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einen Zugang zum Wissen noch die Fähigkeit, es zu beurteilen. Wir assoziieren Talent mit den Künsten, nicht aber Wissen. Dabei ist die Kunst auch geeignet, die Realität zu erklären, da sie sie von innen heraus erfasst. Kunst erklärt, wer wir sind, da unsere Existenz kunstvoll ist. Wir sind nicht bloß rationale und geistige Wesen, wir sind auch physische und emotionale Wesen. Kunst ist ebenso ein Weg, die Realität zu verstehen und zu verändern, wie es quantifizierbare Informationen sind. Deshalb musste ogbon sowohl den Intellekt als auch die Emotionen ansprechen.

      Geschichten verwandeln sich in Wissen, und Wissen wird zu Materie. Die dualistische Weltsicht trennt Materie von Erzählung, aber Geschichten sind die Materie, aus der wir unsere Weltsicht aufbauen, die sich wiederum in physische Objekte verwandelt: Bücher, Bauwerke, Barrikaden, und so weiter. Auch in unseren Körpern wird Wissen in Materie transformiert. So wie die erste Struktur, die sich im menschlichen Embryo formt, das Rückenmark ist, ist auch das Wissen das Rückgrat aller anderen Ideen, die unser Leben formen. Wie wir uns in der Welt bewegen und fühlen, die Luft, die wir atmen, die Gesundheit unserer Bäume, die Nahrung, die wir zu uns nehmen, die Ideologien, die wir unterstützen, wie wir tanzen und uns lieben, sind allesamt Abbilder dessen, was wir wissen.

      Die Vorstellung, die Realität ließe sich nur durch kalkulierbare Logik angemessen erklären, ist eine der gefährlichsten Vorstellungen, die je geäußert wurden. Wir betrachten das Wissen mittlerweile auf eine fundamentalistisch rigide und regelgebundene Weise. Die Gesellschaft dürstet nach humanistischem Denken wie die Sahara nach Wasser. Je robotischer eine Gesellschaft wird, desto mehr soziale Probleme entstehen in ihr, was wiederum noch mehr überprüfbare Diagnostik hervorruft. Wie immer bezahlen die Ärmsten in der Gesellschaft den höchsten Preis für diese bewertungsbesessene Dynamik. In Großbritannien setzen die Kommunen immer stärker auf Algorithmen, um Entscheidungen über die Vergabe von Sozialleistungen zu treffen. Allerorts treffen festgesetzten Regeln folgende, berechenbare Methoden vermehrt wesentliche Entscheidungen über die komplexen Lebenswirklichkeiten von Menschen und überlassen damit jene, denen am dringendsten zugehört werden müsste, dem verbindlichen Urteil eines Computers.

      Die Unfähigkeit, zuzuhören, führt zu einer Unterdrückung von Gefühlen, was einen toxischen Zustand erzeugt, da die Wirklichkeit dabei übersehen wird. Der Grund dafür, dass die gewalttätigsten Menschen meist männlich sind, liegt darin, dass die gesellschaftliche Erziehung Männern beibringt, ihre Gefühle zu unterdrücken. Das Unterdrücken von Gefühlen führt stets zu Gewalt, sowohl physischer als auch nichtphysischer Natur – sowohl gegenüber sich selbst als auch gegenüber anderen.

      Wir benötigen eine Herangehensweise an das Wissen, die das Imaginative und das Rationale, das Quantifizierbare und das Unermessliche, das Intellektuelle und das Emotionale synthetisiert. Ohne Gefühl wird das Wissen schal, ohne Vernunft wird es roh. Wir benötigen eine Herangehensweise, die Weisheit nicht nur an Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik (MINT) oder dem Bruttoinlandsprodukt (BIP) bemisst, sondern auch daran, wie ethisch wir unsere Gesellschaften organisieren. Wir benötigen Wissen, das sowohl das Innere als auch das Äußere beeinflusst. Ogbon-inu und ogbon-ori. Sinnliches Wissen.

      Mit sinnlich meine ich nicht sexuell. Im Englischen gibt es zwei verschiedene Begriffe für »Sinnlichkeit«: sensuality und sensuousness. Während sensuality sich auf körperliche Begierden und ausschweifendes Vergnügen die physischen Sinne (Tasten, Schmecken, Sehen, Riechen und Hören) betreffend bezieht, geht sensuousness über diese Instinkte hinaus. Wenn etwas sinnlich (sensuous) ist, wirkt es sich nicht nur auf deine Sinne aus, sondern auf dein gesamtes Wesen – deinen Geist, deinen Körper und deine Seele. Bücher etwa sind auf diese Weise sinnlich. Man kann sie sehen, anfassen und riechen. Im Audioformat kann man sie hören, und man kann ihre Worte auf der Zunge schmecken. Bücher sind greifbare Objekte von unterschiedlichster Beschaffenheit – alt, gebunden, vielleicht sogar von Hand, und so weiter. Sie regen den Geist an, wirken therapeutisch und können die eingefahrensten Denkmuster umwandeln. Sie wirken sich auf dein gesamtes Wesen aus.

      Als der Dichter John Milton in seinem 1644 veröffentlichten Traktat Von der Erziehung den Begriff sensuous prägte, wollte er gerade die sexuelle Konnotation des Wortes sensual vermeiden. So beschrieb er seine Literaturgattung – die Dichtung – als »einfacher, sinnlicher [sensuous] und leidenschaftlicher«. Sinnliches Wissen ist also ein poetischer Ansatz, der emotionale Intelligenz mit intellektueller Fähigkeit verbindet. Er versteht Wissen als eine lebendige, atmende Einheit, und nicht als ein abgepacktes Produkt zum passiven Konsum. Er begegnet dem Wissen als einem Partner und nicht als einem Diener – oder auch einem Herrn. Er bedeutet, das Wissen wie etwas Kostbares zu behandeln, das uns zur Verkörperung seiner guten Eigenschaften verhilft. Sinnliches Wissen ist ein Wissen, das Verstand und Körper mit Lebendigkeit erfüllt und seine Wirkung hinterlässt wie die Duftnote eines Parfüms. Es ist ein Wissen, das biegsam ist, und nicht hart wie Stein. Sinnliches Wissen bedeutet, nach Wissen zu streben, weil dieses einen erhebt und voranbringt, und nicht aus einem Machthunger heraus.

      In dem Bestseller Schnelles Denken, langsames Denken des mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Neuropsychologen Daniel Kahneman findet sich ein Argument, das an die alte Yoruba-Philosophie von ogbon erinnert. Kahneman argumentiert, dass wir Entscheidungen mithilfe zweier innerer Systeme treffen, die er als System 1 und System 2 bezeichnet.

      System 1 ist ein emotionales, intuitives System und »versteht kaum etwas von Logik und Statistik«, während System 2 ein reflektierendes, schlussfolgerndes System ist, das »logisch denken« kann.9 System 1 wäre also vergleichbar mit ogbon-inu, Wissen des Bauches, System 2 dagegen mit ogbon-ori, Wissen des Kopfes.

      Allerdings gibt es einen entscheidenden Unterschied. Auf die typisch dualistische Weise des europatriarchalischen Wissens (die Namen »System 1« und »System 2« sprechen hier schon Bände) sieht Kahneman die beiden Systeme als verwickelt in »ein Psychodrama mit zwei Figuren«, wobei das emotionale System 1 die weniger intelligente Figur ist als das logische System 2. Dagegen könnte man sagen, die mythologische Theorie der Yoruba sehe die beiden Systeme in einer leidenschaftlichen Liebesgeschichte mit zwei verliebten Figuren.

      Ich bin nicht so anmaßend, die wissenschaftliche Forschung eines mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Neuropsychologen abzutun, insbesondere da ich keine Expertin für die Dual-Prozess-Theorie (DPT) bin, das psychologische Gebiet, für das Kahnemans System 1 und 2 ein Beispiel darstellen.

      Tatsächlich haben aber auch Expert:innen auf dem Gebiet der DPT Kahnemans Gedanken infrage gestellt. Beispielsweise argumentieren die Wissenschaftler Hugo Mercier und Dan Sperber in ihrem provokativen Buch mit dem Titel The Enigma of Reason: A New Theory of Human Understanding, die intellektuelle Fähigkeit, logisch zu denken, sei selbst eine Intuition – eine emotionale Funktion. Sie behaupten, die Intuition spiele, genau wie die Vernunft, eine große Rolle bei unserem Vermögen, unsere Umgebung zu verstehen. Auch der angesehene Neurowissenschaftler António Damásio hat die Idee vorgebracht, die Vernunft werde nicht, wie üblicherweise angenommen, durch Emotionen blockiert, sondern durch diese gesteuert. Laut Damásios »Hypothese der somatischen Marker« setzen emotionale Erfahrungen (oder somatische Marker) die Vernunft außer Kraft, wenn wir Entscheidungen treffen. Kurz gesagt bildet unsere emotionale Reaktion auf eine Situation die Basis für unsere rationale Entscheidung.

      Es gibt noch viele weitere wichtige, wenn auch widersprüchliche Theorien über diese fundamentale Frage in der Bewusstseinsforschung, die auch bekannt ist als das Körper-Geist- oder Leib-Seele-Problem. Der Epiphänomenalismus behauptet, es gebe gar keinen Geist, nur einen Körper, der auf das Leben reagiert. Der Pantheismus am anderen Ende des Spektrums argumentiert dagegen, der Geist sei eine Art kollektives Projekt, bei dem alle von den Gedanken und Handlungen aller anderen beeinflusst werden. Baruch de Spinoza, dem die Formulierung des Pantheismus zugeschrieben wird, drückte es im siebten Lehrsatz von »Über die Natur und den Ursprung des Geistes« so aus: »Die Ordnung und Verknüpfung der Ideen ist dieselbe wie die Ordnung und Verknüpfung der Dinge.«10 Aber noch hat niemand eine befriedigende Lösung für das gefunden, was David Chalmers »das schwierige Problem des Bewusstseins« nennt, womit einfach ausgedrückt die Frage gemeint ist, warum Menschen Gefühle haben. Wenn man bedenkt, dass wir nur eine Hälfte unseres Wissens nutzen, ogbon-ori, dann

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