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       DIE VERSCHLUNGENEN WEGE VON DEUTSCHLANDS ERFOLGREICHSTER JUGENDKULTUR

      Die Ultra-Bewegung umweht die Aura des Neuen. Das mag lächerlich klingen. Zumindest für Ultras. Schließlich haben hierzulande die ersten Gruppen bereits ihr 15-jähriges Bestehen gefeiert. Und dennoch könnte die Mehrheit der Fußballinteressierten wohl nicht so genau erklären, was es mit diesen merkwürdigen Ultras auf sich hat. Sind es besonders fanatische Fans? Sind es moderne Hooligans, skrupellose Fußballschläger? Das glauben vor allem viele Menschen, die lange nicht mehr im Stadion waren. „Ultra“ klingt jedenfalls extrem, verrucht, vielleicht sogar ein bisschen gefährlich. Und das soll es vielleicht auch

      Mitte der Neunziger fanden die ersten jungen Fußballfans zusammen, denen die eingefahrenen Rituale in den Kurven zu langweilig geworden waren. Zwar hatten sich mancherorts bereits Ende der Achtziger kritische Fanszenen gebildet, die zum Teil spektakulär gut gemachte Fanzines herausgaben und mit dem Bild des tumben Fußballfans gründlich aufräumten. Doch sie waren meist allenfalls das intellektuelle Aushängeschild einer Kurve, die sie meist nur partiell erreichte. Deren stimmgewaltige Mitte waren fast überall die Kutten-Fans, deren einprägsamste Vertreter eine mit Aufnähern übersäte Jeansjacke, Trikot und Schal trugen – die Unerschrockeneren unter ihnen banden sich auch gerne einmal deren fünf um ein einziges Handgelenk. So oder so ging man gemeinsam ins Stadion, trank ein paar Pils – und wartete auf das nächste Auswärtsspiel. Fußball war etwas, das sich am Wochenende abspielte. Und nur am Wochenende. Es sei denn, der Kassenwart des Fanklubs war mit den Einnahmen der Tombola durchgebrannt, und es stand eine Nachwahl an. Dann gab es eine Sondersitzung neben der regulären Weihnachtsfeier.

      Mitte, spätestens Ende der neunziger Jahre traten dann die Ultras auf den Plan. Den meist sehr jungen Fußballfans reichte es nicht mehr, zweimal pro Saison zu fordern, ihr Team möge den Bayern doch bitte die Lederhosen ausziehen und „Cologne“ auf „Scheiße vom Dom“ zu reimen. Von der Tristesse bei den Spielen ihrer Lieblingsvereine hatten sie gründlich die Nase voll. Die Nachwuchsfans blickten sehnsüchtig nach Italien. Dorthin, wo die Fans seit den frühen sechziger Jahren eine ganz andere Kultur praktizierten als ihre Kollegen in Nord- und Mitteleuropa. Jenseits der Alpen, in Italien, so hörte man damals, hatte sich eine andere, eine farbenfrohere, kreativere und originellere Fankultur entwickelt.

      An spielfreien Wochenenden machten sich also per Auto oder Zug Fans aus allen Teilen der Republik nach Rom, Parma oder Genua auf, um in den dortigen Fankurven auf Bildungsreise zu gehen. Für sie wurde Italien das gelobte Land der Fußballkultur. Und sie sahen schon kurz darauf keinen einzigen Grund mehr, warum das, was jenseits der Alpen so gut funktionierte, in Deutschland nicht möglich sein sollte.

      Prompt machten sie sich ans Werk. Fleißig und detailversessen, wie Ultras nun mal sind. Statt sich zu Weihnachten das neue Trikot aus dem Fanshop zu wünschen, gestalteten sie ihr eigenes Merchandising. Statt Unterschriftenlisten auszulegen, schrieben sie Transparente. Und sie nutzten alle Kommunikationsformen, die das Internet ihnen bot. Die Anfangstage der Ultra-Bewegung schildern die Angehörigen der „ersten Generation“ als inspirierende und inspirierte Zeit. Man diskutierte viel, probierte noch mehr aus und tat das, was Jugendliche eben richtigerweise tun, wenn sie finden, dass das Leben zu kurz ist, um es ausschließlich vor verschieden großen Bildschirmen in abgedunkelten Räumen zu verbringen. Sie trafen sich mit Gleichgesinnten, aus denen nicht selten Freunde wurden. Sie redeten, feierten und tranken zusammen – und sie gingen zum Fußball.

      Auch in den deutschen Ligen tauchten nun Doppelstockhalter und Transparente auf, die Fangesänge wurden zentral von einem Menschen gesteuert, der sich Vorsänger nannte. Die ersten Choreografien wurden gezeigt, wochen- und monatelang werden die geplant, was selbst den größten Ultra-Kritikern in den Vereinen Respekt abnötigt. Auch Bengalos, leuchtende Fackeln, sah man wieder verstärkt in den Fankurven. Neu waren die allerdings nicht, das wird heute gerne einmal vergessen. Der Bieberer Berg in Offenbach und der „Betze“ in Kaiserslautern verdanken ihren im Rückblick immer legendärer werdenden Charme nicht zuletzt der Tatsache, dass die Fans dort an Abendspielen munter Fackel um Fackel anzündeten und damit Bilder lieferten, mit denen Fernsehsender und Stadionzeitungen nur zu gerne arbeiteten. Pyros waren damals nicht nur nicht geächtet, sie waren vom offiziellen Fußball geachtet. Und das lange, lange, bevor das Wort „Ultra“ zu einem feststehenden Begriff der Fußballsprache wurde wie „Ball“ oder „Abseits“.

      Für die meisten Ultras ist zudem die „Zaunfahne“, hinter der sie sich im Stadion versammeln, ein Fetisch. Kommt die Textilie zu Schaden, ist das die denkbar größte Schande für eine Gruppierung. Als Kölner Ultras die Zaunfahne der rivalisierenden Gladbacher stahlen, löste sich „Ultras Mönchengladbach“ auf. Sie hatten zugelassen, dass ihre Standesehre beschmutzt wurde.

      Wem das alles ein wenig verrückt vorkommt, der hat gute Argumente auf seiner Seite. Aber auch die Riten von Gruftis, Burschenschaftern oder Karnevalisten wirken auf Außenstehende hochgradig autistisch. Wer in eine Subkultur eintaucht, verliert eben manchmal den Kontakt zum Leben oberhalb der Subkultur. Erschreckend viele Ultras geben zu, dass sie kaum noch Freunde außerhalb von Fußballzusammenhängen haben.

      Am Fan-Dasein änderte sich weit mehr als nur Äußerlichkeiten. Mit dem Aufkommen der Ultras wurde es zur Vollzeitbeschäftigung, Fan eines Fußballvereins zu sein. In vielen Gruppenräumen stehen Tischkicker, Tischtennisplatten und Billardtische, es gibt einen Tresen – kurzum: Alles das, was die Jugendzentren oft aus Finanzmangel kaum noch bieten können, organisieren (und finanzieren) die Ultras selbst. Ins Jugendzentrum gehen sie natürlich schon lange nicht mehr. Warum auch, wenn sie in ihrer Ultra-Gruppe unter Gleichgesinnten sind. Und damit Teil eines kompletten Lebensentwurfes, der auch alltägliche Hilfestellungen beinhaltet, Ältere helfen Jüngeren bei den Hausaufgaben, alle sich wechselseitig beim Umzug. Mindestens einmal wöchentlich trifft sich jede Gruppe, an den anderen Tagen werden Choreografien gebastelt, für Ultras ist jedes Pflichtspiel ihres Vereins auch ein Pflichtspiel für sie selbst. Manch einer bleibt im Sommer zu Hause, weil ein Großteil des Jahresurlaubs für die Auswärtsspiele an Freitagen und Donnerstagen draufgegangen ist. Dass Ultras gegen die Zersplitterung der Spieltage kämpfen, ist also nur logisch. Weil sie so unendlich viel für ihre Leidenschaft tun, entsteht andererseits ein manchmal ungesundes Selbstbewusstsein: Manche Ultra-Fürsten stolzieren so demonstrativ durch den Block, als wären sie kurz davor, Autogrammkarten von sich drucken zu lassen. Überhaupt sind Ultras Meister der Selbstinszenierung: Wer einmal erlebt hat, wie sich hunderte Fans, die Sekunden zuvor hochkonzentriert ihre Lieder abgesungen haben, mit dem Schlusspfiff, also quasi auf Knopfdruck, in die wildesten Erregungszustände beamen können, brüllen, Fäuste schütteln und an Zäunen rütteln, weiß, was gemeint ist. Hinter dem Ultra-Dogma „Ihr für uns, wir für euch“ steckt also auch eine Circus-Maximus-Mentalität, die man sehr unsympathisch finden kann: Das Volk senkt den Daumen. Es fordert zwar nicht den Tod der Gladiatoren, zählt aber mit dem Metermaß nach, wie eng sich die Spieler mit angemessen gesenkten Köpfen den wütenden Massen genähert haben. „Ein saublödes Ritual“, sagt ein Erstliga-Spieler. „Wenn die wütend sind, kann man sich mit denen nicht unterhalten, es geht dann nur darum, sich beschimpfen zu lassen und mit gesenktem Kopf in der Kabine zu verschwinden.“

      Die Attraktivität der Ultra-Bewegung ist noch heute ungebrochen. Beobachter halten die Ultras für die größte jugendliche Subkultur dieser Tage – was allein schon mangels Alternativen stimmen dürfte. Teenager, die zum ersten Mal ohne ihren Papa ins Stadion gehen, zieht es bei Popkonzerten in die erste Reihe. Und im Stadion zu den Ultras. Dorthin, wo am meisten los ist. Um nicht allzu schnell zu wachsen, haben einige Ultra-Gruppierungen Aufnahmesperren verhängt. Wer zum harten Kern der Gruppe gehören will, muss sich vorher bewähren. In manchen Gruppen durch Sozialverträglichkeit, in anderen durch Frondienste: Der Nachwuchs einer großen Ultra-Gruppe wird bei Auswärtsspielen in den Block geschickt, um dort erst mal alle Aufkleber abzukratzen, die von Gruppen anderer Vereine in den Monaten zuvor verklebt wurden. Bei gewaltaffineren Gruppen stehen Mutproben auf dem Programm: Erbeutete gegnerische Schals dienen dann beispielsweise als Skalp. So oder so: Neulinge haben sich einzufügen in das, was die Gruppe als ihre „Identität“ ausmacht. Die wird mal von den Altvorderen vorgegeben, mal basisdemokratisch ermittelt, in jedem Fall aber ist sie bindender als der Fraktionszwang im Berliner Reichstag.

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