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Wrocwaw ein junger Mann, nun ja, sagen wir medienkompatibel: südländischen Aussehens entgegen.

      »Guten Abend«, begrüßte er mich ausgesucht höflich, »wo gibt es denn hier in der Gegend noch Frauen?«

      Ich sah ihn verblüfft an.

      »Wissen Sie«, erläuterte er, »ich bin heute Abend erst angekommen, ich bin hier zu einem Wochenend-Seminar im Palmblatt. Und jetzt würde ich gerne noch Frauen treffen.«

      Ach, solche Frauen meinte er. Aber die sind doch um diese Uhrzeit längst im Bett, dachte ich ratlos. Das war ihm offenbar auch schon aufgefallen: »Das Palmblatt hat ja leider schon zu. Jetzt habe ich meinen Koffer erst mal bis morgen in der freundlichen Bar da abgestellt«, er zeigte hinter sich, er meinte tatsächlich das Wrocwaw. Freundlich? Herrjeh, kein Wunder, dass diese Christen immer an das Gute im Menschen glauben – sie sind offensichtlich blind. »Ich kenne mich hier ja nicht aus«, fuhr mein Gegenüber fort, »aber ich will noch ein bisschen was erleben, wenn ich schon mal hier in Berlin bin. Irgendwo hier in der Nähe gibt es doch bestimmt noch Frauen!«

      Ich war verwirrt. Was denn jetzt für Frauen? Er bemerkte meine Irritation und lächelte nachsichtig. »Na, Sie wissen doch schon: Frauen, Mädchen, ein bisschen Spaß, Sie verstehen?«

      »Wie jetzt?«, entfuhr es mir, »Spaß mit Christenmädchen? Gebetskreis? Singen? Um diese Uhrzeit?«

      Er lachte: »Nein, ficki-ficki natürlich, hier in Fußentfernung, muss es doch geben, ist doch Berlin!«

      Ah. Ach so. Ich erklärte ihm den Weg zur Triftsauna in der Triftstraße. Die wirbt damit, dass dort »Eva Hausfrau«, »Luci Hot« und »Ramona Nymphe« auf Besucher warten: »Hier erlebst du Hausfrauen mal nicht hinter dem Herd, sondern in heißer Wäsche mit High-Heels und teilweise auch Straps und Strumpf«, wie ein Schild im Schaufenster mit einem rätselhaft pedantisch wirkenden »teilweise« verheißt – oder gibt es in der Kundschaft auch Straps-Gegner, die sonst nicht kämen? Das sind ja so Fragen, über die man eben nachdenkt, wenn man immer mal an so einem Aushang vorbeigeht. Mehr wusste ich allerdings nicht über den Laden, aber meinem Gesprächspartner genügten die Informationen offenbar völlig.

      »Haben Sie Lust mitzukommen?«, fragte er mich etwas überraschend, aber ich lehnte dankend ab. Bevor er Richtung Triftstraße losging, fragte ich ihn in einer Aufwallung von Nächstenliebe noch, ob er jetzt allen Ernstes bis morgen seinen Koffer im Wrocwaw lassen wolle, aber er lächelte nur und sagte: »Man muss den Menschen trauen. Der Herr weist uns den Weg.« Dann bedankte er sich freundlichst, reichte mir die Hand zum Abschied und lief los Richtung Triftstraße. Der Menschenfischer ging auf Beutezug. Den Weg allerdings hatte nicht der Herr ihm gewiesen, sondern ich. Wenn uns das mal nicht noch allesamt ins Fegefeuer bringt.

       Tauwetter

      Draußen taut es. Im Innenhof ist ein kleiner Körper aus den Schneemassen ans Tagelicht getreten. Eine Ratte. Wochenlang tiefgefroren, unter Schnee begraben, nun ragt sie schon zur Hälfte aus dem Eis. Der Ötzi der Seestraße 606.

      Im Briefkasten liegt ein Brief. Ich bin erstaunt. Denn der Brief ist ohne Absender und nicht mal in einem Briefumschlag, der Brief ist genau betrachtet ein Zettel, und auf dem wird zur Revolution aufgerufen. Wir, das Volk der Seestraße 606, sollen uns erheben gegen den Tyrannen, die Hausverwaltung Z.B.-Immobilien. Die nämlich, so erfahre ich in der anonymen Brandrede, verlange hohe Mieten, aber kümmere sich nicht um ihre Aufgaben. In der Folge verkomme das Haus, und man traue sich schon gar nicht mehr, Besuch einzuladen.

      Ich bin verwundert. Dieses Schreiben wirkt nicht authentisch. Erstens: welche hohen Mieten? Oder hat sich das kürzlich aus Westdeutschland zugezogene Girl’s Camp im dritten Stock betuppen und sich den Wedding als Mitte andrehen lassen? Ansonsten wirkt die Aussage mit den hohen Mieten nämlich eher so wie die eines Querulanten beim Lidl in der Müllerstraße am Regal mit den Fleischabfällen, der sich lauthals im Selbstgespräch beschwerte: »Für das Geld kann man ja wohl auch Qualität verlangen!« Und zweitens: wieso Besuch einladen? Wer käme denn hier auf die Idee, Besuch einzuladen, der sich daran stören könnte, wie es hier aussieht?

      Das Schreiben listet diverse Skandale aus der jüngeren Hausgeschichte auf. Einen Ausfall der Flurbeleuchtung, für den wir 1 % unserer Miete einbehalten sollen, was durch irgendwelche Gerichtsurteile, die gleich dazu zitiert werden, gedeckt sein soll. Der Lichtausfall war mir auch aufgefallen, und zwar vor allem deshalb, weil er überraschend schnell behoben worden war; am Sonntagnachmittag blieb es dunkel, am Freitagmittag war es schon wieder hell. So etwas ist eigentlich nicht üblich hier. Ich hatte kurzzeitig schon Angst, dass es vielleicht doch allmählich losgeht mit der Gentrifizierung.

      Weitere Vorwürfe folgen: Es liege Müll herum (2 %), die Müllabfuhr komme nicht regelmäßig (4 %). Es gab einen Tag lang kein Wasser (1,5 %). Die Haustür schließt nicht richtig (1 %). Das Wetter im Innenhof ist schlecht (3 %). So was halt. Wir werden deshalb aufgefordert, unsere Miete zu mindern oder nur unter Vorbehalt zu zahlen. Wie gesagt: Ein Hauch von Umsturz liegt in der Luft.

      Aber wer von den Hausbewohnern könnte hier den Aufrührer im Untergrund geben? Ich bin ratlos. Ist das Schreiben politisch motiviert? Immerhin wird die Hausverwaltung von einem Herrn mit türkisch klingenden Namen angeführt. Sind das schon die Folgen der immer exzessiveren Islamkritik? War Henryk M. Broder bei uns am Briefkasten? Oder waren es gar die Christen aus dem Palmblatt-Café im Vorderhaus? Die sind immerhin missionarisch. Wollen sie auf diese Weise die Moslems zurückdrängen? Andererseits: Wäre das nicht ein wirklich berechtigter Mietminderungsgrund, dass die da vorne im Haus residieren – mindestens 10 % für die Halleluja-Chöre, die durchs Fenster in den Innenhof dringen? 5 % für die Jesus-Filme, die sie vorne im Schaufenster laufen lassen? Das ist peinlich, wenn mal Besuch kommt!

      Wer sonst könnte das seltsame Schreiben verteilt haben? Hoppe scheidet aus, der kann nicht mal schreiben. Das Künstlerpaar scheidet aus; ich sehe durch mein Schreibtischfenster, wie es kopfschüttelnd den Brief in den Altpapiercontainer wirft. So macht es auch ein weiterer Hausbewohner nach dem anderen. Langsam wird es eng. War es doch Robert Rescue, unser Hartz-IV-Bezie­her aus Leidenschaft? Haben sie ihm das in seiner letzten Maßnahme vom Jobcenter beigebracht? Ist das deren neuster Trick zum Sparen bei den Hartz-IV-Bezügen, dass sie die Kunden einfach anhalten, die Miete zu mindern, damit der Staat weniger Wohnungskosten übernehmen muss? Ich werde ihn im Auge behalten.

      Ich kann das Rätsel letztlich nicht lösen. Nur eines ist klar: Wir haben einen Querulanten im Haus. Eine undichte Stelle. Einen Maulwurf.

      Mein Blick fällt auf die inzwischen gänzlich aufgetaute tote Ratte. Direkt dahinter ist der Innenhofgletscher zu einem beachtlichen Berg aufgetürmt. Da könnte durchaus noch ein ganzer Mann im Eis eingeschlossen sein. Vielleicht ein Mitarbeiter der Kammerjägerfirma Rentokill, die seit Jahren im Auftrag der Hausverwaltung einen vergeblichen Kampf gegen die Nagetiere der Umgebung führt, von der wir jetzt aber schon auffällig lange niemanden mehr gesehen haben, wie das Aufrührerschreiben bemängelt (Schädlingsbefall, 2 %). Das ist vielleicht gar nicht die Schuld der Hausverwaltung. Vielleicht ist die letzte Runde einfach unentschieden ausgegangen. Wenn es weiter so taut, wird der Mann morgen frei im Hof liegen. Ich denke, dafür ist dann aber wirklich eine ordentliche Mietminderung fällig.

       Walpurgisnacht

      Erstaunt stehe ich vor einem dieser großen, grauen Käs­ten, die überall herumstehen und in denen irgendwas mit Strom oder Telefon drin ist. Auf diesem Kasten hier, mitten auf dem Mittelstreifen der Seestraße, prangt ein neues Plakat: In zeitloser Optik prangt eine weiße Faust auf schwarzem Grund, in roter Schrift steht daneben: »Nimm, was dir zusteht!«

      Ach, mir wird ganz warm ums Herz. Lange nicht mehr gesehen: echte Autonomen-Folklore. Was dem Bayern Oktoberzelt und Lederhose und dem Rheinländer der Rosenmontag, sind dem Berliner bekanntlich seine putzigen Antikapitalisten samt zugehörigem Umzug, der hier traditionell am Mai-Feiertag abgehalten wird. Man muss die Feste eben feiern, wie sie fallen. Und im fortgeschrittenen­ Frühjahr ist es auf jeden Fall erheblich wärmer als beim doch oft ungemütlich kalten Karneval, da haben die Autonomen

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