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gelobte die Szene damals in den Neunzigern, nicht nur jedes Spiel ihres Teams zu sehen („unbedingt Präsenz zeigen“) und keinesfalls mit Vereinsvertretern oder der Presse zu kooperieren. Und natürlich schon gar nicht mit der Polizei, dem Feindbild Nummer eins eines jedes anständigen Ultras. Es gehe darum, „sich nicht von den Autoritäten unterdrücken zu lassen“ und die „Ware TV-Fußball“ zu sabotieren, hieß es im „Manifest“ angemessen dramatisch.

      Die Bedeutung des Ultra-Manifests für die deutschen Ultras hat im Laufe der Jahre deutlich nachgelassen, viele Gruppen lächeln heute eher darüber. Nichtsdestoweniger enthält es – in überzeichneter Form – einige unverrückbare Elemente der Ultra-Kultur. Der DFB-Sicherheitsbeauftragte Hendrik Große Lefert berichtete jüngst im kleinen Kreis von einem Gespräch mit einem Kopf der deutschen Ultra-Bewegung. Es sei ein gutes Gespräch gewesen, das allerdings in einem bestimmten Moment an einen Scheidepunkt geraten sei. „Der hat mir glatt ins Gesicht gesagt, dass für ihn das Ultra-Manifest verbindlicher ist als das Grundgesetz.“ Große Lefert war schockiert.

      Das Label „Ultra“ beschreibt allenfalls den kleinsten gemeinsamen Nenner der Bewegung. „DIE Ultras gibt es nicht“, war wohl der am meisten gehörte Satz bei der Recherche. Was keinen, der ihn sagt, davon abhält, ein paar Gemeinsamkeiten zu formulieren, die zumindest hierzulande alle Ultras einen. „Es gibt da allenfalls einen Grundtenor“, meint auch Fabian aus Fürth. „Man möchte sich, seine Gruppe und seine Städte bestmöglich nach außen hin repräsentieren und zusammen mit seinen Freunden eine coole Gemeinschaft leben.“ Der Gemeinschaftsgedanke eint auch die Gruppen, die – wie in Gelsenkirchen oder Frankfurt – 800 bis 1.200 Mitglieder umfassen. Selbst in facebook-Kategorien gemessen, sind das zu viele Personen, als dass man mit allen befreundet sein könnte. Doch die Gruppen setzen sich in der Regel aus einem harten Kern zusammen – meist sind es die Mitglieder, die am längsten dabei sind – und einem Unterstützerkreis, den man erst mal beobachtet, bis man ihn in seine Mitte aufnimmt.

      Unbequem, meint Fabian, wollten wohl alle Ultra-Gruppen sein. Doch darüber, was das bedeute, gingen die Meinungen stark auseinander: „Niedrige Eintrittspreise und fanfreundliche Anstoßzeiten wollen alle, aber schon bei den unterschiedlichen Support-Stilen enden die Gemeinsamkeiten.“

      Die zunehmende Kommerzialisierung des „Premium-Produktes Bundesliga“ (Eigenwerbung des Ligaverbandes DFL) stößt allerdings Fans in allen Stadionbereichen übel auf. Dass in manchem Stadion jeder Eckball von einem Sponsoren „präsentiert“ wird, nervt längst nicht nur die Ultras. Doch sie sind es, die am heftigsten dagegen opponieren. Das schafft Solidarisierungseffekte bei älteren, bürgerlichen Fans, die das Gewese in der Kurve gerne einmal despektierlich als „Hüpfburg“ bezeichnen. Der Schlachtruf der Ultras – „Gegen den modernen Fußball“ – fasst vieles zusammen, was auch andere Stadiongänger nervt. Pyrotechnik und die (streng reglementierte) Länge der Blockfahnen-Stäbe mögen dabei Ultraspecial-interest sein. Aber wer weiß, mit welcher Vehemenz Vereine wie Hoffenheim oder RB Leipzig in den Fanforen von Rostock bis Burghausen angefeindet werden – als vermeintliche Stellvertreter des modernen Fußballs, der meint, auch ohne gewachsene Fanbasis auskommen zu können – ahnt, wie stark Ultras auch als lautstärkste Gruppe im Stadion das artikulieren, was fast alle im Stadion denken. Mancher Vereinsvertreter würde sich wohl wundern, wie negativ das Bild des „offiziellen“ Fußballs in den Stadien längst nicht nur bei den Ultras ist.

      Michael Gabriel von der sozialpädagogisch orientierten Koordinierungsstelle der Fanprojekte kommt jedenfalls zu einem bedenklichen Urteil. Die Vereine hätten mehrheitlich keinen blassen Schimmer, wie die Fans in der Kurve ticken. „Sie müssen auf die Fans zugehen und sie so pflegen, wie sie das mit den Sponsoren tun“, fordert er. Ultras schlügen schließlich auch deshalb über die Stränge, weil sie den Eindruck hätten, dass ihr Engagement und ihre Kreativität von den Vereinen nicht honoriert würden.

      Das mit dem Aufeinander-Zugehen ist allerdings so eine Sache. Zwar erkennen immer mehr Ultras, dass sie sich selbst schaden, wenn sie ihre Sicht der Dinge nicht im Dialog vertreten. Doch die Front der Verweigerer ist immer noch groß. Für viele von ihnen ist „Ultra“ vor allem Widerstand, jeder Kompromiss deshalb Verrat. Deshalb schotten sie sich ab wie Geheimlogen. Wer die Hardliner reden hört, stößt zuweilen auf ein schlichtes Weltbild, in dem Polizisten die prügelwütigen, sadistischen Schergen eines faschistoiden Überwachungsstaates sind – und Journalisten jedweder Couleur deren Hofberichterstatter, die, ohne zu recherchieren, Polizeiberichte abschreiben.

      „Ultra“, und das betonen wiederum alle in der Szene, bedeute weit mehr, als einfach nur Fan eines Vereins zu sein. Das Ganze sei ein Lebensstil, mit dem man Erfahrungen mache, die zwangsläufig auf alle gesellschaftlichen Bereiche Auswirkungen haben. Wer im Stadion keinen Schritt machen könne, ohne von einer Kamera gefilmt zu werden, müsse als Ultra auch gegen die Überwachungskameras auf dem Marktplatz sein. Begriffe und Codes wie „Autonomie“, „Widerstand“ oder das allgegenwärtige „ACAB“ („All cops are bastards“) wabern durch den Raum, wenn Ultras über ihren Alltag reden.

      Dementsprechend martialisch geben sich manche Teile der Szene. Schwarze Kleidung wird bevorzugt, auch Sonnenbrillen und Palästinensertücher sind beliebt. Die Mimikri, sagen die Ultras, soll die Identifizierung durch die Überwachungskameras der Polizei erschweren. Es komme schließlich vor, dass Ultras allein deswegen Stadionverbot bekommen, weil sie einen Sticker auf einen Wellenbrecher geklebt haben. Das Outfit dient aber auch der Selbstdarstellung als Bürgerschreck. Wenn Passanten beim Nahen eines Ultra-Pulks verschreckt die Straßenseite wechseln, fühlen sie sich bestätigt.

      Ob Gewalt zur Ultra-Identität gehört, ist zwischen den Gruppen umstritten. Die erste Ultra-Generation hatte mit Schlägereien noch wenig am Hut. Zwischen ihnen und den Hooligans, den Fußball-Gewalttätern, gab es in den Anfangstagen kulturell keine Berührungspunkte. Das hat sich bei einem Teil der Ultras gründlich geändert. Prügeleien mit rivalisierenden Gruppen oder der Polizei gehören für diese Gruppen zum Spieltagsmenü. Mancherorts hat sich die Gewaltspirale auch schon bis zum Anschlag gedreht. In erschreckend vielen Städten berichten Ultras, dass sogenannte Hausbesuche in ihren Städten vorkommen: Anhänger der rivalisierenden Gruppen werden in deren Privatwohnung heimgesucht, dort bedroht oder gleich zusammengeschlagen. Doch die Hochzeit der „Hausbesuche“ scheint Gott sei Dank vorbei zu sein.

      Wohlgemerkt: Diese Gewaltexzesse sind Randerscheinungen einer Ultra-Kultur, die zwar fast in ihrer Gänze gewaltfasziniert ist, von der aber nur eine Minderheit selbst gewalttätig ist. Dass diese Feststellung im krassen Gegensatz zur öffentlichen Wahrnehmung steht, hat tatsächlich auch mit manch grotesk überzeichnetem Fernsehbericht zu tun. Und damit, dass seit der Fußball-WM 2006 der Hype um den Fußball einfach nicht abklingen will.

      Zu Hochzeiten des Hooliganismus in den achtziger und neunziger Jahren bevölkerten mancherorts mehrere hundert Gewalttäter die Stadien und gelangten zum Teil mit Messern und anderen Waffen auf die Tribünen. Nicht selten wurde mit Leuchtspurmunition in den gegnerischen Fanblock gezielt, Massenschlägereien waren an der Tagesordnung.

      Früher war also nicht alles besser – im Gegenteil. Doch heute gelangt jede noch so kleine Schubserei ins Internet, tausendfach kommentiert und nicht selten von denjenigen gepostet, die sich nachher über die vermeintliche Hysterie aufregen. Auch Ultras filmen und fotografieren jede Minute ihres Daseins wie selbstverliebte Schauspieler, sie sind Kinder ihrer Zeit, Junkies des hyperventilierenden Internetzeitalters.

      Und dennoch: Verglichen mit den achtziger und frühen neunziger Jahren, geht es beim Fußball heutzutage geradezu idyllisch zu – auch wenn das außerhalb der Fußballszene ganz anders wahrgenommen wird. Ultras stehen allerdings nicht nur gegenüber der kritischen Öffentlichkeit unter Rechtfertigungsdruck, sondern in vielen Städten auch gegenüber Teilen der Fanszene. Dabei haben die Ultras mit einem Hinweis recht: Als sie das Kommando in den Fankurven übernahmen, gab es weder Tote noch Verletzte: Junge, engagierte Leute stießen in das Vakuum, das dort entstanden war. Was sie vorhatten, beobachteten auch viele Ältere mit Wohlwollen. Denn Jungen wie Alten war klar, dass etwas Neues kommen musste, dass die traditionelle Fankultur in Langeweile erstarrt war und sich in immer mehr Stadien eine träge Masse dem Anpfiff entgegenlangweilte. Zugleich dienten die Fans auf den Rängen einer immer dreister werdenden Entertainment-Industrie mit Cheerleadern und

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