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Anfang, wie eine Geburt.« Er summte das Samba-Lied, lachte. »Du bist so heiß wie ein Vulkan, qué locura, so ein Unsinn.«

      Etwas reißt mich aus dem Schlaf. Alles ist dunkel, bis auf das orangefarbene Licht, das sich Spalten sucht zwischen den Vorhängen. Mit dem Licht kommen auch Stimmen von unten ins Zimmer, ich erkenne Doñas Lachen sofort. Andere fallen sich gegenseitig ins Wort. Alles an mir ist schwer. Noch immer habe ich die Klamotten von der Reise an, mein BH ist verrutscht und sticht mir Muster in die Haut. Ich stelle mich an das Fenster, schiebe mich zwischen die Vorhänge und starre auf die Markise unter mir. Sie ist eingerahmt von Rauch und den Lichtern darunter, es riecht nach Fleisch. Ein Alter kommt von der anderen Straßenseite, rennt fast, ruft schon von Weitem, ob es noch etwas gäbe. Doñas Stimme erwidert »Vengase!«, dann verschwindet er unter dem Rot-Weiß. Ich fühle mich beobachtet von all den Stimmen, manche Wörter sprechen sie fast wie mein Vater aus, der Ton hinter meinen Schläfen mischt sich langsam darunter. Nicht einmal in den Telenovelas sind die Worte so nah an denen meines Vaters gewesen.

      Wegen meines Vaters zog der Ton in meinen Kopf ein. Nach seinem Arztbesuch wartete ich mit dem Abendessen auf ihn. Er schloss auf, räusperte sich im Flur, wartete dann einen Moment, seufzte und kramte wie so oft seine sorgenlose Stimme hervor. »Oh oh, das riecht fantastisch, da lohnt sich diese Krankheit doch fast, für mich zumindest.« Er kam in die Küche und wich meinem Blick geschickt aus, musterte nur das Essen, rieb sich die Hände und ließ die Zunge über seine Lippen fahren, hob den Teller an und roch am Essen, während er die Augen weit aufriss. Seine Gesten waren zu übertrieben, als dass ich sie ihm hätte abkaufen können. Sie bewirkten das Gegenteil von dem, was er wollte. Die Diagnose stach aus jeder dieser kleinen Bewegungen hervor. Er holte aus, griff mir mit seinen kalten Händen ins Gesicht, suchte nach meinem Blick, jetzt war ich es, die auswich. Er lächelte gegen die Sorge in seinen Augen an. Genau da legte sich der Ton zum ersten Mal auf mich. Mein Brustkorb wurde hart, ich wollte nicht mehr atmen, er stach. Mein Vater ließ ab von mir, setzte sich an den Tisch, pfiff eine kurze Melodie, faltete die Hände, dankte Gott für das Essen, wartete kurz, »und für das Leben. Amen«. Ich konnte ihm nichts nachsprechen, alles an mir war starr, ich starrte auf seine Hände, darauf, wie er die Gabel zum Mund führte, kurz pustete, die Augen schloss und kaute. Mit großer Mühe ignorierte er, dass ich nur das sah, was er versteckte. Etwas durchfuhr mich heftig bei jeder seiner bekannten Bewegungen, beim Öffnen seines Mundes, beim Kauen, dem schweren Atmen durch die Nase. Am Ende war er ruhig. Mein Essen war kalt geworden, ein feiner Film lag auf der Soße, nichts dampfte mehr. Sein Teller war leer, er strich mit seiner Gabel Muster in die Rückstände der Soße, immer im selben Tempo, von oben nach unten und zurück wie ein Pendel. Das Kratzen auf seinem Teller wurde in meinem Kopf lauter, durchfuhr mich heftig, er machte immer weiter, ich wollte nach seiner Hand greifen, sie stoppen, drücken, an ihr zerren, aber mein Körper machte nichts. Das spitze Geräusch seiner Gabel stieg in meinen Kopf, blieb dort, kreiste, drückte von innen gegen meine Schädelwände, veränderte sich, ich wollte die Augen schließen, es ging nicht.

      Doña klopft. Ich erkenne sie an den zögernden Pausen. Sie flüstert meinen Namen in den Türspalt hinein, ich sage nichts, sie versteht es als Einladung, öffnet die Tür, ich drehe mich zu ihr, so in der Tür sieht sie groß aus, lächelt, räuspert sich, setzt ein paar Mal an, »willst du?« Sie geht auf mein Bett zu, stützt sich mit beiden Händen auf die Matratze, ein kleiner Schlitz macht sich in ihrem Dekolleté lang. »Komm runter, wenn du willst, wir haben frische chicharrones.« Mein Kopf tut weh, meine Kehle ist trocken, ich will etwas sagen, es kommt nichts. Sie klatscht in die Hände, dann mir auf die Schulter: »Komm, wann du willst, ich esse dir nicht alles weg.«

      Ich hörte meinen Vater laut atmen, als ich die Haustür aufschloss. Die Herbstsonne fiel bedrohlich auf den Staub. Ich behielt die Jacke an und ging um die Ecke. Er saß am Küchentisch, krumm, hatte die Hände über dem Zettel ineinander gefaltet, sein Kinn lag auf der Brust und dort, wo sonst ein Doppelkinn daraus geworden wäre, hing die Haut nur noch ein wenig schlapp. Ich stellte mich vor den Tisch, legte meine Hände auf seine, auf den Zettel darin, und wartete. Seine Atmung war langsam, ich wusste nicht, ob er betete oder schlief. »Du bist dir sicher, mija?« Wir hatten dieses Gespräch schon so oft geführt, dass die Frage eine rhetorische sein musste. Ich sagte nichts.

      »Wenn du gehen willst, musst du wissen, was dort ist, in diesem Haus«, er schloss die Augen, runzelte die Stirn, ich wartete lange, setzte mich dann, er war irgendwo. »Dieses Haus, Yona, deine –«, seine Hände umschlossen sich so fest, dass seine Knöchel weiß aufleuchteten. »Yona«, er atmete, ich war diese Langsamkeit nicht gewöhnt, wurde unruhig, mein Ton schaltete sich ein, er fing immer schneller an zu kreisen im Schädel, im Uhrzeigersinn, blieb abrupt stehen, legte sich von innen auf meine Stirn. »In dem Haus, mija«, der Ton wurde schärfer, fing an zu bohren, »ist deine Mutter«, und durchbohrte meine Trommelfelle. Ich stand auf, strengte mich an, meine Hände zu denen meines Vaters zu bewegen, umfasste sie einmal stark, sein Gesicht bewegte sich noch, er sagte etwas, blickte kurz zu mir auf, ich hörte nichts, drückte seine Hände noch einmal, die Ameisen in meinem Kopf wurden immer lauter und zischten, ich sprang auf, mein Ton trieb mich vor sich her, bekam Gewicht, legte sich zuerst auf meine Schultern. Ich versuchte, ihn zu kontrollieren, er wehrte sich, ich rang mit ihm, gab nicht nach und stand so lange da, bis er sich langsam, mit einem Wehen, verzog, in irgendeine Ecke meines Kopfs.

      Doña sitzt vor dem Gitter, spricht mit einer Frau in eng anliegender Uniform und mit Pomade im Haar. Sie sieht mich kurz im Augenwinkel und klopft zweimal auf den Stuhl neben sich. Die Straße wirkt bei natürlichem Licht fast freundlich, die Markise ist noch da, unter ihr ist nichts, kein Grill, keine Stühle, keine Tische, nur ein leichter Rauchgeruch haftet hier noch von gestern. Die Frau ist über Doña gebeugt, die mit verschränkten Armen und besorgtem Gesicht hoch zu der Frau spricht über Dinge, die ich nicht wissen kann. Dann bemerkt die Pomadenfrau meinen Schatten, folgt ihm, mustert mich langsam von unten nach oben, ihre Schminke ist ein wenig zu dick aufgetragen, besonders um die Augen herum, es passt zur Pomade. Sie rüttelt an Doñas Schulter, zeigt auf mich. »Oh, bienvenida«, Doña lacht, klopft einmal auf ihren Bauch, hievt sich im Stuhl hoch, taumelt zwei Schritte zu mir, hält sich an meinen Armen fest, ich halte sie, bis sie ihr Gleichgewicht wiederfindet. »Zu schnell aufgestanden, danke, danke, oh, mija, das ist Yona, das Mädchen, schau, wie hübsch sie ist«, sie zerrt ein wenig an meinem Arm, ich winke ab, die Nachbarin scheint noch nicht überzeugt zu sein, reicht mir zögernd die Hand und spricht, so langsam sie kann: »Mucho gusto.« Ich antworte, sie erschrickt und kommentiert mein fabelhaftes Spanisch nach zwei Wörtern. Doña stellt sich fast zwischen uns, nimmt mit beiden Händen ihre Hand. »Gracias, Freundin, wir reden dann später weiter, Yona hier und ich sind verabredet.« Die Nachbarin zeigt wenig Regung. »Bis bald, Doña, danke für den Kuchen, oíste, hast du gehört?« Sie sieht nur mich dabei an, geht dann langsam über die Straße, ihre Hornhaut lugt an allen Seiten zwischen den Riemchen ihrer Sandalen hervor. Sie sperrt das Gitter vor der Haustür gegenüber auf. »Sie ist ein bisschen eine Pute, Yona, aber sie hat ein gutes Herz. Und, na ja, sie ist halt die Nachbarin.« Doña hebt ihre Arme an dabei. »Gut, dass du mal rausgekommen bist, du kannst ja nicht ewig schlafen, oder?« Ich setze mich auf den Stuhl, er ist so niedrig wie ihrer, sie fächert sich mit Karton Luft zu, wir liegen halb wie zwei alte Damen am Strand, die Sonne steht schon fast über uns. Ich kenne das hier alles noch nicht um die Mittagszeit, es ist staubiger als abends, und es riecht mehr nach Benzin als nach Kohle und Fleisch. Wir hören die LKWs, die Busse und ihre ayudantes, wie sie die Ziele der Busse schreien. Die Nachbarin gegenüber taucht kurz wieder auf, streckt ihren öligen Kopf durch das Fenster und schüttet irgendetwas aus einem Topf auf die Straße. »Das ist die mamá von Niña, verlorene Seele, hat alles Mögliche gemacht, außer sich um die Kleine zu kümmern.« Doña zischt es kaum hörbar, winkt kurz. Ich zeige mit meinem schweren Finger auf den Topf am Boden, der Doña bis zum Knie geht. »Sind das die chicharrones?« Sie freut sich, hebt ihn mit beiden Händen auf ihren Schoß. »Probier mal.« Ich greife in den Topf, sie sind hart und ölig, sie greift nach mir hinein, nimmt sich eine Hand voll. »Du musst nicht so zögerlich sein.« Dann schiebt sie sich einen nach dem anderen in den Mund, die Krümel fallen ihr auf das Kinn beim Reden. »Das ist auch dein Haus, Kleine, und deshalb sind es auch deine chicharrones!« Sie hält mir den Topf hin, ich greife hinein, nehme so viele ich kann, es

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