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schnulzig, und ich bin so schlecht darin, schließlich kam der Bus, ich ruf dich an, war das Letzte, was er sagte, dabei küsste er an meiner linken Wange vorbei in die Luft, ich blickte irgendwo durch ihn hindurch. Das Taschentuch hast du hoffentlich dabei, sagte ich, du wirst es brauchen. Natürlich, antwortete er, du weißt doch, dass ich es immer bei mir trage. Und so ist er gegangen. Drei Tage lang ging ich nicht aus dem Haus, irgendwie versank ich in mir, depressiv, langsam im Denken, der Fernseher lief ununterbrochen, ohne dass ich hinsah, ich nahm den Hörer nicht ab, obwohl das Telefon wie verrückt klingelte, ich kann mich nicht einmal mehr erinnern, wie diese Zeit verstrichen ist, diese Stunden, zähflüssig wie Harz, in denen das ganze Leben mit ihm an mir vorüberzog … Immerhin war es ein ungewöhnliches Erlebnis, was auch nicht schlecht ist, vielleicht sogar das Wichtigste, denn wenn ich alt bin, werde ich etwas haben, woran ich zurückdenken kann, daran, wie er mit leicht überstrecktem Kopf schlief, wie ihn Manches aufregte, worüber ich mich nie aufgeregt hätte, wie er immer lachte, wenn ich ernst war, und umgekehrt, wie er morgens das Frühstück machte, wie wir jeden Mittwoch am Kai spazieren gingen, der Mittwoch gehörte nur uns, denn wir hatten uns an einem plumpen Mittwoch kennengelernt, wenn es ein Kennenlernen war, jedenfalls war es eine erfüllte Zeit, jenseits aller Regeln, alle planten ihre Wochenenden, nur wir nicht, unser Wochenende war mitten in der Woche, und niemand konnte uns diesen Tag nehmen. Ich weiß noch, wie er sich freute, als er den Einladungsbrief aus Israel bekam, ich war traurig und er bemerkte es, Entschuldigung, so war es nicht gedacht, sagte er, aber es ist noch nicht zu spät, du kannst es dir noch überlegen, ich werde auf dich warten, aber du sollst wissen, ich habe beschlossen zu gehen. Geh nur, dachte ich, du lässt weiß Gott nicht viel zurück, wir haben keine Kinder, zum Glück, darüber hatten wir nie nachgedacht, wir hatten keine Arbeit, unsere Wohnung verfiel allmählich, wir hatten nur einander, nur die Liebe, wenn es Liebe war …

      1 Vorläufer der Kroatischen Armee

      BRIEF AUS DEM JAHRE 1999

      (Nach Ivo Andrić)

      November 1999. Der Flughafen bei Budapest. Schnee. Aufgeschobene Flüge. Während ich auf den Abflug nach Vancouver warte, kurz nach Mitternacht, rede ich müde und schon etwas nervös auf meinen Freund Miša Pantelić ein, der mich aus Belgrad hergefahren hat, es sei nicht nötig, dass er noch länger bei mir bleibe. Meine Versuche, ihn zu überzeugen, dass er sich möglichst schnell ins Auto setzen und dorthin zurückkehren solle, wo wir dreizehn Jahre unseres Lebens zusammen verbracht haben, weist er entschlossen zurück. Vier Stunden Fahrt, das ist nicht wenig. Durch die große Glasscheibe des überheizten Flughafenrestaurants blicken wir auf die Piste, über die der Schnee wirbelt. Auf dem Tisch, nach dem Abendessen, halb ausgetrunkene Weingläser. Wir reden, doch das Gespräch stockt. Wir haben uns mehrere Jahre lang nicht gesehen, seit ich nach Kanada gegangen bin. Ich weiß nicht, was ich denken soll, ich dränge ihn, dabei möchte ich eigentlich, dass er so lange wie möglich noch bleibt, Warten ist erträglicher, wenn man nicht allein wartet, egal worauf. Wir sind wortkarg, nicht weil wir einander nichts zu sagen hätten, nein, im Gegenteil, weil Worte die lange Unterbrechung unserer Freundschaft nicht mildern können. Miša hat das Land während der gesamten zehn Kriegsjahre nicht verlassen, er hat Bücher geschrieben. Ab und zu haben wir uns Briefe geschickt. Ich dagegen bin in all den Jahren nach meinem Wegzug nur zwei oder drei Mal nach Belgrad gekommen, auf einen Kurzbesuch, für ein paar Tage, mehr konnte ich nicht ertragen. So war es auch diesmal, wo die Zeit gerade für einen Besuch bei meinem Bruder gereicht hatte. Ich wollte mich bei niemandem melden, um nicht erklären zu müssen, warum. Aber dann meldete sich Miša bei mir, irgendwie war ihm zu Ohren gekommen, dass ich in der Stadt war, also unterhielten wir uns kurz, und er bot mir an, mich zum Flughafen zu fahren. Ich akzeptierte.

      So kam es, dass wir im ungarischen Schnee stecken blieben. Hohe Schneeverwehungen bedeckten die Straße, wir befürchteten schon, zu spät zu kommen, aber als wir uns irgendwie nach Ferihegy durchgeschlagen hatten, erkannten wir, dass unsere Angst unbegründet gewesen war, die Flüge waren bis auf Weiteres aufgeschoben worden. Wir saßen uns gegenüber, Miša und ich, zwischen den anderen Reisenden, größtenteils unsere Landsleute, und sahen uns an. Er hatte sich kaum verändert, nur grau geworden war er plötzlich, und seine Stimme war dumpfer als früher, oder es kam mir nur so vor. Er wirkte schlecht gelaunt. Ja, Miša schrieb Bücher, doch er selbst hatte sich nie als Schriftsteller gesehen. Warum auch immer. Er pflegte zu sagen: »Wenn alle Schriftsteller sind, muss ich nicht auch noch einer sein.«

      Aber er schrieb weiter. Dann, während des Gesprächs, kam mir, als ich ihn so ansah, eine Erzählung von Ivo Andrić in den Sinn, in der es heißt, dass man damals, nach dem ersten Krieg, unter den Intelligenten auf viele solche, verbitterte Menschen traf, verbittert auf besondere Weise, über etwas Unbestimmbares im Leben. Im Wesentlichen traf diese Beschreibung zu, nur dass Miša nicht verbittert war, er war einfach schlecht gelaunt, und er verbarg es nicht. Im Morgengrauen gingen wir auseinander, als sich das Unwetter legte und die Flüge freigegeben wurden. Zwei Wochen später, in Vancouver, erhielt ich einen Brief von ihm:

      Lieber D.,

      heute habe ich ein paar Bücher umgeräumt und dabei bin ich auf unsere Auswahl mit den besten Erzählungen aus 1989 gestoßen. Zehn Jahre, stell dir vor, zehn Jahre sind seitdem vergangen. Alles hat sich verändert, der Staat, die Geschichte, die Verhältnisse, die Literatur, die Menschen, die ich kenne, viele sind weggezogen, nicht wenige sind gestorben, jeder Tote ist einer zu viel – und doch kommt es mir vor, als stehe ich auf der Stelle. Beim Durchblättern musste ich an dich denken, an unser Gespräch in Budapest und die Briefe, die wir uns ab und zu schreiben, und da habe ich gedacht, es wäre gut, mich bei dir zu melden. Zuerst möchte ich mich aufs freundschaftlichste für deine Teilnahme an dieser, gelinde ausgedrückt, morbiden Geschichte bedanken. In den letzten Jahren, vor allem während der Kriegsmonate, gab es davon, nebenbei bemerkt, nicht allzu viel. Und das ist gut so, glaube mir, auch wenn es nicht so scheint. Es ist schwer, die Worte derer zu ertragen, die nicht mehr hier sind, und die dir erklären – mal aus Aufrichtigkeit, mal aus Anstand (völlig egal) – sie wüssten, wie schwer wir es hätten, aber sie, die alles verstünden, angeblich, hätten es noch schwerer, weil wir es schwer hätten: Sie seien nicht hier und litten aus der Ferne. Schließlich wird aus dem langen, Kopfschmerzen bereitenden Gespräch für beide Seiten eine Last, eine Erklärung von etwas, was letztlich nicht zu erklären ist, jeder sieht die Welt mit eigenen Augen, und unter dem Strich wird aus dem Bedürfnis, andere zu verstehen, die Beförderung des eigenen Egoismus. Gut, es macht uns unglücklich, wenn einem Menschen, irgendwo, etwas Schlimmes widerfährt, aber letztlich sind fremdes Unglück und Leid irgendwie zu ertragen, Hauptsache, uns passiert nichts, uns sage ich, dem Höchsten sei Dank, wenn es ihn gibt, was nach allem schwer zu glauben ist. Die meisten, die sich aus dem Ausland bei mir meldeten, beteuerten mir – hm, beteuerten, dabei habe ich es nie von ihnen verlangt –, sie wüssten, wie schwer ich es hätte, doch sie, die alles im Fernsehen mit ansähen, hätten es noch schwerer. Und seit einigen Monaten, seit der Krieg vorbei ist: Stille. Stille von außen, Stille von innen, Müdigkeit und eine gewisse Schläfrigkeit, Erschöpfung oder was es auch ist. Die Bombardierung haben wir irgendwie überstanden, und von irgendwoher kommt etwas Licht, sodass wir für einen Moment vergessen können, dass – wenn man so will – die balkanische Haupttrasse, die Belgrad mit dem Meer verbindet, durch hundert Tunnel führt, eine kitschige Metonymie für das Leben, ich weiß, feucht und finster, gleich einem Verlies, so wie es auch ohne diese Metonymie ist (das Leben, nicht das Verlies). Im Leben tappt man ständig ins Dunkle. Das heutige Dunkel dauert wahrlich zu lang.

      Irgendwann musste der Krieg aufhören, wie jeder Krieg, aber zu Ende ist er noch nicht. Hier herrscht eine sinnlose Zeit des Wartens, niemand weiß worauf, so etwas habe ich noch nie gespürt. Am Ende des Tunnels tut sich eine Schlucht vor uns auf. In diesen Abgrund, schwarz wie das Dunkel der Nacht, sind wir eigentlich längst hineingesprungen, und befinden uns jetzt im freien Fall, lautlos und lang, ohne die Hoffnung, je den Boden zu berühren. Denn einen Boden gibt es nicht, der Fall ist endlos. Die Menschen sind verzagt und verzweifelt. Es gibt keine Liebe, wer weiß, wohin sie verschwunden ist. Und wo keine Liebe ist, ist auch kein Sinn. Die Welt hier, der kümmerliche Überrest der Welt, funktioniert nach dem Prinzip einer dämonischen Trägheit, alle reden, aber die Worte sind fern von jeglichem Verstand, alle plappern, jeder zwingt den anderen seine Wahrheit auf, keiner hört

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