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mehr als ordinären Alltag bestärkt sich meine These, dass sich nichts bewegt hat, die Geschichte bricht über uns herein, das Ego aber ist ein schwarzer Fleck in einem starren Bewusstsein. Inzwischen sind wir zwanzig Jahre älter, aber innerlich, im Charakter, sind wir noch dieselben Neu-Belgrader Gestalten von damals, nur dass wir heute grotesk aussehen, mich eingeschlossen. Die Kinder wachsen unverschämt schnell, gestern habe ich zu meinem Sohn gesagt, dass es unfair ist, wie schnell er wächst, ich kann ihn jetzt schon, ohne mich hinunterzubeugen, auf die Stirn küssen. Söhne sind Uhren. Manchmal möchte ich sie zurückdrehen, aber nur manchmal, denn dann fällt mir ein, dass es völlig irrsinnig wäre, die bereits durchlebte Zeit noch einmal zu erleben, zumindest die, die wir hier hinter uns gebracht haben.

      Ja, ich weiß schon, meine Briefe an die über die Welt verstreuten Menschen, auch die an dich, sind kleine Wort-Behälter, in die ich meine Verzweiflung einschließe. Mir graut, wenn ich daran denke, Gott, kann ich diesen Menschen nicht irgendetwas Normales schreiben? Nein, das kann ich nicht, hier ist nichts normal, aber alles scheint normal. Eine schaurige Obrigkeit, die niemals zugeben wird, was sie getan hat. Jeden Tag wird irgendetwas verboten, irgendjemand verurteilt, irgendjemand verleumdet, irgendjemand getötet. Um irgendwie zu überleben, lese ich Tschechow, ein purer Anachronismus dieser Tschechow, Kunst mit Tiefe, Kunst mit Glauben, Kunst mit authentischer Verzweiflung, nicht so einer, wie wir sie haben, Kunst mit Perspektive, Kunst mit Identität. Ich habe nichts davon, ich schreibe ins Leere, wie ein Roboter. Eigentlich spielt sich mein Leben nur noch dort ab … in den Büchern … wo auch sonst, kaum blicke ich mich um, weiß ich nichts mehr mit mir anzufangen. Die Welt versteht den Balkan nicht, und der Balkan nicht die Welt.

      Ivana wollte ihre Schwester in Deutschland besuchen. Vier Tage lang war sie in Budapest – ein herrlicher ungarischer Herbst, gute Restaurants, Menschen, die sinnvollen Tätigkeiten nachgehen, Spuren des einstigen Imperiums. Sie wollte ein Visum beantragen, hatte alle Papiere, Einladungsschreiben und Versicherungen, vergebens. Am ersten Tag stieß sie auf verschlossene Türen, es war Allerheiligen und das Konsulat hatte geschlossen. Am zweiten Tag, gegen neun, wurde sie Zeugin einer Szene wie aus einem Film über die letzten Tage des Abzugs der Amerikaner aus Vietnam. Hunderte Verzweifelte, die in einem unbeschreiblichen Gedränge, mit Pässen in der Hand, mal rufend, mal in völliger kollektiver Depression, versuchten, irgendwie das goldene Tor zu passieren, den Eingang in die gelobte Welt, deren Teil wir einst waren. Sie erstarrte, sie konnte nichts tun, ihre Katalepsie war mehr Verteidigungsgeste als Vernunftreaktion. Zu Hause angekommen, erzählte sie: In ihr habe sich die Würde geregt, jene minimale menschliche Würde, sie habe um keinen Preis Teil dieser Meute werden wollen, beobachtet von den Zerberussen der Sicherheitskräfte, mit einer Mischung aus Verachtung und vordergründiger Übermacht. Jammergestalten, auf der einen wie auf der anderen Seite.

      Jetzt sind wir also wieder beieinander, Ivana und ich, hier, im Belgrader Alltag, ich bin weder fröhlich noch traurig, eher irgendwie dazwischen, irgendwie im Nirgendwo, mit der schweren Erkenntnis, dass ich nichts tun kann, es fällt mir schwer, auch nur die Hand zu heben, denn wenn ich die Hand hebe, wohin geht sie dann, also sitze ich da und fasele, in diesem Loch von Land, und schreibe. Ich tue, was ich kann, ich tue nichts, ich bin sauber.

      Für mich bist du nie weggegangen. Unser Briefwechsel gehört zum Intensivsten, was ich in Gedanken trage, ich rede mit dir darin wie mit meinem Spiegelbild, erst die Ferne macht uns zu dem, was wir wirklich sind, sie hilft uns, unser tiefstes Inneres zu begreifen. Vielleicht auch, weil ich Gespräche von Angesicht zu Angesicht schon immer unnatürlich, pathetisch, falsch, einengend, qualvoll, beschwerlich und nichtig fand. Und gerade weil ich dir so schreibe, als würde ich mir selbst schreiben, würde ich dir gerne einen heiteren Gedanken schicken, ich möchte es, aber leider fällt mir kein einziger heiterer Gedanke ein. Ich glaube auch nicht, dass ein solcher Gedanke noch existiert, zumindest nicht auf längere Sicht. Daher ist es nach allem das Beste zu schweigen. Ich grüße dich und bitte dich nur um eins: Versuche nicht, mich zu trösten, ich bin chronisch untröstlich.

      Miša

      Sobald ich Mišas Brief gelesen hatte, verspürte ich den Wunsch, ihm zu antworten. Ich schaltete den Computer ein und saß lange vor dem leeren Bildschirm, die Worte wollten einfach nicht kommen. Ich stand auf und ging ans Fenster. Der Dezember-Pazifik schlug wütend und schwarz gegen das Festland.

      GORJANA POTOKARS OHRFEIGE

      Sie ist perfekt. Etwas Besonderes, beinahe eine Geschichte für sich. Sie wohnt vorübergehend im alten Stadtviertel Paviljoni, in der Wohnung, die sie von ihrem Vater geerbt hat, der seinerzeit, zur Zeit der Blockfreiheit, Konsul in Afrika war. Vor zwanzig Jahren verpasste sie mir auf der Straße eine Ohrfeige, womit unsere kurze platonische Liebe endete. Ich weiß noch, wie ich in der Abenddämmerung an der Endhaltestelle der Buslinie 16 stand, in meinem linken Ohr summte es, und innerlich heulte ich, ohne es nach außen zu zeigen. So zu weinen, tränenlos und still, hatte ich gelernt, als ich zwölf war. Aber das ist eine andere Geschichte. Viel später habe ich irgendwo mal von einem afrikanischen Häuptling gelesen – vielleicht hat mir auch ihr Vater davon erzählt – der sich aus lauter Angst, die Freier seiner Tochter würden ihm an den Kragen wollen, daran gewöhnt habe, mit offenen Augen zu schlafen. In schwierigen Situationen entwickelt man eben besondere Fähigkeiten.

      Der Abend brach herein, dort gegenüber der Hauptpost, in der Pohorska-Straße, ich ließ den Bus abfahren, dann noch einen, und schließlich beschloss ich, zu Fuß nach Hause zu gehen, ich wohnte ein paar Blöcke weiter, Richtung Donau, in einem Wohnhaus voller niederer Offiziere, niederer Beamte, niederer Arbeiter und niederer Künstler. Ich glaube, das mit Gorjana Potokars Ohrfeige war im beginnenden Frühling, ich bin mir nicht sicher, in der offiziellen Geschichtsschreibung findet dieses Ereignis keine Erwähnung, worüber ich, unter uns gesagt, konsterniert bin, da ich inzwischen deren irrationale Neigung entdeckt habe, ähnliche dumme Missverständnisse als Heldentaten zu charakterisieren. Während ich die Straße hinunter ging, Richtung Fluss, summten in meinem Kopf, wie in einem kaputten Resonator, sämtliche Telefongespräche Neu-Belgrads, was verständlich war, die Post befand sich in unmittelbarer Nähe.

      Gorjana Potokar ist natürlich nicht ihr richtiger Name. Ich habe ihn erfunden, wer weiß warum, vielleicht auch nur, weil er nicht schlecht klingt, jedenfalls war sie zu jener Zeit die absolut tollste Schnitte in diesem Teil der Stadt, wenn Neu-Belgrad überhaupt Teil der Stadt ist, und keine schwarze Chimäre, schwarz wie das Ebenholz der afrikanischen Masken, die Gorjanas Vater sammelte, als Konsul und graue Eminenz in Ländern, deren Umrisse ich bis heute nicht auf der Landkarte erkenne. Ich war schon immer schlecht in Geografie, in räumlicher Orientierung, von rechts gesehen ist links immer links, aber wenn man auf die linke Seite wechselt, dann ist links, was gerade noch rechts war, ich glaube, die Ohrfeige hat zumindest ein kleines Stück zu dieser Verwirrung beigetragen. Ich kann nur sagen, wie schade ich es finde, dass ich nun nie nach Afrika reisen werde. Der Allerhöchste allein, der so über die Maßen zum Schweigen neigt, weiß, ob ich in jenem Frühling für immer die Gelegenheit verpasst habe, nach Ghana, Tansania, Tschad, Ouagadougou, Katako-Kombe, Mbandaka, Kwekwe oder Muyumba zu reisen. Wahrscheinlich habe ich das, denn die folgenden Jahre verbrachte ich allesamt in einem Sanatorium, einem ganz besonderen Sanatorium, in dem ich mich, danke der Nachfrage, bis heute befinde.

      Schlecht gelaunt – womit die Verzweiflung, die ich verspürte, gelinde umschrieben ist – erreichte ich die Tankstelle in der Kennedy-Straße. Das Neonlicht der Straßenlaternen, die gerade angegangen waren, machte alle krank, die Straße verwandelte sich in den Hof eines großen Sanatoriums, jenes ganz besonderen Sanatoriums: Neu-Belgrad. Wir alle wandelten in jenem Frühling, wie auch in allen darauffolgenden, wie verrückt umher, wie todkrank. Objektiv gesehen sind wir alle todkrank, nur sind es manche länger und manche kürzer. So ist es, seit ich denken kann, bei Abenddämmerung hetzen wir von Ort zu Ort, wie irrsinnig, ehe wir uns in unsere Neu-Belgrader Leichenkisten zurückziehen, ehe wir uns in der dickflüssigen Melasse der Nacht auflösen, die schwarz ist wie – wieder finde ich keinen besseren Vergleich – wie das schwarze Ebenholz des Konsuls.

      Der Benzingeruch ließ mich allmählich zu mir kommen, das Summen in meinem Kopf verebbte, und nach und nach fügte ich die Bilder des Nachmittags, den ich in der Wohnung von Gorjanas Vater verbracht hatte, zusammen. Die Geschichte kommt nicht ohne profane Details aus, davon gibt es in

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