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nichts als schreckliche Scham, auf beiden Seiten … eine schnelle Nummer am Vormittag zwischen Gerundien und Partizip Perfekt. In der Nacht, bevor er nach Israel reiste, für immer, liebten wir uns im Stehen und dabei blickte ich ihm die ganze Zeit in die Augen, er hat mich immer gefragt, warum ich die Augen schließe, wenn wir es treiben, ich weiß es nicht, ich habe nie gelernt, die Augen offen zu lassen, und ich blieb immer stumm. Komm, sag wenigstens ab und zu mal irgendetwas, bat Ogi mich manchmal, doch ich blieb immer stumm, ich versank in mir, die Augen fest zugedrückt, wie ins Bodenlose, und dann riss ich die Augen plötzlich einfach auf und blickte ihn auf eine Weise an, dass er Angst bekam, ich wusste, dass er Angst bekam.

      Nein, gestritten haben wir nicht. Nie. Obwohl Streiten in Maßen die Liebe anfacht, wie ich im Frauenmagazin Bazar einmal gelesen habe. Wir hatten keinen Grund dazu. Auch nicht, als es keine Gründe mehr gab. Wir warfen uns nichts vor, wurden nicht wütend und waren nicht eifersüchtig, alles nahm seinen natürlichen Lauf, Frühling, Sommer, Herbst, Winter, unsere Geschichte hatte einen Anfang, einen Zenit und ein Ende, hm, wenn man es denn Ende nennen kann. Einmal nur, ein einziges Mal, als Zvonko, mein erster Freund, mir mitten im Krieg einen Brief aus Zagreb schickte, nur um mir zu sagen, dass er manchmal an mich denke, dass er der Einberufung entgangen sei – im ersten Moment verstand ich nicht, was er mit ZNG1 meinte – dass er geheiratet und ein Töchterchen bekommen habe und dass in der Literaturzeitschrift Quorum, allerdings in kroatisierter Form, meine Übersetzung aus Sam Shepards Motel Chronicles abgedruckt worden ist, reagierte Ogi mit jungenhafter Empfindlichkeit – danach liebte ich ihn umso mehr. Offen gesagt, hatte ich niemanden außer ihm, meine Stiefmutter und mein Vater waren innerhalb von einer Woche nacheinander gestorben und lagen auf dem Friedhof Bežanijsko Groblje, Grabplätze 205 und 206, beide an derselben Krankheit: Lymphdrüsenkrebs. Mama lebte längst im fernen Schweden. Einmal erzählte sie mir am Telefon, dass mein Halbbruder Goran je nach Stimmung die Augenfarbe wechsle: wenn er gut gelaunt sei, habe er blaue Augen, und graue, wenn er wütend werde – stell dir das vor, ein wütender Schwede, keine Ahnung, wie das geht. Nach Zvonkos Brief schmollte Ogi zwei, drei Tage lang, und auch wenn er nichts sagte, war alles klar, Männer halten dich gerne fest, selbst dann, wenn sie dich nicht mehr besitzen wollen, Liebe ist Besitz, das ist keine große Weisheit, ich weiß, aber es stimmt, wenn es Liebe ist, eigentlich wollen sie dich erst recht festhalten, wenn sie dich nicht mehr besitzen wollen, dann meldet sich ihre natürliche Unreife und das Bedürfnis, der Wichtigste zu sein, jede weitere Liebe ist nur ein Schatten nach der zu diesem unseligen, liederlichen Taugenichts, von dem du weiche Knie bekommst und an den du bis zum Schluss denkst, und noch länger, genau wie ich an Ogi. Ja, es ist aus, ich habe keine Gefühle mehr für dich, was dich aber nicht von der Pflicht befreit, mich zu lieben, so irgendwie, das Schlimmste ist: Es ist alles wahr. Meine beste Freundin, Ljilja Đurić, den Namen habt ihr schon gehört, sie ist Dichterin, Profi-Feministin und erbitterte Gegnerin der Seegurken-Gesellschaft, würde mich umbringen, wenn ich ihr gegenüber zugäbe, dass ich mich als seinen Besitz betrachte und es auf eine verfluchte Weise immer noch genieße, ich, das unemanzipierte Wesen, das drei Tage nach Ogis Abreise einen neuen Liebhaber fand, aber das ist eine andere Geschichte.

      In seinem ersten Brief schickte mir Ogi ein Foto, das ihn vor dem Eingang seines Wohnhauses in Tel Aviv zeigt. Auf der Rückseite stand: Für Ivana, in Liebe, Avigdor. So erfuhr ich von der Änderung seines Namens, er hatte sich nach dem Protagonisten einer genialen Erzählung von Singer benannt, nach der Barbara Streisand einen Shit-Film gedreht hat, dermaßen widerlich, dass wir, nachdem wir ihn gesehen hatten, drei Tage lang den Fernseher ausgeschaltet ließen. Ich hatte diese Zuckerwatte natürlich übersetzt. Ein neuer Stadtteil von Tel Aviv, ein Stückchen Gehweg, ein frisch gepflanzter junger Baum, ein gewöhnliches Wohnhaus, wie bei uns in Neu-Belgrad. Zwei Stockwerke sind zu sehen, auf einem Balkon trocknet Wäsche, ein Fenster steht offen, Ogi, hm, Avigdor, lehnt an einem alten Auto, und im Erdgeschoss ist ein Gemischtwarenladen, vor dem Körbe mit Obst aufgestellt sind. Das Foto hat Lea gemacht, seine Freundin, sie haben sich bei einem Ausflug der Abendschule für Ivrit kennengelernt. Lea ist russische Jüdin, eine Violinistin, aber sie und Ogi, Verzeihung, Avigdor, arbeiten jetzt in einem großen Musikgeschäft und verkaufen Instrumente und CDs. Ein weiteres Foto zeigt Bogdan und Lea auf der Plantage eines Kibbuz. Links gelbe Wüstenlandschaft und rechts, schnurgerade davon getrennt, eine dicht bepflanzte Zitronenplantage. Darüber der Himmel, in einem verwaschenen Blau. Ich erkannte ihn sofort wieder, es war derselbe Himmel wie bei unserer Hochzeitsreise nach Jerusalem, ganz bewusst wird einem dieser Himmel erst, wenn man aus der Grabeskirche tritt, ein tiefer, unendlich tiefer Himmel, durchscheinend, wie ein umgekehrtes Meer, aufragend, soweit die Augen reichen, bis in schwindelnde Höhen, wo die Vernunft des Höchsten ruht.

      Ich weiß nicht, warum ich mich immer daran erinnere. Als er den Lehrsaal betrat, aß ich gerade ein Đevrek, die Sesamkrümel fielen auf das vor mir aufgeschlagene Buch. Er setzte sich mir gegenüber, er sah mich an, und das erste, was er zu mir sagte, war: »Warte mal.«

      Dann griff er in seine Jackentasche, zog ein schneeweißes Damast-Tuch hervor und wischte mir mit dessen Zipfel die Krümel von den Mundwinkeln. An diese Berührung werde ich mich für immer erinnern, und ich weiß, was das heißt: für immer. Die richtigen Männer haben etwas Weibliches an sich, eine Geste oder ein Wort, wenn ihr versteht, was ich meine. Bei der Abschlussexkursion, einer Klosterbesichtigung, der er sich anschloss – er tauchte zur Abfahrt einfach vor der Fakultät auf und stieg noch einfacher in den Bus, obwohl ihn außer mir niemand kannte –, fand ich heraus, dass er nicht orthodoxen Glaubens war. Ich weiß nicht, was ich bin, sagte er, ich bin nicht getauft, und weil ich nicht getauft bin, käme es mir dumm vor, mich beim Betreten einer Kirche zu bekreuzigen, meine Mama ist Jüdin und mein Papa Bosnier, Offizier, Kommunist, wen kümmert es, ob ich gläubig bin oder nicht, obwohl, wenn ich es mir recht überlege, bin ich wohl doch gläubig, nur suche ich noch nach Gott. Er konnte nicht erklären, warum er sich für ein Studium in Belgrad entschieden hatte, sein Vater starb kurz vor dem Krieg, er schwand einfach dahin, so wie sein Staat dahinschwand, und seine Mama blieb in Sarajevo allein zurück, wir telefonieren heute noch mindestens ein Mal im Monat, nach allem, was gewesen ist. Ach, Liebes, sagt Frau Simha zu mir, mit deren Namen das Leben ein so rohes Spiel getrieben hatte, ich habe alles erduldet, den Tod, den Krieg und eure Scheidung, aber dass ihr keine Kinder bekommen habt, werde ich mit ins Grab nehmen. Aber Simha, erwidere ich, dabei schnürt es mir die Kehle zu, wir sind doch noch jung, für Kinder ist noch Zeit genug. Ja, Gott sei Dank, sagt sie, aber ich wollte, dass ihr welche bekommt, ihr seid doch meine Familie.

      Ogi und ich heirateten an einem Donnerstag, in der Belgrader Gemeinde Savski Venac, nur mit unseren Trauzeugen David und Milka, jung und verrückt, wie wir waren. Der Krieg hatte bereits begonnen, wenn es ein Krieg war, jedenfalls war es der fünfte Akt eines Shakespeare-Dramas, auf einmal schloss jeder den Tod ins Herz, und Ogi und ich küssten uns, immer und überall, bis zur Bewusstlosigkeit, und interessierten uns für nichts anderes, am wenigsten für den Krieg. Dann fing es auch in Sarajevo an. In jenen Tagen beschloss Ogi, Jude zu werden. Ich habe beschlossen, Jude zu werden, verkündete er mir, ich war es eigentlich schon immer, aber jetzt sehe ich, dass ich wirklich Jude bin. In ihrem letzten Gespräch, bevor die Verbindung zu Sarajevo abbrach, sagte Simha zu ihm: Zum ersten Mal seit sie denken könne, bedeute Jude sein – sicher zu sein. Alle ihre Angehörigen waren in Mauthausen umgekommen, sie hatte den Krieg als junges Mädchen bei einer alten muslimischen Familie überlebt und drei Jahre lang, solange die Ustaschas dort an der Macht waren, das Haus nicht verlassen. Ich glaube, Mama hat recht, sagte Ogi zu mir, Jude sein bedeutet, eine feste Identität zu haben, heute geben alle Kriegsparteien auf uns acht, um Toleranz zu demonstrieren, wie ehrlich das ist, weiß ich nicht, aber ich weiß, dass es für uns Juden gut ist. Ich will nach Israel, und du kommst mit. Nein, sagte ich, ich gehe nirgendwohin, was soll ich dort. Und was willst du hier, fragte er, er wollte sich nicht streiten. Was weiß ich, sagte ich, dasselbe wie immer, etwas mehr als nichts, mir ist das genug. Aber ich will, dass du mitkommst, sagte er. Ich nicht, sagte ich, aber ich kann dir nicht sagen, dass du bleiben sollst, dazu habe ich kein Recht.

      Mithilfe der Jüdischen Gemeinschaft waren die Formalitäten schnell erledigt, innerhalb von zehn Tagen, Albahari half ihm. Ich begleitete ihn zum Flughafenbus, noch waren die Grenzen des Luftraums über den Relikten des verfallenen und von außen wie innen gedemütigten Landes offen, ich wollte ihn nicht bis zum Flugzeug begleiten,

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