Скачать книгу

>

       Heiko Werning

       Vom Wedding verweht

      Menschliches, Allzumenschliches

      FUEGO

      Über dieses Buch

      Der Wedding – Sehnsuchtsort für alle, die sich nach nichts mehr sehnen, Zuflucht für jeden, der vor sich selbst wegläuft, neue Heimat für jene, die sich vom Makler ernsthaft erzählen lassen, das hier sei Teil von Berlin-Mitte. Hier muss man den Erstklässlern als Erstes erklären, was »Fick dich!« eigentlich bedeutet und was Bienen sind, den Veganern, dass sie ruhig auch Wurst mit Fleisch essen können, solange es halal ist, und Zugezogenen, dass man hier am besten flirtet, indem man einer Taube den Kopf abschlägt.

       Dazwischen betrinken sich Hipster am selbst gebrannten Nusslikör, betreiben Clickbaiting mit schimpfenden Ureinwohnern auf Youtube und hängen Zettel auf mit guten Vibes zum Abreißen. Kurz: Ein Stadtteil, der seit Jahrzehnten kommen soll, und doch einfach da bleibt, wo er schon immer war.

      »Ohne diesen Westfalen wäre Berlin nichts! Heiko Werning schreibt wie Hemingway, nur witzig.« (Bernd Gieseking)

       Leben und Sterben im Wedding

      Der dominierende Fixpunkt an der Kreuzung See-/Ecke Müllerstraße ist das Saray-Restaurant, eine Dönerbude mit angeschlossenem türkischen Restaurant, ein beliebter Treffpunkt aller Bewohner des Viertels, gleich welchen Migrations-, Bildungs- oder sonstigen Hintergrundes. Auch die bediensteten Türkischstämmigen dort sind so dermaßen berlinerisch, dass man sich manchmal bei dem Gedanken ertappt, dass sie es mit der Integration ja nun eigentlich auch nicht gleich hätten übertreiben müssen. Als ich eines Nachts noch einen Döner zum Mitnehmen verlangte, stellte ich anschließend erschrocken fest, dass ich praktisch kein Geld mehr im Portmonee hatte. Mühsam klaubte ich die geforderten drei Euro fünfzig aus einer bunten Mischung kleinerer Münzen aller Art zusammen, sehr zum Missfallen des Dönerbereiters.

      »Ey, ich bin doch keine Bank!«, wies er mich zurecht, als ich ihm die kleine Altmetallhalde über den Tresen schob, »ich meine, wenn du Döner bestellst, dann gebe ich dir doch auch einen ganzen Döner am Stück und schütte dir nicht einen Haufen Fleischschnipsel in die Hände!« Große Güte, dachte ich, es tut den Menschen einfach nicht gut, wenn sie zu lange in Deutschland leben. Das sieht man ja zuallererst an den Deutschen. Allerdings bin ich ja auch Deutscher und parierte den Anwurf des überassimilierten Migrationshintergründlers also mit dem versöhnlichen Angebot: »Na, wenn Sie unbedingt wollen, kann ich ihnen das Geld auch in eine labberige Brottasche klatschen.«

      Woraufhin er tatsächlich kichern musste, bevor er fragte: »Knoblauchkräuterscharf?«, und dann noch anfügte: »Ey, musstu entschuldigen, aber heut Nacht waren hier wieder echt nur Verrückte. Vorhin haben’s hier welche draußen getrieben. Mitten in unserem Garten!« Mit »Garten« meinte er das Stückchen vom Bürgersteig, das das Saray mit großen Pflanzschalen voll hoher Büsche von der Straße abschirmt. Auf das Pflaster wurde Kunst­rasen gelegt, auf dem ein paar Stühle und Tische stehen. Da kann man sich zum Essen raussetzen und dabei vom Lärm einer der meistbefahrenen Kreuzungen der Stadt beschallen lassen, was erstaunlich viele Kunden für ein attraktives Angebot halten. Ein lauschiges Plätzchen für ein Schäferstündchen allerdings schien mir das trotz des guten Sichtschutzes und der fehlenden Außenbeleuchtung nicht zu sein.

      »Die sind bestimmt aus diesem Puff da oben gekommen«, schimpfte der Dönermann weiter. »Man geht aber doch nicht mit seiner Frau in den Puff«, gab ich zu bedenken und wunderte mich, wo hier bitte schön ein Puff sein sollte, mir war jedenfalls noch keiner aufgefallen. »Na ja, nicht so richtig Puff, musstu Frau schon selbst mitbringen in ’n Puff da. Ist voll angesagt, machen voll viele.«

      Ich war erstaunt. »Wo denn?«, fragte ich. »Na, da im Nachbarhaus, wo die Penner immer sitzen. Da ganz oben drin. Über der Wohnung mit dem Weihnachtszeug!« In der Tat, ein Balkon war, jetzt im Mai, immer noch in voller Pracht weihnachtlich geschmückt. Mit einem großen Weihnachtsmann, der wütend vor sich hin blinkte, dazu zwei blau leuchtende Rentiere. »Ist doch ein bisschen spät für Weihnachtsschmuck«, bemerkte ich daher. »Ist bestimmt so ein Verrückter von der AfD«, schimpfte der Dönerwirt, »kämpft da fürs christliche Abendland und lässt den Weihnachtskram deshalb einfach immer weiter leuchten, gegen die Islamisierung. Macht der bestimmt extra, um uns zu ärgern, weil wir Türken sind.« »Aber ihr hängt doch Weihnachten auch immer alles mit Weihnachtsschmuck voll«, gab ich zu bedenken. »Ja, eben. Und jetzt will er’s uns zeigen. Dass er noch viel mehr christliches Abendland ist. Da lässt er das Zeug eben bis zum Sommer blinken.«

      Später zu Hause googelte ich aus Neugier dann doch nach dem merkwürdigen Puff, und siehe da: Tatsächlich, in dem Haus ist ein Swingerclub. Und zwar, wie ich der Homepage entnehme, der einzige Swingerclub Berlins mit »Liebespool«, in dem man Sex haben darf, denn eine spezielle Wasserumwälz- und Filteranlage sorge dafür, dass »innerhalb von vier Minuten das gesamte Wasser rückstandslos keimfrei filtriert« wird und »keine unangenehmen Hinterlassenschaften im Wasser herumschwimmen«. Unangenehme Hinterlassenschaften im Wasser? Ich brauch­te einen kurzen Moment, bis ich verstand: Wir haben also Berlins größte Sperma-Abschöpfanlage an unserer Kreuzung. Erstaunlich, dass mir diese Top-Sehens­würdigkeit bislang entgangen war.

      Vielleicht liegt es daran, dass sich unten vor dem Haus eine Gruppe von Obdachlosen häuslich eingerichtet hat, um die ich immer einen kleinen Bogen mache. Einer der Eingänge in das hässliche Betonhaus scheint stillgelegt, in dem großen Türbogen haben sie ihre Schlafsäcke ausgerollt und halten dort beachtliche Trinkgelage ab. Genau gegenüber, auf der anderen Seite der Seestraße, hat am Urnenfriedhof eine Burger-Bude aufgemacht, so eine moderne Burgerbude, mit frischem Hackfleisch und erstaunlichen Burger-Varianten und vegetarischen Alternativen.

      Was für ein Irrsinn, hatte ich erst gedacht, auf dieser toten Friedhofsecke ein Geschäft aufmachen zu wollen, aber ich habe mich geirrt. Längst schon boomt der »Rebel Room«, so heißt das Ding, und nur durch einen Zaun von den Urnengräbern getrennt sitzen die Hipster auf Bierbänken, lassen sich Hirsch-Burger mit Rotweinsauce und Rucola für acht Euro das Stück schmecken und schauen rüber zu den Sternburg verzehrenden Tippelbrüdern auf der anderen Straßenseite.

      Als ich unlängst nachts am Saray vorbeilief, wurde ich fast von einem BMW mit OHV-Kennzeichen überfahren, der plötzlich mitten auf den Bürgersteig fuhr. Ein sehr aufgepumpt wirkender, etwa dreißigjähriger Muskelmann mit Bürstenfrisur sprang heraus, während seine Beifahrerin sitzen blieb und damit beschäftigt war, sich im Spiegel des Sonnenschutzes die Augenbrauen nachzuziehen. Der Bürstenkopf rief den Pennern zu: »Ey, hier soll irgendwo ein Swingerclub sein, habt ihr eine Ahnung, wo wir da hinmüssen?«

      Ach, guck an, dachte ich. Die zwei Turteltäubchen wollen also in den Spermapool. Irgendwie sieht man die Menschen gleich mit ganz anderen Augen, wenn man über solche Informationen verfügt. Die Penner erwiesen sich aber zunächst mal als echte Deutsche, indem sie als Erstes auf die Straßenverkehrsordnung hinwiesen: »Hier kannste deine Kiste aber nicht stehen lassen!«, raunzte der eine. Der Bürstenkopf rollte mit den Augen und wollte schon zu einer Erwiderung ansetzen, als zwei junge, verschleierte Frauen vorbeikamen und freundlich riefen: »Der Swingerclub ist da im Nachbarhaus, oberster Stock.«

      Ich war verblüfft. Wieso wissen die denn, wo hier Swingerclubs sind, dachte es ganz diskriminierend in mir. Dabei wohnen die vermutlich einfach nur hier, und da weiß man halt, was in der Nachbarschaft so abgeht. Der Typ jedenfalls wirkte nicht weiter überrascht und fragte nur sachlich zurück: »Da oben, über dem Balkon mit dem blinkenden Weihnachtszeug?« »Ja, genau«, antwortete eines der Kopftuchmädchen freundlich, »da vorne ist der Eingang, es gibt auch einen Aufzug direkt nach oben.« Dann fügte sie noch streng an: »Den Wagen können Sie hier aber nicht stehen lassen!«

      Als ich kürzlich nachts wieder zum Saray kam, fiel mir sofort auf, dass der Weihnachtsschmuck nun doch entfernt worden war. »Na, hat er endlich aufgegeben?«, fragte ich den Dönermann, der sich freute, mich wiederzusehen. »In gewisser Weise wohl schon«, antwortete er, »ist gestorben.« »Oh«, sagte ich. »Ja«, sagte er, »schon im Dezember. Seither lag der da in seiner Wohnung und ist vergammelt. Hat keiner gemerkt.« »Oh«, sagte ich wieder. »Deswegen noch der Weihnachtsschmuck«, erklärte der Diensthabende

Скачать книгу