Скачать книгу

des Kunstdarms heraus, wenn man oben mal ordentlich draufdrückt. Männer daneben sind mit ausgefransten Ledermatten behangen und gucken durch die vom U-Bahn-Schacht-Abwind lustig hin und her spielenden Zotteln ihrer Cowboyhüte in die Gegend, während andere so wirken, als seien sie ausgebrochene Exponate eines ZZ-Top-Museums. Migrationshintergründische Jugendgangs tragen bizarre Kopfrasuren zur Schau, blenden den Betrachter mit einem Weiß, bei dem sich die gute alte Tante Clementine schamhaft in ihre Waschküche verkrochen hätte, oder stopfen sich in seltsam aufgeplusterte Jacken, die sie von Weitem aussehen lassen, als würde sich das Michelin-Männchen mit seinen Kumpels zum Plausch treffen. Ältere deutsche Herren sind so zurechtgemacht, als wären sie GIs, die gerade aus dem Irak zurückkehren, und ältere türkische Herren laufen in maßgeschneiderten Anzügen zum Jobcenter, als müssten sie danach noch die Übernahme eines DAX-Konzerns unter Dach und Fach bringen. Ein Mann läuft hier sogar seit Jahren wie Friedrich der Große herum, im vollen preußisch-blauen Wichs, aufwändig geschminkt, mit Dauerwellen-Perücke.

      Niemand hat diese Menschen gezwungen, so nach drau­ßen zu gehen. Im Gegenteil: Dem nackten Entsetzen zum Trotz, das ihnen im Rest der Stadt entgegenschlagen würde – sie haben Aufwand und Mühe in Kauf genommen, sich so zurechtzumachen. Viele der Frauen mussten erhebliche körperliche Anstrengungen auf sich nehmen, um den glitzernden Synthetik-Stoff über die Beine zu bekommen, Präzisionsarbeit war erforderlich, um die Hosennaht so exakt zwischen die Schamlippen zu drapieren. Die Islamerjungs bringen ohne Zweifel viele Stunden in der Woche damit zu, mehrmals am Tag ihre Klamotten zu wechseln, damit sie immer im strahlenden Weiß leuchten, ganz zu schweigen von all den Goldkettchen, die abends ordentlich abgelegt und morgens in der richtigen Reihenfolge wieder installiert werden müssen, ohne dass sie sich verheddern.

      Kurzum: Es ist der freie Wille all dieser Menschen, so herumzulaufen, es steckt oft viel Liebe zum Detail dahinter, ja, sie mögen das, warum auch immer.

      Und dazwischen bewegen sich noch all diejenigen, denen alles egal ist. Die halt mit dem vor die Tür gehen, was gerade dran ist, im Unterhemd, in der Jogginghose, in Textilien, für die ich gar kein passendes Vokabular kenne.

      Es ist ihnen wurscht, was andere davon halten, und, das ist das Tolle, den anderen ist es auch völlig wurscht, was die so tragen. Mögen die Hintergründe, die die Menschen hier zu dieser entspannten Einstellung gebracht haben, auch fragwürdig sein – ist es im Ergebnis denn nicht eine wunderbare Vision? Gibt uns der Wedding nicht eine kleine Vorstellung davon, wie eine bessere Welt aussehen könnte? Sicherlich, keine schönere – aber eben eine bessere?

      Angela Merkel, vermutlich wissen Sie gar nichts von diesem Viertel, das nur ein paar Minuten von ihrem Wohnsitz und Arbeitsplatz entfernt ist. Kommen Sie doch mal vorbei. Sie können getrost Ihre Bodyguards zu Hause lassen, hier erkennt Sie ohnehin niemand. Freien Wohnraum gibt es genug, Sie könnten einfach einziehen, entspannt hier leben und ausgehen, ganz wie Sie mögen. Mit Ihrer berühmten Topffrisur, die so vielen drittklassigen Kabarettisten und Satirikern lange Jahre Inhalts- und Brotlieferant Nr. 1 war, Sie müssten nicht mehr diesen aufdringlichen, schmierigen, promigeilen Haarschnitzer an sich heranlassen, denn hier gibt es an jeder Ecke ein »cut & go« für nur 10 Euro, und wenn Sie wirklich mögen, könnten Sie Ausschnitt bis zum Bauchnabel zeigen, oder gleich am Plötzensee nackt baden, so wie damals, in Ihrer Uckermark. Sie könnten in dem Abendkleid, das Sie bei dieser Oper in Oslo trugen und das wochenlang die Medien der Republik beschäftigte, beim Imbiss zur Mittelpromenade in der Schlange stehen oder sich beim Lidl ins Dekolleté filmen lassen – niemand würde auch nur aufmerken.

      Liebe Frau Merkel, ich weiß, das ist nur eine Idee, ein Hirngespinst. Aber kleiden und frisieren Sie sich doch weiterhin bitte so, wie Sie es mögen, und ignorieren Sie im Rahmen Ihrer Möglichkeiten das Geraune und Gejohle drum herum. Und wenn Sie dann wirklich mal kurz eine kurze Verschnaufpause brauchen von diesen lächerlichen Debatten, den hochnotpeinlichen Kommentaren, den voyeuristischen Wichtigtuern, kurzum: diesen ganzen Vollspacken der Regenbogenpresse von Spiegel bis Bild, dann schmeißen Sie sich einfach Ihr liebstes Abendkleid über oder Ihren bequemsten Bademantel, ziehen Sie sich hochhackige Lederstiefel bis zum Arsch an oder Ihre Adiletten, und kommen Sie zu uns gefahren, es sind bis zum U-Bahnhof Seestraße nur sechs Stationen mit der U6, das ist diese Linie in der Farbe Ihres Oslo-Kleides, und dann trinken Sie hier einen Kaffee oder essen einen Döner, ganz wie Sie wollen – es interessiert hier keine Sau.

      Herzliche Grüße,

      Ihr

      Heiko Werning

      200 Wochen Hinterhaus, 3. Stock

      1. Woche

      Die Menschen, die heute durch den Innenhof laufen, sehen so derart normal aus, dass mir gleich klar ist: Die sind nicht von hier. Zwei ganz gewöhnliche Männer Mitte 40, wie aus einer ZDF-Familienserie. Keine Ausländer, keine vom Alkohol ausgezehrten Gesichter und Gliedmaßen, keine Haare bis auf die Schultern, keine flächenfüllenden Tattoos auf den Armen, nirgends Metall – so was haben wir hier sonst nicht. Misstrauisch schauen die Nachbarn aus den Fenstern.

      Dann betritt das junge Paar die Szene. Ein bisschen flippig gekleidet, so wie junge Paare in der Fernsehwerbung immer aussehen, so, wie sich Werbeagenturen und Werbegucker ein bisschen flippige Adoleszenten halt vor­stellen, mit dem am Körper, was H&M für ein bisschen flippige Adoleszenten auf der Stange hat – so was haben wir hier eigentlich auch nicht.

      Der Fall ist klar: Westdeutsche ziehen ein.

      Und tatsächlich: Nach ein paar Minuten gehen sie wieder durch den Hof zur Straße, um bald darauf mit Kisten und Gerät wieder- und wiederzukehren. Das junge Paar zieht in unser Haus, und die Väter helfen beim Einzug. Was die wohl in den Wedding getrieben hat? Wahrscheinlich diese eigenartige Verwaltungsreform, in deren Folge die ehemaligen Bezirke Wedding, Tiergarten und Mitte zu einem neuen, großen, gemeinsamen Bezirk Mitte zusammengefasst wurden. Seither kann jeder Makler den Provinzdeppen selbst den Leopoldplatz als Berlin-Mitte verkaufen, und die Zugezogenen halten die Zwitscherklause für ein abgefahrenes In-Lokal im Retro-Design.

      Wie dem auch sei, die beiden Männer wirken doch manchmal leicht verunsichert, wenn sie auf den bröselnden Putz im Treppenhaus blicken oder auf das Graffiti, auf das kleine Elektroschrottlager neben den Mülltonnen oder die großteils mit Paketband zugeklebten Briefkästen. Einer davon gehört jetzt ihren Kindern. Mit dem Teppichmesser schneiden sie ihn frei. Die Werbezettelausträger werden sich freuen.

      Die Väter bleiben das Wochenende über, man hört es bohren und sägen und schleifen aus den Fenstern im dritten Stock.

      Die Hausgemeinschaft ist skeptisch. Wie lange die es wohl aushalten hier? Aber wir wissen noch zu wenig, um begründete Schätzungen abgeben zu können. Da bleiben nur die Erfahrungswerte mit den Vorgängern. Akshat, unser Hausmeister, und ich einigen uns auf fünf Monate, danach Umzug nach Prenzlauer Berg.

      6. Woche

      Das junge Paar schlägt sich tapfer. Es trägt Getränkekisten nach oben, Tannenzäpfle-Pils, Weinflaschen, sogar diese kleinen grünen Fruchtsaftkisten. Es kommt mit Reichelt-Tüten heim. Mal lugen Lauchstangen heraus, mal liegen Salatköpfe obenauf. Sie haben so ein lustiges braunes Biomülleimerchen, mit dem sie zum lustigen großen Biomülleimer gehen, wo sie dann ihre Kaffeefilter und Kartoffelschalen auf die darin liegenden Plastiktüten voll Hausmüll kippen.

      Ich werde ganz nostalgisch. Ich war ja auch mal jung. Ich habe auch mal Müll getrennt. Habe auch mal Fruchtsaftkisten getragen. Fast gerührt blicke ich den beiden nach, wie sie im Hauseingang verschwinden.

      8. Woche

      Als ich nachts aufwache und in die Küche gehe, um etwas zu trinken, sehe ich durch das Fenster, wie sie im Morgengrauen durch den Hof nach draußen entschwinden. Richtung Uni. Zur Acht-Uhr-Vorlesung. Schaudernd lege ich mich wieder schlafen.

      14. Woche

      Im Treppenhaus hängt ein Zettel. In schöner, großer Mädchenhandschrift steht da: »Liebe Nachbarn! Wir feiern am Samstag unseren Umzug nach Berlin mit einer großen Einweihungsparty. Dazu sind Sie alle herzlich eingeladen, kommen Sie doch einfach vorbei. Und sehen Sie es uns bitte nach, wenn es nachts etwas lauter

Скачать книгу