kannst seine Mauern mit Slogans über Freiheit besprühen. Du kannst in seinem Garten Altäre für die Gleichberechtigung aufstellen. Dennoch wird das Haus des Herren weiterhin ein Gefängnis für alle sein, mit Ausnahme des Herren selbst. Welchen Preis müssen wir dafür zahlen, im metaphorischen Haus des Herren zu bleiben? Warum sollten wir für einen Platz an seinem Tisch kämpfen? Weshalb feiern wir unkritisch Blackface-Positionen in imperialistischen Strukturen oder »Woman-face«-Patriarchen? Wir können nur frei sein, wenn wir das Haus des Herren verlassen.

      Ich will damit nicht sagen, dass wir bei den Feen im Wald leben sollen, sondern dass wir die Wände des Hauses abreißen müssen, um hineinblicken zu können. Die Illusion des Hauses des Herren zu durchschauen bedeutet zugleich, es abzureißen, denn nur, wenn wir die Realität klar erkennen, können wir sie verändern. Sinnliches Wissen hilft uns, die Wirklichkeit deutlich, vollkommen und mit all unseren Fähigkeiten zu sehen.

      Was das Handwerkszeug des Herren angeht, all dies hier gehört nicht dazu: Die Werkzeuge des Herren sind nicht Poesie, Verspieltheit, Eros, Grenzenlosigkeit, Gewissenhaftigkeit, Dialog, Intuition, Lebensfreude, Stille, Wärme, Leidenschaft, Schönheit, Mitgefühl, Geheimnis, Weisheit, Ehrlichkeit, Weiblichkeit, Innerlichkeit, Sinnlichkeit, ogbon-inu.

      Afrikanische Wissenssysteme sind schon seit Langem eine Fundgrube für Narrative, die feministische Vorstellungen von Wissen prägen. Mit den ältesten Zivilisationen der Welt verfügt Afrika auch über einige der ältesten Patriarchate, weshalb wir auf dem afrikanischen Kontinent ebenfalls einige der ältesten protofeministischen Narrative finden.

      In der traditionellen afrikanischen Gesellschaft waren Frauen keine ans Haus gebundenen Ehefrauen. Sie waren Händlerinnen, Politikerinnen, Bäuerinnen, Künstlerinnen und Schamaninnen. Sie waren Göttinnen, Hexen, Prophetinnen, Königinnenmütter, Regenköniginnen, Pharaoninnen und Geistermedien.

      In den afrikanischen Schöpfungsmythen gibt es keinen übergeordneten höchsten männlichen Gott. Wenn überhaupt, weisen historische Spuren darauf hin, dass einst alle Afrikaner:innen eine Muttergöttin verehrten. Das soll nicht heißen, dass im Pantheon der Göttinnen und Götter stets Harmonie zwischen den Geschlechtern herrschte. Wohl kaum! Unter den Gött:innen sorgen die Geschlechter genau wie bei den Menschen für einigen Wirbel, und zwar gerade, um uns vorzuführen, was passieren kann, wenn wir Harmonie nicht zumindest anstreben.

      Überdies sind die zugrundeliegenden Mythen egalitär in Bezug auf die Natur und andere Spezies. Wie viele ihrer Pendants in anderen afrikanischen religiösen Systemen (die Erdgöttin Asase Yaa in Ghana, Dzivaguru in Simbabwe, Mamlambo in Südafrika) sind die Yoruba-Gött:innen anthropomorphe Naturgewalten. Daher behandelt ein Mensch, der sich mit afrikanischer Spiritualität beschäftigt, die Natur mitfühlend. Ähnlich werden auch Tiere nicht als den Menschen unterlegen angesehen, da wir alle auf gleiche Weise vom Leben abhängen. In den afrikanischen Mythen sind Tiere Gefährt:innen, die sogar gelegentlich Menschen heiraten und mit ihnen Kinder zeugen können, die Mensch und Tier zugleich sind. Tiere sind auch Lehrer:innen, jedes mit einer besonderen Lektion, die es uns beibringen kann. Die Schildkröte etwa führt vor, wie man sich vor unehrlichem und boshaftem Verhalten in Acht nimmt, da sie dieses selbst an den Tag legt. Anansi, die Spinne aus der gleichnamigen ghanaischen Geschichte, lehrt auf ähnliche Weise etwas über Dummheit, indem sie selbst Dummheiten macht. Doch nicht nur in Mythen teilen sich Afrikaner:innen ihren Lebensraum mit den Tieren. Die Massai, die nur sehr selten Fleisch essen, leben seit Jahrhunderten mit wilden Tieren zusammen – Giraffen, Zebras, Löwen, Leoparden und Hyänen –, ohne sich vor ihnen zu fürchten. Im Gegensatz zum europatriarchalischen Wissen betonen historische afrikanische – wie auch andere indigene – Wissenssysteme den Wert von Harmonie nicht nur mit anderen Menschen, sondern auch mit der Natur und anderen fühlenden Wesen. Afrikanische Philosophie ist eine Philosophie des »Interseins«.

      Anders als manche organisierten Religionen kennen afrikanische spirituelle Philosophien weder Himmel noch Hölle, da sie im Allgemeinen nicht daran glauben, dass etwas wie der Tod existiert. Die Seelen der Verstorbenen werden nicht von einem manichäischen Teufel in der Hölle für ihre Sünden bestraft. Afrikanischer Spiritualität zufolge »leben« die Toten in wiedergeborener Form oder auf nicht-physikalischen Ebenen des Kosmos. Laut der Yoruba-Kultur hat die menschliche Seele drei Ebenen: Kraft oder Atem, Schatten und Geist (emi, ojiji und ori). Die Zulu haben eine ähnliche Triade: idlozi (Schutzgeist), umoya (Atem) und isithunzi (Schatten), und für die Igbo besteht die menschliche Seele aus uwa (sichtbare Welt) und ani mmo (geistige Welt). Für die alten Ägypter:innen waren es ba, ka und akh, Komponenten der Seele, die jeweils die Lebenskraft, die Geisteskraft sowie die Einheit der beiden repräsentieren, die über diese Welt hinausgeht und bis in die nächste reicht. Daraus folgend ist Wissen nicht etwas, das man während des Lebens erwerben und horten muss, da Weisheit und Existenz endlos und unsterblich sind.

      Bezeichnenderweise unterstützen afrikanische Philosophien kreativen Ausdruck (Kunst, Tanz, Rituale, Bildhauerei, und so fort) als höchste Form des Wissens. Rituale spiegeln nicht nur Spiritualität wider, sondern auch das Teilen von Wissen. Gottheiten sind nicht einfach göttliche Energien, sondern repräsentieren auch die Philosophie. Jede Göttin und jeder Gott ist die Ausformulierung eines Konzepts. So ist etwa Shango, die spirituelle Verkörperung des Donners, auch eine historische Lesart einer afrikanischen Philosophie der sozialen Gerechtigkeit. Oya, Göttin der Tornados und Beschützerin der Frauen, bietet eine Interpretation des Feminismus im antiken Afrika.

      In ihrem letzten Buch Socrates and Òrúnmìlà: The Two Patrons of Classical Philosophy aus dem Jahr 2014 zog die verstorbene nigerianische feministische Philosophin Professor Sophie Bosede Oluwole einen bahnbrechenden Vergleich zwischen Sokrates, dem Begründer der westlichen Philosophie, und Orunmila, dem Verfasser der Wissenssammlung der Yoruba, die bekannt ist als Ifa. Der Ifa-Textkorpus, der mittlerweile größtenteils auch in schriftlicher Form existiert, ist ein geomantisches System aus 256 Zeichen, zu denen Tausende Verse gehören. Er wurde über Jahrtausende im Gedächtnis der traditionellen Yoruba-Philosoph:innen namens Mamalawos und Babalawos (Mütter beziehungsweise Väter des esoterischen Wissens) aufbewahrt, die das Ifa vierzehn Jahre lang studieren mussten, ehe sie seine Weisheit weitergeben durften.

      Oluwole fragte sich, weshalb Sokrates, der keine schriftlichen Werke

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