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lange nicht mehr bei uns auf.

      Sulma schloss ihr Medizinstudium ab, dann hielt sie nichts mehr in der Seestraße. Schon das AiP, jene seltsame Konstruktion, mit der fertig ausgebildete Ärzte nach absolviertem Studium noch anderthalb Jahre zwangsweise mit Azubi-Löhnen abgespeist werden, verbrachte sie lieber in der Schweiz, wo man dafür ordentlich bezahlt wird. Sie kam nie wieder zurück, sie hat inzwischen längst eine Stelle als leitende Ärztin in einem großen Krankenhaus in Bern. Ihr Name steht noch an meiner Tür, gelegentlich trudelt ein Brief für sie ein, den ich weiterleite, und einmal tauchte Mahmud noch bei mir auf und brachte Börek, das seine Frau selbst gemacht hatte, einfach so, aus Freundlichkeit – das war’s. Seitdem beschränkt sich mein Migrationshintergrund im Wesentlichen wieder auf die Dönerläden und Gemüseläden aus der Nachbarschaft und die Jugendgangs, denen ich ausweiche.

      Als ich neulich mit Sulma telefonierte, war sie außer sich: Diese Wahnsinnigen würden behaupten, die Deutschen nähmen den Schweizern die Arbeitsplätze weg und würden sich nicht richtig integrieren. Und sollten gefälligst Schweizerdeutsch lernen. Schweizerdeutsch! Wozu, um Himmels Willen? Sie komme auch so bestens zurecht! Ich mache mir ja keine Vorstellungen, wie seltsam die manchmal seien, diese Schweizer, da wolle sie sich wirklich nicht weiter integrieren. Erst recht nicht, wenn sie davon einen wunden Hals bekäme. Sie schimpfte noch eine Weile weiter, dann verabschiedeten wir uns. Nachdenklich legte ich auf.

      Meine Wohngemeinschaft

      Seltsam, denke ich, während ich versonnen in meiner Müsli-Schüssel herumrühre, die Rosinen sind aber klein. Und seit wann schwimmen die überhaupt in Milch? Na ja, früher war eben alles besser. Selbst die Rosinen. Für solche krumpeligen Dinger hätte man sicher nicht extra eine Luftbrücke einrichten müssen. Da hätten die Berliner den Alliierten aber schön was erzählt: »Ey, was solln ditte, die sind ja voll mickrig, wa, die nehmt ma schön wieder mit nach Westdeutschland, die Dinger, dit wolln wa nich ma jebombt ham, wa!« Ich führe den Löffel zum Mund, um die hässlichen schwarzen Trockenfrüchte einer Geschmacksprobe zu unterziehen. Schmecken irgendwie auch gar nicht richtig nach Rosinen. Schmecken eher – schwer zu sagen. Ich betrachte die Müsli-Packung. Wieso sieht die eigentlich so zerrupft aus?, grübele ich, während ich weiter intensiv kostend die seltsamen Kügelchen mit der Zunge am Gaumendach zerdrücke. Ziemlich zerfleddert sogar, und drumherum liegen auch ganz viele von diesen Mini-Rosinen. Zerfleddert? Eher – angenagt. Angestrengt starre ich auf die schadhafte Schachtel, die kleinen schwarzen Teile daneben, werte wie ein Wein­tester bedächtig kostend, schmatzend und schmeckend die Signale aus der Mundhöhle aus – och Mönsch, nee. Das sind ja Mäuseküddel!

      Jetzt bloß nicht überreagieren. Das ist doch gar nichts Besonderes. Kein Grund zur Panik. Gut, ich habe den Mund halt voll ... voll Mäusescheiße. Na und? Das ist ... das macht doch ... das sind doch auch nur Kohlenstoffketten. Ganz ruhig bleiben. Ganz langsam zum Waschbecken gehen, nicht die Beherrschung verlieren, ganz ... BOAH!

      Als ich eine halbe Stunde später aus dem Bad zurückkomme, weil die Zahnpastatube leer ist, beginne ich, schonungslos die Lage zu analysieren. Eine Maus. In meiner Wohnung. Vielleicht sollte ich doch mal aufräumen.

      Nach einer Woche ist die Maus immer noch da, trotz regelmäßiger mahnender Ansprachen meinerseits. Genau genommen: Offenbar ist sie inzwischen zu dem Schluss gekommen, dass ich keine ernst zu nehmende Bedrohung für sie darstelle. Davon hat sie dann gleich all ihren Kumpels berichtet, und allmählich beginnt die Sache, mich ernsthaft zu nerven. Völlig schamlos huschen die Viecher durch meine Wohnung, selbst am helllichten Tag. Abends hat mir sogar eine Maus an der großen Zehe herumgeschnuppert, während ich am Schreibtisch saß. Die wissen, dass sie schneller sind, und verhöhnen mich. Außerdem: Selbst wenn ich sie erwischen würde – die Op­tion, sie mit dem Telefonbuch auf dem Teppich zu zerquetschen, behagt mir auch nicht. Ich beschließe, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen.

      In den Geschäften auf der Müllerstraße stoße ich auf mitleidloses Entsetzen: »Mäuse?«, starren mich die Verkäuferinnen im Karstadt Leopoldplatz an. Sie scheinen dieses Problem für vollkommen abwegig zu halten, irgendwas von ganz früher, von dem man mal gehört hat, oder was es nur noch in diesen merkwürdigen History-Reality-Shows im Fernsehen gibt, Das Blockhaus von 1907, und nach drei Wochen hat der Regisseur noch ein paar Mäuse ausgesetzt, damit es auch richtig authentisch wird. Ebenso gut hätte ich auch in der Apotheke Tabletten gegen Pest verlangen oder sagen können, dass bei mir im Hinterhof Wölfe lauern. Offenbar bin ich der einzige Mensch im Wedding, der Mäuse hat. Das widerspricht allerdings jeder Alltagserfahrung. Na ja, vielleicht bin ich auch nur der Einzige, der Mäuse hat, und keine Ratten. Wahrscheinlich, geht es mir durch den Kopf, bin ich einfach nur der Einzige, der ein Problem damit hat, dass er Mäuse hat. Den anderen ist es wahrscheinlich vollkommen egal. Die ganzen Hartz-IVler mögen es bestimmt, wenn sie ein bisschen Gesellschaft haben. Und endlich mal Rosinen im Müsli. Und die anderen legen vermutlich einfach ihre Wumme auf die Viecher an und freuen sich, dass sie jetzt auf bewegliche Ziele schießen können. Da haben sie auch gleich was Sinnvolles zu tun. Das ist ja das ganz große Ding derzeit. Hauptsache, man hat was Sinnvolles zu tun. Dann zündet man auch keine Autos an. Im Fernsehen gibt es jetzt regelmäßig tolle Reportagen über junge Menschen in der Großstadt, die einmal in der Woche irgendwo Fußball spielen, was sie offenbar so erschöpft, dass sie den Rest der Woche zu schwach sind, irgendwo rumzuzündeln. Vor lauter Muskelkater können die bestimmt auch gar nicht ordentlich vor der Polizei weglaufen und bleiben dann nachts lieber zu Hause. Deswegen fordert jede dieser Reportagen mehr Fußball, mehr Tanzen, mehr Rappen, egal, Hauptsache, man hat was Sinnvolles zu tun. Und dass dann der nächste telegene Schritt direkt zu uns führt, war mir sofort klar. Wenn es irgendwo in Europa Unruhen gibt, in die auch nur ein Migrant verwickelt ist, beispielsweise die immer mal wieder aufflackernden Krawalle in den Vorstädten von Paris oder Rotterdam, dann tauchen sie sofort hier auf. Schön, da braucht man gar nicht bis zum nächsten Berlin-Tatort zu warten, um mal wieder was von der Stadt zu sehen. Ich gehe dann gerne rüber zum Arabischen Club: »Leute, macht die Nachrichten an, wir kommen heute im Fernsehen!« Erwartungsvoll scharen wir uns um den Apparat, dafür wird sogar Al-Dschasira unterbrochen. Fieberhaft warten wir auf heute. »Brennende Autos in Paris – kann das nicht auch bei uns passieren?«, fragt Steffen Seibert und guckt sehr sorgenvoll, »auch bei uns gibt es schließlich problematische Viertel, wo Menschen ohne Perspektive ...« Bingo! Wusst’ ich’s doch. Ich setze auf Leopoldplatz, Tariq auf den Soldiner Kiez. »Hugo Balderwin mit einer Reportage aus Berlin-Kreuzberg.« Was für eine Enttäuschung. Von den Gästen ist ein unzufriedenes Knurren zu hören. Wir warten auf die Tagesschau. Diesmal ist es Neukölln. Pfiffe im Lokal. Verärgert gehen wir nach Hause.

      Am nächsten Abend haben wir mehr Glück. Gleich als zweiter Bericht in heute: der Wedding – endlich! Beifall brandet auf im Innenhof. »Erwin, kiek ma, wir sind inner Glotze!«, höre ich Frau Kaloppke noch durchs Fenster nach ihrem Mann rufen. Tanzende türkische Jugendliche am Nauener Platz. In akzentfreiem Deutsch sagen sie in die Kamera Sachen wie: »Wenn ich mich nach der Schule mal so richtig gestresst fühle, dann komme ich hierher und tanze. Das ist gut gegen meine Aggressionen und verhindert sozial geächtete Übersprungshandlungen. Danach bin ich dann wieder sehr ausgeglichen.« Schnitt. Ein paar Häuserfronten aus der Seestraße, und der Sprecher raunt: »Auch hier brodelt die gefährliche Mischung aus Perspektivlosigkeit, fehlenden Jobs und mangelnder Integration. Doch wenigstens solche Projekte geben den Jugendlichen eine sinnvolle Beschäftigung.«

      Apropos sinnvolle Beschäftigung, da läuft schon wieder so eine Maus mitten durch das Zimmer. Verdammt. Auf jeden Fall scheint der Weddinger sein Mäuse-Problem selbstständig zu lösen, ohne dafür Geld auszugeben. In keinem einzigen Geschäft gibt es Mausefallen zu kaufen. Ich muss tatsächlich bis zu einem Baumarkt nach Reinickendorf fahren, um endlich Hilfe zu finden. Man bietet mir verschiedene Sorten Gift an. Die Variante gefällt mir allerdings auch nicht so recht. Wenn ein Dutzend Mäuse – auf diese Zahl schätze ich meine Popula­tion inzwischen – sich nach dem Genuss der Köder hinter irgendwelche Schränke zurückzieht, um sich würdevoll dort hinzusetzen, eine letzte Zigarette anzuzünden und zu sterben wie eine Maus – das riecht doch sicher. Andererseits bietet der Baumarkt praktischerweise auch gleich ein größeres Repertoire gegen Fliegen an. Trotzdem: lieber nicht. Bleibt also die Mausefalle, in den Varianten

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