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wusste, wie Liebesromane enden, Gott, was wird er jetzt zu mir sagen, dieser Mann, der neben mir geht, und der von sechs Milliarden Wünschen auf dieser Welt nur den einen, diesen einen verzweifelten Wunsch in mir weckt, meine Hand in seine zu legen.

      WENN ES LIEBE IST

      Letzten Herbst, wenn es ein Herbst war, hat Ogi eines Samstagsmorgens nach sechs Jahren Ehe seine Sachen gepackt und ist abgereist. Nach Israel, für immer. Für immer, wiederholte ich tagelang, allein, in unserer ehemals gemeinsamen Wohnung in Neu-Belgrad, bevor ich mir dieser Worte vollständig bewusst wurde. Für immer also. Von jetzt an, sagte ich zu mir, so weit meine Vorstellung reicht, und noch darüber hinaus, also für immer. Wie in einem dieser drittklassigen Filme, die wir uns manchmal zusammen ansahen, im Fernsehen, bis spät in die Nacht, nebeneinander, unter einer Decke, mit längst erloschenem Begehren, zwei gleichgültige, sexuell abgestorbene Wesen. Ja, genau wie in einem dieser Filme, die wir mitsamt Titel vergaßen, sobald einer von uns beiden, egal wer, das Licht löschte und gute Nacht murmelte, wenn es gute Nächte überhaupt gibt.

      Hätte mir jemand gesagt, wie die ganze Sache mit mir und Bogdan einmal enden würde, wenn überhaupt irgendetwas auf dieser Welt wirklich endet, wirklich, meine ich, denn die Liebe endet nie ganz, dann hätte ich wohl erwidert: Erzähl mir doch nichts. Und zwar deshalb, weil ich es vom ersten Tag an gewusst habe. Als ich ihn zum ersten Mal gesehen habe, habe ich schon alles gesehen, ohne dass es vorauszusehen gewesen wäre, nein, es war keine Hellseherei, keine Hexerei, nichts dergleichen. Es war die pure Gewissheit, dass wir eine Weile zusammen sein würden, bis zur Verschmelzung, bis zum letzten Herzschlag, und dass wir danach nicht mehr beieinander sein würden, aber sicherlich noch zusammen, dort, wo man jede Sekunde mit jemandem zusammen ist: in Gedanken. Bei der Morgentoilette vor der Arbeit, beim Zähneputzen, im Bus beim Überqueren der Sava, beim Übersetzen – ich übersetze Untertitel für Filme – beim Bügeln und beim Aus-dem-Fenster-Starren auf den verlassenen, mitternächtlichen Boulevard, immer ist man mit jemandem zusammen, und noch mehr als das, man ist mit allen Menschen zusammen, die man einmal geliebt hat, jedenfalls geht mir das so.

      Natürlich ahnte ich nicht, wie lange es dauern würde, wie alles verlaufen und wann es enden würde, wenn, wie gesagt, überhaupt irgendetwas auf dieser Welt wirklich enden kann, nach uns bleibt, was man von uns erzählt, irgendetwas bleibt immer. Es war eine Studentenliebe, zwischen Bogdan, genannt Ogi, und mir, wenn es Liebe war, und kein Hineinstolpern, einander Erkennen und Verschmelzen bis zur Verblendung. Er war drei Jahre jünger als ich, ich stand schon vor der Diplomprüfung, als Ogi eines Tages, gegen Ende des Wintersemesters, wenn es ein Winter war, jedenfalls war es Januar, an der Tür zur Seminarbibliothek auftauchte. Später erfuhr ich, dass dieser Tag plumper Mittwoch genannt wird, keine Ahnung warum. Aber vielleicht hatte es etwas zu bedeuten. Bogdans Blick streifte mich, weiter nichts, er nahm in dem überfüllten Raum Platz, in dem sich der Geruch nach feuchter Kleidung ausbreitete, an unserer Fakultät sind überwiegend Frauen, sodass eine Erscheinung wie seine leicht ins Auge sticht. Ich bemerkte ihn sofort, obwohl ich in die Übersetzung einer mittelenglischen Erzählung von Chaucer vertieft war, ich kann mich noch gut daran erinnern, Professor Ignjačević konnte unvorbereitete Studenten nicht leiden. An einer ganz bestimmten Stelle jedoch tauchte ich aus dem Buch auf, hob den Kopf und das Erste, was ich sah, wenn ich überhaupt etwas sah, war Ogis Lächeln. Als ich den Blick wieder senkte, prägte sich mir fotografisch ein: »Who ever bound a lover by a law?«/ Love is a law unto itself. My hat!/ What earthly man can have more law than that?/ All manmade law, all positive injuction is broken/ Every day without compunction/ For love. A man must love, for all his wit;/ There’s no escape though he should die for it,/ Be she a maid, a widow or a wife.

      Ogi kam auch am nächsten Tag, wir grüßten uns, an den darauffolgenden Tagen begann ich mich absichtlich zu verspäten, von Mal zu Mal ein paar Minuten mehr, ich stellte ihn auf die Probe, nur um zu sehen, ob und wie lange er bereit war zu warten, und er wartete, unfehlbar, immer dort, wo ich meinen Chaucer übersetzte, neben der Heizung, durch die geschlossenen Fenster drang Straßenlärm.

      Ich legte meine Diplomprüfung ab, vor den Professoren Ignjačević und Kuljača und der Professorin Danon, sie mochte mich besonders, sie war es auch, die mir den ersten Honorarauftrag gab, die Übersetzung eines Briefwechsels für die Jüdische Gemeinschaft, und später empfahl sie mich als Englischdozentin für die Stelle am Fremdspracheninstitut. Dort blieb ich mehrere Jahre, bis Ogi sein Diplom hatte. Wir lebten bescheiden, von meinem Gehalt und seinen gelegentlichen Honoraren. Er hatte schon als Student Filmkritiken geschrieben, und es lief gut, schon bald war er überall gefragt, ich weiß noch genau, wie er eines Nachts im Sommer, wenn es ein Sommer war, jedenfalls war es August, vom letzten Filmfestival in Pula zurückkam und einen Hauch von Untreue mit sich trug – habe ich das nicht schön gesagt, das Übersetzen von Melodramen schlägt sich halt irgendwann im Ausdruck nieder. Verzeih mir, sagte er schon an der Tür, denn mir genügte ein Blick, verzeih mir, ich habe mit der kleinen kroatischen Schauspielerin rumgemacht, du hast mal gesagt, sie gefällt dir, du weißt schon, die, die mit Miki Manojlović gedreht hat. Ich konnte mich nicht erinnern, mir gefallen Schauspieler immer nur einen Film lang, schon gut, ich verzieh ihm sofort.

      Manchmal, wenn ich in den Spiegel blicke, spreche ich seinen Namen aus und denke daran zurück, wie wir uns am Bahnhof verzweifelt küssten, als er eingezogen wurde, der Krieg kam wie ein Flammenwind, ich glaube, das mit dem Flammenwind ist ein Zitat. Glücklicherweise wurde er nach zehn Tagen freigestellt, wegen Astigmatismus, Ogis Augen wirken tatsächlich verschlafen, sodass wir den Krieg hauptsächlich vor dem Fernseher verbrachten. In jener Zeit hatte ich am meisten zu tun, die Video-Piraterie überschwemmte den Markt, und der Filmverleih, von dem ich die meisten Aufträge bekam, wurde über Nacht zu einem Privatunternehmen, er überhäufte mich regelrecht mit Hollywood-Müll. Tag für Tag hörte ich, in einen Kassettenrecorder diktierend, alle möglichen Dialoge ab, vom göttlichen Nicholson bis hin zur weinerlichen Meryl Streep. Ogi lachte und sagte, ich sei verrückt, warum arbeitest du so viel, fragte er jedes Mal, wenn er nach Hause kam, er schrieb immer weniger, und wir liebten uns immer seltener, wenn es Liebe war, und keine routinierte Hingabe, keine schnelle Körperhygiene, obwohl ich das nie, ich schwöre, nie zugeben würde, der Sex mit ihm war interessant, mmm, und jedes Mal irgendwie anders, mal leicht wie ein gekühltes Glas Krokan an einem schwülen, frühen Sommerabend, mal kalt wie die Bura-Böe aus einem späten Urlaub in Pirovac, wo sich das Erholungszentrum der Jüdischen Gemeinschaft befindet, in dem wir drei Jahre hintereinander, immer im Oktober, Urlaub machten, bis der Krieg ausbrach. Und manchmal war es ein Beben, tief und gedämpft, wie nächtliches Licht in der Ferne, beim Warten auf das Einfahren der Züge an einer kleinen Haltestelle im Una-Tal, beim Küssen im schmalen Bett eines Schlafwagens und dem Lauschen, wie draußen jemand mit Likaer Akzent grummelt: »Mann, das schüttet wie aus Kübeln, ich bin klitschnass, und sehen kann man auch nichts, und die Scheißregenjacke kannst du auch vergessen.«

      Eigentlich kann ich mich an jeden Orgasmus erinnern, den ich mit Ogi erlebt habe, angefangen mit dem ersten, in meinem Studentenzimmer in der Ivankovačka-Straße, gegenüber der Maschinenbaufakultät. Der Vermieterin erzählte ich, ein Kollege würde mich besuchen kommen, mich besuchte sonst nie jemand, die Vermieterin war überrascht, sie verhielt sich korrekt, machte Kaffee und Kuchen und ließ uns allein. Zu jener Zeit verstand ich mich weder mit meiner Stiefmutter gut, noch mit meinem Vater, und obwohl ich in der väterlichen Offizierswohnung, die ich später erbte, ein eigenes Zimmer hatte, beschloss ich, dort auszuziehen, und wohnte im dritten und vierten Studienjahr bei einer entfernten Tante von Mama, der alten Jungfer Dunja. Mama bot mir an, zu ihr nach Schweden zu ziehen, komm zu uns, mein Dummchen, sagte sie jeden Sonntag am Telefon, es ist bald Krieg, Olaf hat nichts dagegen und Goran kann es kaum erwarten, seine Halbschwester kennenzulernen. Olaf ist ihr zweiter Mann und Goran mein Halbbruder, Mama hat einen Schweden geheiratet, ihrem Sohn haben sie einen schwedisch-serbischen Namen gegeben. Ich lehnte natürlich ab, ich wollte mein Studium beenden, und in meiner jugendlichen Naivität dachte ich, es würde sich schon alles beruhigen, ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass die Menschen beginnen würden, aufeinander zu schießen, bald taten sie es tatsächlich, aber ich wartete weiter, worauf, weiß ich nicht. Als Ogi auftauchte, bekam mein Warten wenigstens einen Namen.

      »Ivana, Liebes, ich gehe zu Frau Melentijević, um den Ärmel hier zu säumen, sie hat eine Endelmaschine«,

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