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des Ribeiro Sêco, 250 Meter über dem Meeresspiegel gelegen, mit einem pittoresken Blick über die Bucht und die Häuser von Funchal – Gründgens mag es, mit seinem Fernglas die Uhrzeit am Turm der Sé Catedral de Nossa Senhora da Assunção abzulesen – und nur zehn Autominuten davon entfernt; er hat sich für seine Inselaufenthalte einen Peugeot 203, Baujahr 1949 zugelegt. Die »Vivenda Maria do Carmo«, wie sein erstmals Ende Juni 1960 bewohntes Zuhause an der Rua do Conde de Carvalhal Nr. 222 heißt, ist ein recht kleines, zweistöckiges Haus mit Wohn- und Eßraum sowie zwei Schlafzimmern, weiß getüncht, mit rot lackierten hölzernen Fensterläden, das Dach mit roten Ziegeln gedeckt, daneben Palmen und Bougainvilleen, zwei Orangen- und ein Zitronenbäumchen – und eine kleine casa de palha, ein strohgedecktes Häuschen, in dem Gründgens im Sommer gerne die Nacht verbringt. Wie das auf der Insel üblich ist, wachsen Unmengen von Orchideen, Rosen und Azaleen in Blumentöpfen, rund 1500 sind es an der Zahl: »Ich bin ganz verrückt damit. Hier blühen die Mimosen und Camelien und viele andere Blumen, deren Namen ich nicht weiß«4, hatte er gleich nach dem Kauf seiner Sekretärin Ursula Stadermann5 berichtet. Um das nahezu spartanisch eingerichtete, aber mit Strom- und Telephonanschluß ausgestattete Anwesen kümmert sich der Gärtner Antonio, »ein stiller netter Junge, der nicht so recht begriff, in was er da hineingeraten war«6, wie ein langjähriger Freund von Gründgens meint. Doch meist versorgt sich Gründgens selbst, er kocht leidenschaftlich gerne und ist stolz auf »seine Rezepte«7. Regelmäßig fährt er ins Reid’s, um dort zu schwimmen: Über Treppen erreicht man vom Hotel eine Plattform knapp über dem Meeresspiegel mit einem Pool und direktem Zugang zum Ozean. Zu Gründgens’ wenigen Bekannten auf Madeira gehören Walter Belmonte8, ein 1933 aus Deutschland emigrierter jüdischer Kinderarzt, und seine Frau Alice, ansonsten genießt Gründgens seine Anonymität und lebt völlig zurückgezogen. Um sich mit den Nachbarn rudimentär verständigen zu können, hat er sich etwas Portugiesisch angeeignet, »aber ich nehme an, daß, wenn ich mit meinem Portugiesisch nach Lissabon käme, das wäre ungefähr so, [wie] wenn ein Oberbayer nach Hamburg käme«9.

      Dem Journalisten Günter Gaus gibt ein entspannt wirkender Gründgens am 17. Mai 1963 sein einziges Fernsehinterview, erstmals ausgestrahlt wird es in der Sendereihe »Zur Person« am 10. Juli im ZDF. Er sei »wahrscheinlich […] ein Glückskind gewesen«, erzählt er, denn das sei »die einzige Erklärung […], wieso das so hoch hinauf ging«, doch habe er »kräftig […] zahlen müssen für das Glückskindsein, in den Schoß gefallen« sei ihm nichts. »Ich habe in den letzten 30 Jahren immer zu viel gearbeitet und vergessen zu leben. Wenn ich jetzt diesen Einschnitt gemacht habe, so mache ich ihn, um vor Toresschluß noch rasch zu lernen, wie man lebt. Sehen Sie, mein Leben bestand darin: Das ist der Tag vor FAUST und der Tag nach FAUST oder der Tag vor HAMLET und der Tag nach HAMLET. Irgendeinen entspannten Tag gab es eigentlich ganz selten. Und wenn ich von dem Intendantenberuf sprechen soll: Der hat absolut nie Ferien.«10 In diesem Sommer besucht ihn für fünf Wochen das Schauspielerehepaar Ehmi Bessel und Werner Hinz, dem sich Gründgens besonders verbunden fühlt; die Abende verbringt man meist beim Skat. Dreimal wöchentlich nimmt er bei einer älteren Dame Englischunterricht, um sich auf eine lange geplante Weltreise vorzubereiten.

      Acht Tage vor deren Antritt unterzieht sich Gründgens in Hamburg einer größeren zahnärztlichen Behandlung. Er wohnt in der Universitätsklinik Eppendorf – seine Wohnung im Harvestehuder Weg 19 hatte er bereits zum 31. Juli gekündigt. »Er war aufgeschlossen, heiter, voll mit Reiseplänen angefüllt, wirkte so ›unpsychiatrisch‹, daß wir ihm wenig Aufmerksamkeit schenkten«, berichtet der Psychiater Michael Winzenried. »Jetzt bin ich frei … Ist Freiheit Macht, oder werde ich noch einsamer?«, habe ihn Gründgens gefragt. »Ich freue mich unbändig auf die Welt, oder soll ich lieber hierbleiben? Freude gab es so wenig in meinem Leben, und nun fürchte ich, an diesem fetten Bissen zu ersticken …«11 Im Anschluß holt Gründgens in München, wo er im Bayerischen Hof absteigt, beim Herrenausstatter L. H. van Hees in der Brienner Straße die bestellte Reisegarderobe ab, begutachtet den Plakat-Entwurf für die geplante Tournee, verabredet sich unter anderem mit Emmy Göring und Marianne Hoppe, erhält Besuch von Antje Weisgerber und trifft sich in der Lobby des Hotels Vier Jahreszeiten mit Fritz Kortner, unter dessen Regie er in Hamburg den Lear spielen soll.12

      Am 13. September 1963 fliegt Gründgens nach London. Begleitet wird er von seinem Geliebten, dem Regieassistenten Jürgen Schleiß13, der auch die KONZERT-Tournee leiten soll. Gründgens hatte den damals 21jährigen gelernten Mechaniker im November 1959 als Beleuchter am Schauspielhaus kennengelernt, bei der Arbeit an Lawrence Durrells SAPPHO. Seither verbringt er mit dem Sohn eines Hamburger Obst- und Gemüsehändlers, der vom Herbst 1960 an die Schauspielklasse von Eduard Marks an der Hamburger Musikhochschule besucht und am Schauspielhaus gelegentlich assistiert hat, regelmäßig die Ferien, obwohl dieser, nicht ganz unanstrengend für Gründgens, oft »vor Vitalität aus dem Anzug fällt«14. Am Abend des 13. September sehen sie im Londoner Cambridge Theatre das Musical HALF A SIXPENCE mit dem britischen Rock-’n’-Roll-Star Tommy Steele und feiern so den 25. Geburtstag von Schleiß. Am 15. September schiffen sie sich in Southampton auf der 1960 vom Stapel gelaufenen SS Canberra ein, dem größten Ocean Liner der Peninsular & Oriental Steam Navigation Company. »Das Schiff: man glaubt es nicht 2300 Passagiere.15 Alles in mißverstandener Sachlichkeit; die Aufenthaltsräume unterscheiden sich nur in ihren Namen, sonst sieht einer wie der andere aus. Das Essen grenzt an Skandal. Die Auswahl beschränkt sich auf je 2 Gerichte. Der Service ist gut und ein Schlager meine Kabine: sicher 40 qm«16, schreibt Gründgens seinem Adoptivsohn Peter Gründgens-Gorski. Die Zeit an Bord vertreibt er sich unter anderem mit der Lektüre von Günter Grass’ soeben erschienenem Roman HUNDEJAHRE; eine zentrale Figur darin ist der opportunistische Schauspieler Walter Matern, der, zunächst Kommunist, dann SA-Mitglied, seine Vergangenheit umdeutet, verdrängt und nur zum Teil eingesteht, bis diese schließlich zum Gegenstand einer öffentlichen Rundfunkdiskussion wird.

      Via Gibraltar und Neapel steuert die SS Canberra Port Said an und durchquert dann den Suez-Kanal, »und ich muß sagen, daß das zum Eindrucksvollsten gehört, was ich gesehen habe. Ein imponierendes Werk von Menschenhand. […] Jetzt ist es schon ganz schön heiß. Swimmingpool heute morgen um 7 Uhr 30 80° Fahrenheit.«17 Durch das Rote Meer und den Golf von Aden erreicht das Schiff nach zwei Wochen schließlich das vom Monsun durchnäßte Colombo, die feuchte Hitze ist schier unerträglich, selbst das Bettzeug klamm. Gründgens und Schleiß wohnen im an der Küste gelegenen Mount Lavinia Hotel, der 1806 errichteten, 1877 zum Hotel umgewandelten Residenz des britischen Gouverneurs, zwölf Kilometer südlich der Hauptstadt. Am hoteleigenen Strand geht Gründgens im Meer schwimmen, und obschon »kaum zum Aushalten«, da »nur heiß und feucht«, machen die beiden eine »große Überlandfahrt«18 in die einstige singhalesische Hauptstadt Kandy mit dem berühmten »Zahntempel«. Per Flugzeug reisen sie am 3. Oktober weiter nach Singapur, erst seit einem Monat unabhängig von den Briten, steigen dort im Hotel Inter-Continental an der Orchard Road 585 ab, »das fabelhaft ist; mit Klimaanlage und Swimmingpool«19, und besuchen trotz Regens eine Orchideenschau sowie am Abend die drei nahezu menschenleeren Vergnügungsparks »The Great World« in der Kim Seng Road, der neben seiner Hauptattraktion, einer Geisterbahn, weitere Fahrgeschäfte, vier Kinos, einen Nachtclub und zahlreiche Restaurants bietet, »The Happy World« in der Geylang Road, wo man sich ebenfalls in Kinos, Theatern, Cabarets und Tanzlokalen amüsieren kann, und den ganz ähnlichen Park »The New World« in der Kitchener Road, berühmt für die Auftritte des Wrestlers King Kong und der »Queen of Striptease« Rose Chan. »Bis jetzt seit Suez keine Sonne mehr gesehen. Aber jetzt geht es wieder aufwärts (auf dem Globus)«20, berichtet Gründgens. Von Singapur fliegen die beiden in die philippinische Hauptstadt Manila, wo sie am Sonntag, dem 6. Oktober, eintreffen. Über Hongkong, Tokio, Honolulu, Los Angeles, Mexiko-Stadt, Acapulco, San Juan in Puerto Rico, die jamaikanische Hauptstadt Kingston, Miami und New York soll die Reise rechtzeitig zu den Weihnachtsfeiertagen zurück nach Hamburg führen.

      Gründgens und sein Freund checken kurz nach 14 Uhr im Manila Hotel am Rizal-Park ein, dem 1912 eröffneten ersten Haus am Platz. Der übermüdete und aufgrund der Nachricht, er müsse wegen einer für die Weiterreise erforderlichen Cholera-Impfung sechs Tage lang auf den Philippinen bleiben, ungehaltene Gründgens ist unzufrieden mit dem reservierten

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