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der meisten Vereine ganz genau, was sie ihrem Publikum noch zumuten wollen. Denn sie ahnen, dass sie ihm nicht alles zumuten können. Die Ultras haben es ihnen beigebracht. Und spätestens seit der „12:12“-Kampagne, mit der die bundesdeutsche Ultra-Szene ihren Widerstand gegen ein von den Vereinen geplantes Sicherheitskonzept bündelte und damit auch in den Medien viel Wohlwollen erntete, werden Ultras auch als politische Akteure ernst genommen.

      Auch mit ihrer Kommerzkritik haben die Ultras viele Forderungen der kritischen Fanszene übernommen und modernisiert, sie sprechen vieles aus, was den meisten im Stadion aus der Seele spricht. Und solange das so ist, wird es nicht gelingen, „die normalen Fans“ gegen „die Ultras“ auszuspielen, wie das der eine oder andere Vereinsfunktionär schon probiert hat. Sie kalkulieren dabei mit ein, dass Ultras ja durchaus Dinge tun, die dem Mehrheitswillen im Stadion zuwiderlaufen. Wenn zwei Minuten vor Abpfiff in einem hochdramatischen Spiel die Gästekurve meint, mit Licht und Rauch auf sich aufmerksam machen zu müssen, stößt das bei 90 Prozent der zahlenden Zuschauer bestenfalls auf Unverständnis, und wenn die 60 Quadratmeter große Schwenkfahne Hunderten von Menschen die Sicht aufs Spielfeld versperrt, wird der friedlichste Familienvater zum Berserker.

      Dass „die Ultras“ ein Ärgernis sind, hört man jedenfalls in manch einem Stadion – und zwar von den gleichen Leuten, die ehrlicherweise zugeben, dass ohne „die Ultras“ gleich gar nichts mehr los wäre.

      Dabei gibt es „den Ultra“ tatsächlich nicht. Jede Gruppe interpretiert die Erfordernisse der Szenezugehörigkeit anders. Und das von der Gewaltfrage über die Organisationsstruktur bis zur politischen Orientierung. Wenn kein Außenstehender zuhört, kann es vorkommen, dass die einen den anderen absprechen, echte Ultras zu sein. Was als Vorwurf dann natürlich gleich zurückgegeben wird. Es gibt Gruppen, die eine hierarchische Struktur haben. Wer als Jungspund zur Gruppe stößt, stellt sich erst einmal hinten an. Bei anderen Gruppen herrscht strikte Basisdemokratie, sie spotten über das „Führerprinzip“. Und auch über die Art und Weise, wie Ultra-Anfeuerung heutzutage zu klingen habe, wird munter gestritten. Dass die dann getroffenen Entscheidungen von allen mitgetragen werden, kann man bedenklich finden, oder bemerkenswert solidarisch. Es ist wohl beides.

      Philipp Köster, Chefredakteur des Fußball-Magazins „11 Freunde“, hat die von Ultras praktizierte Form des Dauer-Supports in einem Leitartikel einmal mit nordkoreanischen Massenaufläufen verglichen. Damit sprach er vielen älteren Fußballfans aus der Seele, die die jugendliche „Stimmungsdiktatur“ anprangern. Sie verstehen nicht, warum die Atmosphäre in der Kurve so prächtig ist, wenn die eigene Mannschaft kurz vor Schluss 0:4 zurückliegt. Allerdings sitzt diese Kritik einem Missverständnis auf: Ultras bejubeln ja nicht die eigenen Spieler, sie wollen stattdessen „dem Verein“ (was auch immer das sein mag, es hat für Ultras viel mit dessen Tradition zu tun) durch ihren Support ein Denkmal setzen. Das klingt für ältere Semester befremdlich, die als Kinder Autogramme gesammelt haben und den Schützen des 1:0-Tores beim Derbysieg hochleben ließen. Beides würden Ultras eher nicht tun. Warum sollten sie einem Spieler zujubeln, der schon morgen, ohne mit der Wimper zu zucken, zu einem Verein wechseln würde, der ihm den größeren Dienstwagen in die Garage stellt?

      Dieses Kosten-Nutzen-Denken unterstellen Ultras zumindest den meisten Vertretern der heutigen Spielergeneration, weshalb Profis wie Kevin Großkreutz, dessen Liebe zu Borussia Dortmund wohl selbst der eingefleischteste Schalker als aufrichtig interpretieren würde, auch szeneübergreifend als Ausnahmeerscheinungen wahrgenommen werden. Was – viel Feind, viel Ehr – natürlich auf Schalke dazu führt, dass er dort besonders lautstark angefeindet wird.

      Ultras denken anders. Sie drücken sich auch anders aus. Wenn ein Dortmunder Ultra sagt, dass „Schalke heute gut war“, kann der BVB gegen eine grottenschlechte Schalker Mannschaft 8:0 gewonnen haben. Unser Ultra meint mit seinem Lob die gegnerische Fankurve. Viele waren’s. Gute Choreografie, und gehört hat man sie in der gegenüberliegenden Kurve auch. Keine Frage: Schalke war gut.

      Doch die Ultra-Bewegung sah sich zumindest bei ihren italienischen Gründern nicht als jubelnde Staffage, als dauer-emotionalisierte Jubelperser, sondern als kritische Gegenöffentlichkeit. Im Zuge der 68er-Umwälzungen machten in Bologna, Rom oder Mailand linksgerichtete Studenten die Fankurven zum selbstverwalteten gesellschaftlichen Experimentierfeld. Die noch heute typischen Ultra-Aktionsformen (Megafon, Doppelstockhalter, Transparente) entstammen dieser linken Demo-Subkultur genauso wie die Antihaltung gegen Polizei, Politik und Medien. Bis weit in die Neunziger waren dann auch viele italienische Ultra-Kurven linksgerichtet – nicht zuletzt die des AC Milan, deren „brigate rossenere“ (rotschwarze Brigaden) nicht zufällig sowohl auf die Vereinsfarben als auch auf die politische Gesinnung verwiesen.

      Hierzulande gibt es einige wenige Gruppen, die kein Problem damit zu haben scheinen, dass sich Neonazis in ihrer Mitte tummeln. Es gibt aber weitaus mehr, die sich als Linke begreifen. Und es gibt die große Masse an Gruppen, die sich als „unpolitisch“ verstehen, aber keine rechte Agitation in ihrer Mitte dulden. Wenn rassistische Pöbeleien, wie sie Mario Balotelli in Italien ertragen muss, hierzulande kaum noch zu hören sind, liegt das auch an der Dominanz der Ultra-Szenen, die ihr Fandasein mit einer ungeheuren Energie betreiben.

      Die Ultra-Szene begreift sich als Subkultur und verhält sich dementsprechend. Man mag die Geheimnistuerei und die Abschottungsrituale merkwürdig finden. Und wenn man älter als 25 ist, findet man sie geradezu zwangsläufig merkwürdig – auch weil sich der Stellenwert des Fußballs in ihrem Leben für die meisten Menschen mit zunehmendem Alter eher relativiert. Bei den Ultras gibt es nichts zu relativieren: Der Fußball ist ihnen im Zweifelsfall wichtiger als Beruf, Ausbildung oder Privatleben. Wer einen x-beliebigen Ultra fragt, ob er noch Freunde außerhalb der Fußball-Zusammenhänge habe, erntet recht oft ein betretenes Kopfschütteln. Wer fragt, ob schon mal eine Beziehung zerbrochen sei, weil die Partnerin die Prioritätensetzung eines Ultras nicht immer nachvollziehen konnte, erntet oft die Gegenfrage: „EINE Beziehung?“

      All das mag befremden. Wenn man sich allerdings daran erinnert, wie man selbst als Jugendlicher war, erscheint der Ultra-Lifestyle mit einem Mal gar nicht mehr so fremd. Oder wäre es einem selbst wichtig gewesen, die Elterngeneration immer und überall über das eigene Tun zu unterrichten? Um Verständnis zu betteln, die Akzeptanz der Spießer, vielleicht auch nur die der rot-grünen Sozialpädagogen, Lehrer und Journalisten zu erlangen? Eben.

      Heute ist „Ultra“ nicht nur nach Einschätzung des Leiters der Koordinierungsstelle der Fanprojekte, Michael Gabriel, die „attraktivste jugendliche Subkultur, die es in Deutschland gibt“, mindestens 25.000 gibt es bundesweit, deren Engagement selbst von ihren größten Kritikern nicht bestritten wird.

      Auch der eigentlich ausgesprochen demokratische Ansatz, sich bei dem, was einen angeht, einzumischen, stößt bei vielen traditionellen Fans und bei den Offiziellen auf Skepsis. Kein Wunder: Für die Vereinsbosse waren sowohl die Kuttenfans als auch die Hools vergleichsweise unkomplizierte Zeitgenossen. Sie stellten keine unbequemen Forderungen. Und wenn die Fanschal-Fraktion doch mal unzufrieden war, schickte man eben mal einen Spieler zur Autogrammstunde in die Vorstadt. Und schon war wieder Ruhe. Seit die Ultras das Kommando in den Fankurven übernommen haben, ist es vorbei mit der Ruhe. Das muss man nicht negativ finden.

       SCHICKERIA MÜNCHEN

       DAS BESTE AM FC BAYERN

      Man kennt das Lamento älterer Herrschaften um die 40: Die Jugend von heute ist langweilig, angepasst und unselbstständig. Es gibt keine alternativen Jugendlichen mehr, nur noch Deppen, die den Superstar suchen. Keine kritischen jungen Leute mehr?

      Hier sind sie doch. Mitten in München haben sich die Ultras von der „Schickeria“ getroffen. Passenderweise im Café Marat, einem typischen autonomen Jugendzentrum, in dem auch 40- oder gar 50-Jährigen das Herz aufgeht. Vielleicht liegt es daran, dass auch so viele langgediente Fansozialarbeiter gekommen sind, Volker Goll und Michael Gabriel beispielsweise, oder Günther Krause, der langjährige Leiter des Münchner Fanprojekts. Zum Thema „Die italienischen Ultras und der Rechtsradikalismus – ein Gesprächsabend“ ist ein kompetentes Podium geladen, darunter der Publizist Andrej Reisin, Jonas Gabler und Kai Tippmann, der Experte schlechthin, wenn es um italienische

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