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mit uns lachte.

      Lachen gab es sonst nicht zu Hause. Wenn Freunde zu mir kamen, hatten sie oft Angst vor der Stille in unserem Haus.

      Lange Zeit dachte ich, etwas würde mit mir und meiner Familie nicht stimmen. Ich habe die Mitglieder meiner Familie schon immer als unfreie, verängstigte Menschen wahrgenommen.

      Mein kindlicher Verstand versuchte, den reich gedeckten Schabbattisch, das edel eingerichtete Haus in Einklang mit den vorherrschenden Emotionen zu bringen. Objektiv war doch alles da, es gab reichlich Essen, wir hatten ein schönes Zuhause, und doch waren da diese Extreme. Das, was ich sah, ein wohlgeordnetes bürgerliches Leben, war einfach nicht kongruent mit den Verhaltensweisen meiner Familie. Entweder es herrschte Stille oder man stritt fürchterlich über Nichtigkeiten.

      Immer wieder verglich ich meine Familienstruktur mit anderen Familienstrukturen und konnte keinen Unterschied erkennen. Ich hatte doch alles – Mutter, Vater, Schwester und sogar ein Haus mit Garten.

      Wieso die Stimmung in unseren vier Wänden so abrupt wechselte, konnte ich mir nicht erklären. Ich fühlte Unbehagen, wenn ich neue Freunde zu mir nach Hause einlud. Ich wusste nicht, wieso, ich spürte nur, dass es bei uns anders war als in anderen Familien. Neue Freunde waren die Mitschüler der staatlichen Schule.

      Bei alten Freunden, denen, die ich seit meiner Geburt, aus dem jüdischen Kindergarten, aus der jüdischen Schule kannte, war das anders. Ich wusste, dass Mama sich freute, wenn sie mit mir nach Hause kamen. Mehr noch, Mama war ruhiger, wenn ich jüdische Freunde um mich hatte.

      Bei uns hatte man leise zu sein. Es wäre mir nie in den Sinn gekommen, laut durch das Haus zu toben, Fangen zu spielen oder wild im Garten herumzurennen. Im Nachhinein frage ich mich oft, ob ich ein lethargisches, lahmes Kind war, doch das war ich natürlich nicht. Ich liebte wie jedes kleine Mädchen Musik, Ballett und die rosafarbenen Tütüs.

      Ich dachte, meine Großeltern, meine Mama und meine Tante hätten Depressionen. Ich hatte Angst davor, dass sie mich anstecken würden mit ihrer Traurigkeit. Oft saßen sie abwesend und stumm neben mir und ich wusste nicht, wieso sie nichts sagten. Ich dachte, mir würde ein schreckliches Geheimnis vorenthalten. Vielleicht drohte uns eine Umweltkatastrophe oder eine genetische Krankheit und sie wollten mich schonen und sprachen deswegen nicht viel. Ich wusste nicht, was es war, ich wusste nur, dass uns – der ganzen Familie – eine Katastrophe unausweichlich bevorstand.

      Ich hatte Angst, lange mit ihnen in einem Raum zu bleiben, weil ich sonst auch ein Mensch werden würde, der keine Freude empfindet. Aber als ich das dachte, schämte ich mich gleich dafür und malte mir aus, wie hoch die Schmerzgrenze wäre, die ich in Kauf nähme, um meine Familie glücklich zu sehen.

      Ich überlegte, ob ich dafür Kot essen würde, ob ich mir einen Arm abschlagen ließe, beide Arme, beide Beine? Ich würde alles tun, um sie lachen zu sehen. Sterben auch? Natürlich auch sterben.

      Damit war ich zufrieden. Ich verrate euch nicht, ich leide mit euch. Wenn dies das unsichtbare Band zwischen uns ist, bin ich eine von euch. Ich kann ja ab und an lachen – heimlich, für mich, es muss nicht mit euch sein, nicht vor euch, schon gut, ich gehe mit euch den ganzen Weg.

      Wenn ich eine besonders gute Note in der Schule geschrieben hatte, erzählte ich das meinem Opa. Meistens sagte er dann: »A glik hot mich getrofn.« Wenn ich mich während des Schabbats in meine Bücher flüchtete, um der Stille zu entkommen, fragte er: »Wifil ken a mentsch leisn, far wus gaist di nischt arbeitn?«

      Ich war dreizehn und wusste nicht, was ich ihm hätte entgegnen können. Papa starb, als ich elf war. Danach war mein Opa das einzige männliche Familienmitglied. Ich verbrachte viel Zeit mit ihm, und so prägte er mich wie ein Vater.

      Meine Großeltern waren nach dem Krieg nie richtig sesshaft in einem Land geworden. Sie pendelten die meiste Zeit ihres Lebens zwischen Israel und Deutschland hin und her. Sobald sie in Deutschland waren, wollte meine Oma zurück in das Heimatland unseres Volkes. Ich glaube, sie schämte sich, als Jüdin hier in Deutschland zu sein. Es kam ihr wohl einfach nicht gesund vor, in einem Land zu leben, das ihr alles genommen hatte. Waren sie in Israel angekommen, schimpften sie, Israel sei nur dafür gut, Wäsche zu trocknen. Mein Opa vermisste das gute deutsche Brot und den Nescafé.

      In meiner frühesten Kindheit flogen wir in den langen Sommerferien nach Tel Aviv, um meine Großeltern zu besuchen. Die Koffer voll mit Brot, Kaffee und Nivea-Seife.

      TEL AVIV

      Mein Vater blieb in Frankfurt, er musste arbeiten. Heute denke ich, dass er bewusst nicht oft mit uns nach Israel gefahren ist. Wahrscheinlich wollte er nicht mit ansehen, wie meine Mutter sich in die Mutter ihrer Eltern verwandelt.

      Mamas Schwester Rachel arbeitete im Weizmann-Institut in Rechovot. Oma, Opa und Rachel empfingen uns am Flughafen. Das heißt, Rachel stand in der Ankunftshalle und Oma und Opa warteten im Auto.

      Bei dreißig Grad Hitze hieß Oma meine Schwester Zoé und mich mit einer heißen Kanne Kamillentee und Butterplätzchen willkommen. Oma gab uns keinen Kuss zur Begrüßung. Sie saß in dem Auto und wartete ungeduldig darauf, uns mit Bergen von Trauben, Plätzchen und Bananen zu versorgen. Widerrede war zwecklos, wir mussten alles essen, haufenweise.

      Die Verbindung zwischen meinen Großeltern, Mama und Rachel war so mächtig, dass es keinen Raum für mich und Zoé gab. Auch die Umwelt, das Wetter, die Politik, die städtebauliche Entwicklung Israels, alles, was normale Touristen interessierte, war ohne Belang. Wichtig war allein, dass Mamas Eltern und ihre Schwester Mama wieder hatten. Sie nahmen sie vollkommen in Beschlag. Am Tel Aviver Flughafen verlor ich meine Mutter, und ich wusste, dass Zoé und ich ab jetzt auf uns allein gestellt waren.

      Meine ersten Erinnerungen habe ich an Israel, als ich circa vier war und Zoé zehn. Zoé war als Ältere schon ab und zu alleine draußen, um mit den Nachbarskindern zu spielen. Ich hingegen war zu klein und musste den ganzen Tag in der Wohnung bleiben. Spielsachen gab es nicht. So dachte ich mir Spiele aus, um Oma und Opa zu unterhalten, die ich mir als edle Gesellschaft dachte.

      Ich zog mein schönstes Kleid an und servierte beiden eine Nana-Limonade, in der Hoffnung, dass sich ein Gespräch ergeben würde. Opa schaute durch mich hindurch und sagte: »Gai a wek ich mis gikn televisia.«

      Jeden Morgen um sechs weckte Opa mich, um mit mir auf dem schuk, den Markt in der Altstadt von Tel Aviv, zu gehen. Er sagte: »Kim Chanischi, me werdn gaien sichn dus letzte einhorn.«

      Ich war todmüde, aber das letzte Einhorn zu finden, war natürlich das Zauberwort. Ich weiß nicht, woher Opa das wusste, aber für ein Zauberpferd wäre ich wirklich meilenweit gelaufen. Ich war also hellwach, putzte mir schnell die Zähne und wollte rausstürmen, als Opa mich aufhielt: »Koidem mist di epes esn un trinken.«

      Vor mir standen drei Gläser Milch und ein riesiger Teller, auf dem sich gebratene Zwiebeln türmten. Mir wurde schlecht. Wie sollte ich das nur runterbekommen?

      Ich versuchte zu verhandeln: »Opa ich wer trinken ein glus milech, jo?«

      Opa, entsetzt: »Wus redst di, narisch kind? Host nischt gehert, wus hot pasiert in Tschernobyl?«

      Mit meinen vier Jahren wusste ich natürlich nicht, was in Tschernobyl passiert war.

      Ich: »Nein, wus hot pasirt in Tschernobyl?«

      Opa: »Di weist nischt, wus hot pasirt?«

      Ich: »Nein?«

      Opa: »Wus lernst di in der schul?«

      Ich: »Ich bin doch nuch nischt in der schul.«

      Opa: »Sch, sch, trink da milech. A miser kindergartn, in dreid mit deim ganzn jekeland.«

      Ich: »Aber wus hot den pasirt?«

      Opa: »Es is gewein a grois balagan mit a reaktor.«

      Ich: »Wus is dus?«

      Opa: »Oi, wus meinst, wer ich bin, a chemiker? Wot ich gewein a chemiker, wot ich gehobt

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