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ohne sie niederzuschreiben. Wo Sokrates den berühmten Satz sagte: »Ein unerforschtes Leben ist nicht lebenswert«, erklärte Orunmila: »Ein Sprichwort ist ein konzeptuelles Analysewerkzeug.« Wo Sokrates sagte: »Die höchste Wahrheit ist die ewige und unveränderliche«, bemerkte Orunmila: »Wahrheit ist das Wort, das niemals korrumpiert werden kann.« Wo Sokrates sagte: »Gott allein ist weise«, sprach auch Orunmila in folgender Aussage die Grenzen des menschlichen Wissens an: »Kein kluger Mensch kennt die Anzahl der Sandkörner.« Oluwole drängte die Afrikaner:innen dazu, sich ihr philosophisches Erbe zurückzuholen, und argumentierte, der Wissensfundus, den sie in der Yoruba-Tradition entdeckt habe, sei so reich und komplex wie jeder, der sich im Westen finden lässt.

      Ich stehe einigen Elementen des afrikanischen spirituellen Lebens ebenso kritisch gegenüber wie allen anderen Formen von Religion. Besonders kritisch bin ich gegenüber der patriarchalischen, autoritären und gerontokratischen (Herrschaft der Ältesten) Denkweise in vielen afrikanischen Philosophietraditionen. Selbst wenn Frauen im antiken Afrika spirituelle Macht besaßen, wurde die Misogynie nicht von den Europäern importiert. Aus Europa kam vielleicht die Misogynie, wie wir sie kennen – die sexuelle Objektifizierung von Frauen, und so weiter. Aber es gibt zu viele historische Belege für Misogynie als Modus Operandi im präkolonialen Afrika, um sie allein mit der Kolonisation in Verbindung zu bringen. Tatsächlich war die spirituelle Macht, über die Frauen im präkolonialen Afrika verfügten, oftmals eine Gegenreaktion auf die patriarchalische Unterdrückung. Auch wenn einige Frauen Zugang zu Macht hatten, war das »Subjekt« in der afrikanischen Gesellschaft ebenfalls männlich.

      Außerdem bin ich gegen alle Formen des abergläubischen Denkens als Wissensmethode, da diese sich auf Angst gründen. Die fatalistische Vorstellung, Zeichen und Symbole könnten den Ausgang des eigenen Lebens bestimmen, lenkt davon ab, die Verantwortung zu übernehmen für das eigene Wissen und die eigene Fähigkeit, Lebenserfahrungen zu gestalten.

      Europatriarchalisches Wissen mag das größte Hindernis für das Wohlergehen des Planeten und seiner Bewohner:innen darstellen, aber es ist nicht das einzige. Ebenso wenig ist europatriarchalisches Wissen gleichbedeutend mit weißen Männern. Man könnte sagen, romantische Philosophen, Dichter und Künstler wie Ralph Waldo Emerson, D. H. Lawrence und Caspar David Friedrich beförderten etwas ähnliches zu dem, was ich als sinnliches Wissen bezeichne, zumindest was den poetischen und den emotionalen Blickwinkel angeht (sicherlich nicht den afrozentrischen schwarzen feministischen). Nehmen wir als Beispiel Kreidefelsen auf Rügen, von Friedrich gemalt als eine emotionale Reaktion auf die natürliche Welt. Auf dem Gemälde sehen wir Friedrich und seine frischgebackene Ehefrau eine wundervolle Aussicht auf die Kreidefelsen genießen, die heute im deutschen Nationalpark Jasmund liegen. Das Werk evoziert in seinen Betrachter:innen eine beseligende Würdigung der Schönheit der Natur.

      In den 1920er-Jahren waren die Felsen durch Erosion bedroht, aber die Proteste für ihre Bewahrung waren erfolgreich, und die Aussicht ist heute noch so magisch wie damals. Man stelle sich eine Welt vor, in der die Kreidefelsen nicht mehr existieren. Nicht nur hätten wir die Möglichkeit verloren, eine kunstvolle Aussicht zu betrachten, uns wäre auch eine Gelegenheit genommen worden, die Kunst in uns selbst zu sehen, da wir selbst ein Teil der Natur sind. Darauf spielte auch Friedrich an, als er sagte: »Der Maler soll nicht bloß malen, was er vor sich sieht, sondern auch, was er in sich sieht. Sieht er aber nichts in sich, so unterlasse er auch zu malen, was er vor sich sieht.«

      Der Punkt ist: Genauso wie die griechische Mythologie und Philosophie über Jahrhunderte genutzt wurden, um ihre Einsichten auf das gegenwärtige europäische Leben anzuwenden – sei es in der Kunst, der Politik, der Literatur, der Philosophie oder den Geschlechterbeziehungen –, ist auch die Tiefe, die sich aus afrikanischen Mythen und afrikanischer Philosophie ziehen lässt, relevant für das gesamte Weltwissen.

      Wir vergessen nur selten Ideen, die unsere Sinne anregen – historische Ereignisse wie Martin Luther Kings »Ich habe einen Traum«-Rede oder Nelson Mandelas erhobene Faust beim Verlassen von Robben Island oder die Anerkennung der Rechte der Natur in der ecuadorianischen Verfassung oder wie der Komponist Ludovico Einaudi sein eindringlich berührendes Musikstück »Elegy for the Arctic« auf einem schmelzenden Gletscher in Norwegen spielte. Diese Augenblicke sind exemplarisch, da sie sich auf uns als Ganzes auswirken – intellektuell, emotional, körperlich und geistig.

      Dasselbe gilt für alle guten Ideen. Wie eine Idee uns empfinden lässt, ist ebenso wichtig wie das Wissen, das sie uns vermittelt. Man könnte sagen, gute Ideen sind wie gute Songs. Mit den richtigen Elementen – wenn die Worte eine Melodie haben, wenn die Stimme Schönheit und Leidenschaft besitzt, wenn der »Rhythmus« der Idee im Einklang ist mit dem Zeitgeist – zünden sie und wirken bis in die Mainstream-Kultur. Wie der Autor und Fotograf Teju Cole in einem Interview mit dem Journalisten Ryan Kohls auf dessen renommierter Website What I Wanna Know sagt: »Tief in uns ist etwas, das auf eine sorgfältig gepflegte Sprache reagiert, ob es sich nun um Literatur, Gedichte oder wirklich gute Songtexte handelt.«

      Gleichwohl beende ich dieses Kapitel mit der Betonung, dass sinnliches Wissen keine quasimystische Sechster-Sinn-Methode des Wissens ist. Es hat nichts damit zu tun, dass jemand in dem Augenblick anruft, in dem man an diese Person denkt. Es geht nicht darum, durch Magie und Mystizismus dem Selbst zu entfliehen oder es zu überhöhen. Die Theorie, die ich vorstelle, mag poetisch klingen, sie wird jedoch geprägt durch eine dringende politische Sorge. Gerade weil wir Grund haben, für so viele Einsichten dankbar zu sein, müssen wir unser Verständnis von Wissen erweitern. Denn je mehr wir das Wissen mit starren und engen Begriffen definieren, desto roboterhafter und damit unfähig, Wissen tatsächlich aufzunehmen, werden die Menschen.

      Die Idee, dass das Wissen ein aktiver, verkörperter Prozess ist, ist auch nicht einfach aus der Luft gegriffen. Sogar eine wachsende Anzahl an wissenschaftlichen Arbeiten stützt diese Hypothese. Wie in einem Artikel in der New York Times mit dem Titel »Tales of African-American History Found in DNA« berichtet, zeigen Untersuchungen der afroamerikanischen genetischen Geschichte, dass Erinnerungen in Genen weitergegeben werden können. Die DNA der heutigen Afroamerikaner:innen spiegelt die Geschichte des Lebens in einer Apartheidgesellschaft über Generationen wider. Wie The Conversation in einem Artikel mit dem Titel »Racism Impacts Your Health« berichtet, wirkt sich Rassismus auf schwarze Menschen nicht nur psychosozial, sondern auch körperlich aus. Wissenschaftler:innen fanden heraus, dass schwarze Menschen, die häufig Diskriminierung erleben, einen höheren systolischen Blutdruck haben als jene, die nur sehr wenig Diskriminierung wahrnehmen. Eine weitere Studie offenbarte, dass schwarze Frauen, die eine hohe Anzahl an erlebten Erfahrungen mit Rassismus machten, häufiger Brustkrebs bekamen, und dies traf insbesondere auf junge schwarze Frauen zu. Biolog:innen entdecken gerade, dass Genome eine größere Wirkung haben, als zuvor gedacht. Wir werden vom europatriarchalischen Wissen nicht nur politisch und gesellschaftlich entrechtet, wir sind davon auch körperlich gezeichnet.

      Je mehr wir das Wissen als ein Ökosystem verstehen, das Intersein widerspiegelt und dann gedeiht, wenn unsere Beziehungen gedeihen – ob es sich nun um Beziehungen zu Fakten, zur Natur oder zu anderen Menschen handelt –, desto weiter dehnt sich unsere Welt aus. Je stärker wir uns mit dem Sinnlichen verbinden, desto besser können wir nötige politische, ökonomische, kulturelle und gesellschaftliche Veränderungen identifizieren.

      Nie zuvor haben wir daran geglaubt, dass Wissen das Beste aus uns herausholen könnte. Wir sind nie besonders gut zueinander gewesen – und auch nicht zu uns selbst oder zu unserer Umwelt. Wenn wir diese Wahrheit begreifen, beginnt der wirkliche Wandel. Wir haben enorme wirtschaftliche, wissenschaftliche und technologische Fortschritte gemacht, doch ohne einen entsprechenden psychologischen und gesellschaftlichen Fortschritt haben uns jene Fortschritte lediglich an den Punkt gebracht, an dem wir uns heute befinden – auf dem Weg in ein ökologisches, politisches und soziales Desaster von bislang unvorstellbaren Ausmaßen.

      Ein anderer Wissensansatz würde uns auf einen neuen Weg führen, der uns sowohl innerlich als auch äußerlich erleuchtet. Einen Weg, bei dem die Erkenntnis nicht nur geprägt ist von geschlossenen Hierarchien, Indizes und Messungen, sondern auch von den nichtlinearen und innerlichen Eigenschaften des Unermesslichen. Vielleicht klingt es unrealistisch, dass wir einen universellen Wissensansatz befördern werden, aber etwas, das realistisch klingt, hat noch nie die alten

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