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war ihr nicht nachvollziehbar. Vielleicht erging es Laura in dieser Hinsicht besser, denn sie schien die extrem emotionale Seite ihrer Ursprungs-Person übernommen zu haben.

      Yara hingegen wusste, dass sie eher in logischen, vernünftigen Bahnen dachte und handelte. Deshalb fiel es ihr auch so schwer, ihr früheres Leben als Larya zu reflektieren. Sie war als ganze Person »geboren« worden, ihre davor liegende Vergangenheit bestand nur in Erinnerungen. Und wie konnte sie es anstellen, sich an Gefühle zu erinnern?

      Jede Selbst-Duplizierung hatte zwei Personen im gleichen Alter wie die Ursprungsperson zum Resultat. Sie teilte also eine Vergangenheit mit Laura, die sie beide nicht als eigenständige Personen durchlebt hatten. Und trotz der gleichen Vergangenheit hatte der Selbst-Duplizierungs-Prozess, die »Geburt« , zwei ganz unterschiedliche Personen hervorgebracht, zwei Facetten der Persönlichkeit Laryas. Inwieweit war sie also wirklich eine ganze Person und nicht nur ein Teil einer früheren? Und obwohl sie darüber froh war, dass zwei Frauen aus dem Ritual geboren wurden, fragte sie sich, ob auch dieser Umstand nur Zufall war. Welche Ursachen führten zu welchen Ergebnissen?

      Angesichts solcher Paradoxien und unerklärlicher Vorgänge begann Yaras analytischer Verstand sich im Kreise zu drehen. Sie wusste, dass das mysteriöse Ritual der Selbst-Duplizierung erklärbar war, nur dass diese Erklärung für ihre rationalen Gedankengänge nicht fassbar war.

      Der Anstoß zu ihrer selbst gewählten Aufgabe als Chronistin stammte im Übrigen gerade von diesem geheimnisvollen Brauch. Sie hatte herausfinden wollen, welchen Sinn dieser Ritus einmal für den Stamm gehabt hatte. In der Gegenwart war er zu einem selten benutzten rituellen Experiment verkommen. Dazu hatte sie sich sowohl in die schriftliche als auch die mündliche Überlieferung der Stammesgeschichte vertieft, aber die Quellen waren so alt, dass sie bisher nichts und niemanden gefunden hatte, der ihr in dieser Hinsicht weiterhelfen konnte. Alles, was sie zutage gefördert hatte, war ein Sammelsurium an widersprüchlichen mystisch-verklärten Geschichten. Es war unmöglich festzustellen, welche realen Tatbestände sich darin verbargen.

      Im Verlauf dieser Arbeit hatte sie gemerkt, wie sehr es sie faszinierte, historischen Zusammenhängen auf die Spur zu kommen, fast Vergessenes auszugraben, Theorien über bestimmte Abschnitte der Stammesgeschichte aufzustellen und alles niederzuschreiben, um es für andere ebenfalls zugänglich zu machen. dass bisher kein fortlaufendes Geschichtswerk existierte, machte ihre Aufgabe nur umso interessanter.

      Bald musste sie feststellen, dass es nicht genügte, die Geschichte des eienen Stammes zu erforschen. Überall ergaben sich Verbindungen zu anderen Völkern, Stämmen oder einzelnen Personen, die auf die eine oder andere Weise Einfluss auf die Entwicklung des Stammes genommen hatten. Die Geschichte des Stammes erweiterte sich so langsam zu einer Geschichte des Landes und des Kontinents, ja sie streckte sogar ihre Fühler aus in weltgeschichtliche Zusammenhänge.

      Manchmal schwindelte ihr angesichts der Fülle des Materials, der unlösbar erscheinenden Aufgabe, eine stimmige historische Abhandlung anzufertigen. An vielen Stellen klafften große Lücken, und wo die einen gestopft wurden, tauchten andere auf. Es war für eine Person einfach nicht möglich, diesem Anspruch gerecht zu werden. Ihre Reichweite war begrenzt und damit auch die Menge und die Art des Materials, das sie zu sehen bekam, und auch die Personen, mit denen sie sich unterhalten konnte.

      So hieß es, dass in den Küstenstädten, besonders in Milnewor, Hunderte von Büchern gesammelt waren, die sich ausschließlich mit der Vergangenheit des Planeten Erde beschäftigten. Und so war es seit dieser Zeit ihr sehnlichster Wunsch, einmal in ihrem Leben eine dieser »Bibliotheken« besuchen zu können. Aber die Küstenstädte waren tabu. Es hieß, frau würde dort wahnsinnig, ein Betreten dieser Lebensgemeinschaften wäre für Stammes-Angehörige nicht zu ertragen.

      Berichte aus anderen Kontinenten stellten dies in Frage, doch dort hatte anscheinend auch kein so radikaler Bruch zwischen Stadt- und Landbevölkerung stattgefunden wie hier. Aber einmal einen anderen Kontinent zu erreichen, war ein noch unwahrscheinlicheres Ereignis als das Aufsuchen einer Bücherei.

      Trotzdem träumte Yara oft von diesen Möglichkeiten, und ihre Wünsche konnten nicht gänzlich unerfüllbar sein. Schließlich war sie ein Mensch, und Menschen war es möglich, in Städten zu leben oder Schiffe und Flugmaschinen zu benutzen. Sie musste nur einen Weg finden und den Mut, sich von überholten Gewohnheiten und Gebräuchen des Stammes zu lösen.

      Doch im Moment sah die Wirklichkeit anders aus. Mit dem Hereinbrechen der düsteren Visionen war der Weg zu ihren Träumen vorerst abgeschnitten.

      Ihre Geschichtsforschung und die Sehnsucht nach einem freieren Leben hatten diesem Ritt ins Unbekannte weichen müssen.

      Fioras Rufe schreckten sie aus ihrer Versunkenheit. Laura brummte unwirsch und drehte sich auf die andere Seite. Minutenlang hatte Yara ihre Tochter völlig vergessen, die nun umso heftiger ihre Aufmerksamkeit forderte.

      Fiora gehörte nicht zu den Kindern, die dauernd beobachtet oder unter Aufsicht gestellt werden mussten. Yara war von Anfang an darauf bedacht gewesen, ihre Tochter möglichst selbstständig aufwachsen zu lassen, ohne ihr die Liebe und Geborgenheit, die sie ihr geben konnte, zu verweigern. Die momentane Situation erforderte natürlich, dass sie sich intensiver um sie kümmerte. Schließlich war außer Laura sonst niemand in der Nähe, an die sich das Mädchen wenden konnte. Yara hätte sich zwar am liebsten neben Laura zum Schlafen ausgestreckt, aber solange Fiora so munter war, konnte sie diesem Impuls nicht nachgeben. Fioras ungezügelte Energie war ihr manchmal direkt unheimlich. Das Mädchen strahlte dann eine Stärke aus, die andere Menschen regelrecht in ihren Bann zog. Die Unwegsamkeit des Geländes erforderte hier aber zumindest die Aufsicht einer Person.

      Yara ermahnte das Kind, mit ihrem Geschrei Laura nicht zu wecken und ging dann hinunter zum Rand des Tümpels. Dort trocknete sie Fiora ab, die, noch während sie sich anzog, begann von ihrer Phantasiewelt zu plappern, die jetzt aus Sand, Wasser und Steinen bestand und in der sich die merkwürdigsten Lebewesen tummelten. Yara ergänzte diese Phantasiegeschichten hier und da, und bald waren beide im Märchenland versunken.

      Irgendwann hörte Yara ein Plätschern in der Nähe. Laura war aufgestanden und wusch sich ausgiebig.

      »Das könnte uns auch nicht schaden, was meinst du, Fiora?«

      Doch die war schon zu anderen Spielen übergegangen, das Wasser hatte seinen anfänglichen Reiz verloren. Sie tat, als hörte sie die Worte ihrer Mutter nicht. Nachdem Yara sie mehrmals angesprochen hatte und keine Reaktion erhielt, spürte sie den Ärger in ihr emporsteigen, den sie aus ähnlichen Situationen kannte. Wenn Fiora nicht hören wollte, gab es kaum eine Möglichkeit, das zu ändern. Es half auch nichts, wütend zu werden, Fiora kapselte sich in solchen Fällen regelrecht ab. So schön auch ihre gemeinsamen Momente waren, so konnte Fiora sie andererseits mit dieser Nichtbeachtung zur Verzweiflung bringen.

      Mit einem Fluch auf den Lippen sprang sie Laura hinterher, die inzwischen in der Mitte des Tümpels herumplanschte. Sie bewunderte die Figur ihrer Selbst-Schwester, auf deren Schlankheit und kraftvolle Bewegungen sie immer etwas neidisch war, und fing an, ihre langen blonden Haare zu waschen.

      Später, als es zu dämmern begann, saßen sie alle drei um ein kleines Feuer und aßen von dem, was Yara gekocht hatte. Eigentlich ein Tag, mit dem sie zufrieden sein konnten, aber Yara spürte, dass dieses Wohlbefinden nur an der Oberfläche schwamm. Dem Ziel ihrer Suche waren sie keinen Schritt näher gekommen.

      Schließlich, als selbst Fioras Energie zur Neige gegangen und sie von einer Minute zur anderen eingeschlafen war, waren die beiden Frauen unter sich, und Yara erkannte Lauras zweites Gesicht, die herabhängenden Mundwinkel, die Hände, die fahrig über den Boden wanderten und die grimmig ins Feuer starrenden Augen.

      Sie bereitete sich auf eine Auseinandersetzung vor, der auch sie nicht aus dem Weg gehen wollte, denn in der Unzufriedenheit mit dem Ablauf ihrer Reise stand Laura nicht allein.

      »Es kann nicht so weitergehen,« stieß ihre Selbst-Schwester endlich hervor. Der Schein des Feuers ließ ihr Gesicht glühen. »Wir tappen herum wie in einem Labyrinth, von dem wir noch nicht einmal wissen, ob es einen Ausgang oder einen Endpunkt hat. Es hat absolut keinen Sinn, wie bisher auf Glück vertrauend nur der Himmelsrichtung

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