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anderen hinüber. Dabei sprach er nicht wirklich, es war eher ein tonloses, aber durchdringendes Raunen. Der andere schnaubte und hockte sich dann zu dem Alten. Ife blieb ratlos stehen. Sie fühlte sich nicht willkommen. Sie wagte nicht, sich dazu zu setzen.

      Die beiden Männer tuschelten, der Alte immer noch in seine Schoten vertieft. Nach einer endlosen Weile kam der Jüngere zurück zu Ife.

      »Sugar Creek?«

      Ife nickte.

      Er schüttelte den Kopf. »Impossible.«

      Das Wort verstand sie, und es stahl ihre Hoffnungen.

      Bevor sie sich weiter über ihr Schicksal Gedanken machen konnte, zog sie der Große leicht am Arm. Sie durchquerten schnell die Siedlung, Ife zählte zehn Behausungen. Bald standen sie wieder vor einem Abgrund. Der Mann holte eine dicke Liane aus dem Gebüsch, die er zum Abseilen hinunterwarf. Die Wand war an dieser Stelle glatt, gab keiner Hand und keinem Fuß Hinweis, wo sie Halt finden konnten. Unten angekommen, liefen sie stumm durch den Wald. Ife verlor schon bald wieder die Orientierung.

      Sie überquerten einen Bach, dann standen sie plötzlich vor einer dornenbewehrten Palisade. Ifes Begleiter stieß einen Vogellaut aus. Nach einer Weile wurden von innen zwei glatte Stämme aus dem Zaun gezogen. Eine Frau mit harten Gesichtszügen und kräftigen Sehnen am Hals hielt die Stämme in den Armen. Sie war größer als Ife, barbusig und trug eine Kette aus aufgefädelten braunen Samen. Um die Hüfte hatte sie ein schmutziges Tuch geschlungen, darunter schauten muskulöse lange Waden und riesige nackte Füße hervor. Ifes Begleiter sprach einige Sätze mit ihr, dann wandte er sich zum Gehen. Die Frau rammte die beiden Stämme hinter Ife mit der Kraft ihrer bloßen Hände in die Erde. Danach musterte sie Ife von oben bis unten, ohne mit einer Miene zu verraten, was sie von dem Neuankömmling hielt.

      Diese Siedlung war aufgeräumter als die oben auf dem Felsen. Die Hütten waren ähnlich gefertigt, standen aber enger beisammen. Und es gab hier Frauen und Kinder. Manche Frauen hatten ihre Säuglinge auf den Rücken gebunden, andere Kinder krabbelten auf der Erde herum. Die Kinder waren nackt, die meisten Frauen hatten ihre Hüften mit Tüchern verhüllt. Auch hier herrschte trotz der vielen Kinder eine ungewöhnliche Stille. Als ein Kind aufschrie, zischte die Mutter es sofort an. Das Kind verstummte schuldbewusst. Ife war dem Kind nur für diesen kleinen Schrei dankbar.

      Ife zählte 15 Frauen und sieben Kinder. Sie waren damit beschäftigt, Wurzeln auszugraben und mit großen Mörsern etwas zu zerstampfen. Eine alte Frau schnitzte Pfeilspitzen. Die meisten ließen von ihrer Arbeit ab und kamen angelaufen, um Ife anzustarren. Es waren ernste bis feindselige Augen, die in hageren Gesichtern wohnten. Die Älteste im Kreis richtete das Wort an Ife. Sie sprach ein Englisch, das nur schwerfällig aus ihrem Mund wollte.

      »Du kommst von Sugar Creek?«

      Ife nickte.

      »Du bist weggelaufen?«

      »Ja.«

      »Bist du alleine weggelaufen?«

      »Ja.«

      »Wieso bist du zu uns gekommen?«

      »Ich bin nicht zu euch gekommen. Ein Mann hat mich im Wald gefunden.«

      »Das wissen wir. Aber vorher bist du dorthin gelaufen.«

      »Ich bin einfach gelaufen. Ich wusste nicht, wo ihr lebt. Ich würde auch nicht den Weg von hier zurück zur Plantage finden.«

      »Das ist schlecht«, sagte die Alte. Ife schnürte sich der Hals zusammen. Sie sollte also zurück.

      »Wenn du auch nicht wusstest, wo wir leben«, fuhr die Alte fort, »wolltest du dennoch zu uns.«

      »Ich hatte von Freien gehört, die hier im Wald leben.«

      »Und du dachtest, wir würden uns über jede Neue freuen.«

      Statt einer Antwort ließ Ifes Magen ein grollendes Knurren vernehmen. Die Alte schaute bedeutungsvoll in die Runde und rollte mit den Augen. Ife schaute betreten zu Boden, verfluchte ihren Magen und die Stille, die seine Unzufriedenheit noch lauter erklingen ließ.

      »Was kannst du?«, fragte die Alte ein wenig milder als zuvor.

      Ife fühlte sich plötzlich wieder wie ein dummes kleines Mädchen, das zu nichts zu gebrauchen war und dem man damit drohen konnte, es am nächsten Samstag zum Sklavenmarkt zu bringen. Verschwunden war das stolze Indianermädchen, das sie als Kind so gerne gewesen wäre. Sie war eine nichtswürdige Sklavin, die selbst anderen ehemaligen Sklavinnen nicht gut genug war. Wie naiv war sie gewesen, als sie dachte, der Mut zum Weglaufen würde schon ausreichen, um frei zu sein. Sie hätte weinen mögen. Doch diese ernsten, trockenen Gesichter um sie herum, Ausdruck einer jahrelangen Dürre inmitten von üppigem Grün, würden auch von Tränen nicht zu erweichen sein.

      »Ich kann den härtesten Boden aufhacken«, sagte Ife, »ich kann Bäder, Umschläge und Tees gegen die häufigsten Wunden und Krankheiten herstellen. Amulette darf ich leider noch nicht machen.«

      Die Mundwinkel der Alten zogen sich immer verächtlicher nach unten.

      Entschuldigend fuhr Ife fort: »Meine Lehrerin, die Coba, hat immer gesagt, dass ich noch Geduld haben müsse. Ich sei eine gelehrige Schülerin. Aber ich habe es nicht länger in Sugar Creek ausgehalten.«

      In die dunklen Augen der Alten zog ein seltsames Licht ein, während ihr Mund sich entspannte.

      »Die Coba? Ist sie in Sugar Creek?«

      Ife nickte.

      »Ja, hätte ich mir denken können.« Sie sagte etwas zu der Frau neben ihr. Die stand auf und kam kurz darauf mit einer gefüllten Schüssel zurück, die sie Ife reichte. Darin war ein violetter, körniger Brei. Anscheinend hatte sie mit der Erwähnung von Coba eine unbekannte Prüfung bestanden. Da sie keinen Löffel hatte, tunkte sie den Zeigefinger ein und leckte den Brei ab, der daran kleben blieb. Die Masse war etwas süßlich, mehlig und zugleich fruchtig. Nach dem Schlucken blieb eine klebrige Schicht auf der Zunge zurück. Ife leckte den gesamten Brei auf ohne aufzusehen. Die Frauen um sie herum ließen währenddessen keinen Mucks vernehmen.

      Als sie aufgegessen hatte, nahm man ihr die Schüssel aus der Hand. Ife hatte sie so blankgeleckt, dass Waschen nicht mehr nötig war.

      »Du sollst eine Weile bei uns bleiben«, verkündete nun die Alte und Ife entfuhr ein Seufzer der Erleichterung. »Wir werden sehen, wofür du zu gebrauchen bist. Du musst uns genau beobachten und du musst mir Auskunft geben, wenn ich dich frage. Die anderen sprechen deine Sprache nicht, aber du wirst die unsere schon aufschnappen. Wer hat dein Amulett gemacht?«

      »Coba.«

      »Natürlich Coba. Die alte Zauberin.« Die Frau kicherte. »Sie war immer so ahnungslos.« Dann wandte sie sich jäh ab, ein kleines Mädchen mit dichtgelocktem Haar folgte ihr. Die anderen Frauen waren schon wieder in ihre Arbeiten vertieft. Ife blieb sitzen und beobachtete das Geschehen um sie herum. Sie verspürte nach den langen Märschen der letzten Tage keinen Drang irgendetwas zu tun. Die Alte hatte ihr ja nur gesagt, dass sie die anderen beobachten sollte. Da niemand länger Notiz von ihr nahm, fühlte sie die Anspannung von sich abfallen. Auch die Stille tat ihr nicht mehr in den Ohren weh. War dies die Freiheit? Bei Tageslicht dazusitzen und die Hände in den Schoß zu legen? Waren die Winti des Waldes zu ihr gekommen, sodass sie sich nicht mehr so einsam zwischen den gleichgültigen Bäumen und Menschen fühlte?

      Eine Dreiergruppe Frauen brach mit geflochtenen Kiepen und Buschmessern in den Wald auf. Andere zerkleinerten Kakao und wiederum andere Früchte, die Ife noch nie gesehen hatte. Zwei etwa sechsjährige Mädchen zersplissen Stöcke in ihre Fasern. Sie schienen die ältesten Kinder in der Gruppe zu sein. Waren sie die ersten Kinder, die in dieser Gruppe von Freien zur Welt gekommen waren? Die Alte, die Ife ausgefragt hatte, schnitzte Pfeilspitzen. Sie saß alleine, konzentriert, und doch sah man ihr an, dass sie jedes feinste Detail des Geschehens um sie herum wahrnahm, dass sie eine Tausendäugige mit dem Gehör einer Schlange war.

      Am Abend machten sie kein Feuer. Um die Mücken abzuwehren, rieben sie sich mit einer roten Paste ein. Ihre Stimmen waren ein

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