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kann überall sein, und es wäre ein ungeheurer Zufall, würde ich es entdecken. Ebenso gut ist es möglich, dass wir es übersehen haben und es bereits hinter uns liegt. Du musst dich einfach erinnern, Yara, ob du nicht doch von irgendwelchen Hinweisen gelesen oder gehört hast. Zumindest die Art oder Form des Orakels müsste doch irgendwo erwähnt sein!«

      Ihre Stimme brach tief aus ihrem Inneren hervor und brachte Verzweiflung und Resignation zum Ausdruck. Yara konnte ihr keinen Trost geben.

      »Es existieren keinerlei Hinweise, und ich bin sicher, dass ich nichts übersehen habe. Wir waren uns von vornherein darin einig, dass die Suche ziemlich aussichtslos ist und trotzdem haben wir uns dafür entschieden, weil uns nichts besseres einfiel.«

      »Dann haben wir eben einen Fehler gemacht. Geben wir es zu und kehren wir um. Wenn wir weitermachen wie bisher, kommen wir keinen Schritt voran und tun in Wirklichkeit nichts dazu, um das Unheil anzuwenden. Wir machen uns nur etwas vor, indem wir glauben, wir unternähmen etwas. Da dieses Unternehmen aber von vornherein sinnlos war, diente es nur dazu, unsere Hilflosigkeit zu überdecken.«

      »Das stimmt so nicht,« protestierte Yara. »Wir kannten die geringen Chancen und hatten trotzdem Vertrauen, etwas zu erreichen. Ich gebe zu, diese Hoffnung ist bei mir ebenfalls zurückgegangen. Doch welche Alternative bleibt uns? Meinst du wirklich, wir können einfach umkehren? Zurück zum Stamm, der froh war, uns loszuwerden, von dessen Leben wir uns so weit entfernt haben?«

      »Ach, ich weiß nicht. Du findest für alles schöne Worte, und die helfen uns bestimmt nicht weiter. Spürst du nicht auch, dass das bedrückende Gefühl, der unheilverkündende Einfluss noch stärker geworden ist, noch bedrohlicher?«

      Yara rückte etwas näher an ihre Selbst-Schwester heran.

      »Ja, natürlich. Aber warum spüren es andere nicht? Es fühlt sich an wie etwas unsagbar Fremdes, etwas, das nicht in diese Welt gehört - oder nicht in diese Zeit. Manchmal überfallen mich Visionen von grauen Gesichtern und runzligen Händen, die sich aus der Vergangenheit in unsere Gegenwart strecken, als wollten Töte ihre Gräber verlassen und längst vergangene Zeiten heraufbeschwören.«

      Laura zuckte zusammen, ihr Gesicht hatte einen starren Ausdruck angenommen.

      »Dann begegnen sie dir also auch, diese Alpträume. Schreckensbilder, alt und brüchig, denen von irgendwoher neues Leben eingehaucht wird. Was ist das, das uns aus der Vergangenheit einzuholen versucht und Schrecken verbreitet, die unsere Welt längst überwunden hat?«

      »Hat sie das?« flüsterte Yara. »Hat sie das wirklich? Ist die Erde so gut und friedlich, weil wir alles Böse aus ihr verbannt haben? Oder war es vielleicht ein Fehler, das Böse zu vertreiben, weil es zum Guten gehört wie der Schatten zum Licht? Nein, ich glaube, wir haben es nur vergessen, beiseite gelegt, und genau darauf hat es gewartet, denn das gab ihm Zeit, seine Kräfte zu sammeln und wachsen zu lassen. Und es wächst sowohl außerhalb von uns als auch in uns selbst. Wenn wir es erkennen könnten, könnten wir es bekämpfen, es sei denn, es ist dann schon zu spät. Doch an der Erkenntnis hindert uns der Mangel an Erfahrung, der Schlaf des Vergessens hat uns eingelullt.

      Schließlich war die Erde nicht immer so, wie sie sich uns heute darstellt mit ihren unzähligen Lebensgemeinschaften, die miteinander Ideen austauschen und nebeneinander existieren können. Aber das ist nur ein Trugbild. Aus dem Nebeneinander ist ein Für-sich-selbst geworden, wie schnell kann ein Gegeneinander daraus erwachsen. Wir haben uns um niemand anders mehr gekümmert, und jetzt kümmert sich etwas um uns. Wir waren zu selbstzufrieden, jahrelang, vielleicht jahrzehntelang, haben nur das Wohl des Stammes im Auge gehabt, nichts anderes hat uns interessiert. Und was ist aus dem Stamm geworden?«

      »Aber es ist undenkbar, dass sich die Zeiten wiedeholen. Die Vergangenheit ist vorüber, sie kann nicht wieder entstehen.«

      »Warum nicht? Geschichte ist kein feststehender Ablauf von Ereignissen von primitiver Barbarei zum friedlichen Paradies, wie viele das zu glauben scheinen. Viele meinen sogar, das Patriarchat gehöre der Vergangenheit an, obwohl es genügend Gegenbeispiele in der heutigen Zeit gibt.

      Diese Leute kennen nur Gerüchte über die schreckliche Vergangenheit dieses Planeten, die ihnen wie Märchen vorkommen, und sind der Meinung, dass zumindest die Stammes-Verbände hier das Paradies schon erreicht haben. Sie können sich nicht vorstellen, dass der jetzige Zustand nicht von Ewigkeitsdauer ist. Geschichte verläuft nicht linear oder ist gar statisch. Niemand bezweifelt, dass der Stamm es in den letzten Jahrzehnten geschafft hat, Hunger, Not, Mangel und Entbehrungen so gut wie zu beseitigen. Doch wer macht sich die Mühe zu überlegen, wie das zustande gekommen ist? Die Gegenwart ist kein naturgegebener Zustand. Der Stamm steht nicht isoliert in der Welt, und die augenblickliche, für manche zufriedenstellende Situation kann nur im Zusammenhang mit den Zuständen auf der Erde allgemein verstanden werden. Und dieser Zustand ist labil. Er kann sich jederzeit ändern - irgendwo. Und diese Änderung kann Einfluss auf den Stamm haben. Eine Veränderung wird den Stamm unvorbereitet treffen, wenn er sich - genauso wie die anderen Stämme - von der übrigen Welt abkapselt und so tut, als ginge sie ihn nichts an.

      Es gibt eine Menge Gefahren, für die wir anfällig sind - vielleicht sogar jetzt mehr als noch vor einigen Jahren. Es hat zu allen Zeiten verschiedene Lebensformen der Menschen gegeben, und die meisten beruhten darauf, dass einige wenige Menschen die Macht besaßen, alle anderen zu unterdrücken. Für uns heute ein unvorstellbarer Gedanke, da wir die Welt als gerecht, friedlich und harmonisch erleben. Aber es ist wahr. Und es erhebt sich die Frage, ob die Erde heute, wo die wenigsten über den Horizont ihrer Lebensgemeinschaft hinausblicken, sich wirklich in so einem harmonischen Zustand befindet. Herrschen dort draußen auf den anderen Kontinenten, in den entlegenen Gebieten dieses Landes, in den Städten und Dörfern der übrigen Lebensgemeinschaften vielleicht doch Kriege, Unterdrückung, Ausbeutung, Leid und Elend? Und begibt sich unser Stamm nicht auch wieder auf einen solchen Weg? Haben wir Ausgrenzung und Abwertung nicht am eigenen Leib erfahren? Auf der Erde haben sich immer Perioden, die gekennzeichnet waren von Gewalt und Grausamkeit abgewechselt mit Zeiten relativen Friedens. Es gab Matriarchate und Patriarchate, große Umwälzungen, Revolutionen und weltweite Katastrophen, und wir verschließen die Augen davor und glauben, sie könnten sich nicht wiederholen. Dabei überwiegen die Zeiten des Elends bei weitem die kurzen Atempausen harmonischer Dekaden.«

      »Du hättest Volksrednerin werden sollen,« unterbrach Laura ihren Redefluss. »Du sollst mir keine Vorlesungen halten über Geschichte, wie du sie verstehst. Deine Wortgewandtheit übertrifft zudem deine Kenntnisse. Ich kann dir nicht widersprechen, da ich mich auf diesem Gebiet nicht auskenne, aber mein eigener Titel als Wächterin erinnert mich ständig an unsere wenig glorreiche Vergangenheit. Und auch wenn du es nicht hören willst so wie der Stamm mit den Männern umgeht, das ist auch eine Art von Unterdrückung und Freiheitsberaubung. Ich weiß, dass die überall gepredigte Harmonie auch dazu dient, Mängel und Fehler zu verschleiern. Aber all das nützt uns doch im Moment nichts, diese Einsichten helfen uns nicht weiter.«

      »Das bestreite ich,« widersprach Yara vehement. »Wenn wir wüssten, weshalb unser Stamm so lebt, wie er jetzt lebt, warum dieser Kontinent so entvölkert ist, warum wir die Technik verbannt haben und was es mit den beiden Katastrophen, der atomaren und der Dimensions-Katastrophe, auf sich hat, dann könnten wir vielleicht der wahren Natur unserer Ahnungen und Visionen auf die Spur kommen und den Lauf der Dinge aufhalten!«

      »Wir beide? Yara, du machst dich lächerlich. Du hast dich in dein Spezialgebiet verrannt, deine Chronistin-Manie geht mir auf die Nerven! Und ich sage dir hiermit, wenn wir morgen nicht einen Weg finden, der uns eventuell doch noch zu einem Erfolg verhelfen könnte, dann kehre ich um.«

      Yara hatte eine scharfe Antwort auf den Lippen, aber Laura hatte sich abgewandt, und sie schluckte die Worte hinunter. Die Wächterin würde in diesem Zustand vernünftigen Argumenten nicht zugänglich sein. Und vielleicht hatte sie sich wirklich in ihr Lieblingsthema verrannt und war über das Ziel hinausgeschossen. Belehrungen dieser Art waren das Letzte, was Laura in ihrer Stimmung vertragen konnte. Ihr typischer Ausbruch kam deshalb nicht ganz unerwartet.

      Yaras Zorn verlor rasch an Intensität. Manchmal schien die Kommunikation zwischen ihr und ihrer Selbst-Schwester so erschwert, dass sie vollkommen aneinander vorbeiredeten.

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