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in Luxuswohnungen. »Gentrifizierung« hieß das, wenn sie sich recht erinnerte. Ein Prozess, der schon einige Stadtviertel vom authentischen Kiez zur Yuppie-Hochburg verwandelt hatte: Sankt Pauli, die Schanze, Ottensen … Lange würde es nicht mehr dauern, bis Wilhelmsburg dran war. Ging vielleicht schon los, wer weiß.

      Harald studierte die Klingeltafel. »Kabaoglu, hier. Mann, haben die eine Sauklaue!« Er drückte den Knopf, und sie hörten weiter oben eine altmodische Türklingel schnarren.

      Marie lehnte sich gegen die Tür und wartete auf den Summer.

      Stattdessen wurde über ihnen ein Fenster geöffnet. »Ja bitte?«, fragte eine jung klingende Frauenstimme.

      Sie traten einige Schritte zurück und blinzelten nach oben. Eine dunkelhaarige Frau Mitte 20 lehnte aus dem Fenster im zweiten Stock.

      »Guten Tag, mein Name ist Marie Schwartz, und das ist mein Kollege Harald Grossmann. Können wir bitte Frau Kabaoglu sprechen?«

      »Sind Sie Journalisten?«

      »Nein.« Marie hielt ihre Dienstmarke hoch. Sie wollte vermeiden, das Wort »Polizei« laut nach oben zu rufen. Das brachte nur unerwünschte Aufmerksamkeit, speziell in Vierteln wie diesem.

      Die junge Frau im Fenster nickte. »Kommen Sie rein, die Tür ist nicht verschlossen. Zweiter Stock links.«

      Im Treppenhaus roch es nach Kohl, feuchten Wänden und exotischen Gewürzen. Der Handlauf war abgegriffen, die Wände schmutzig und von den Fenstern blätterte die Farbe ab. Umso überraschter war Marie, als die junge Frau die Wohnungstür öffnete und sie in ein blitzsauberes, wenn auch kitschiges Wohnparadies einließ. Auf den alten Bodendielen lagen kunstvoll geknüpfte orientalische Teppiche, die Wände waren mit einer dicken Stofftapete versehen, die obendrein glitzerte. Davor hingen Bilderrahmen mit Familienfotos und ein Spiegel mit einem breiten goldenen Rand in nachgemachtem Barockstil.

      Aus dem Wohnzimmer klang ein aufgeregtes Durcheinander von Frauenstimmen bis in den Flur. »Haben Sie Besuch?«, fragte Marie.

      Die junge Frau nickte und lächelte flüchtig. »Das sind Trauergäste«, sagte sie in akzentfreiem Deutsch. »Sie waren noch bei keinem türkischen Trauerfall, oder?« Sie war ausgesprochen hübsch, mit einem schwarzen Pferdeschwanz, hohen Wangenknochen und mandelförmigen dunklen Augen, denen man ansah, dass sie geweint hatte.

      Marie lächelte verlegen. »Da haben Sie recht. Bitte verzeihen Sie uns, wenn wir uns mit Ihren Bräuchen nicht gut auskennen.«

      Die junge Frau winkte ab. »Sie sind von der Polizei?«

      »Ja«, sagte Marie und hielt ihr den Dienstausweis hin. »Ich bin Kriminaloberkommissarin Marie Schwartz, das ist Kriminalhauptkommissar Harald Grossmann. Dürfte ich fragen, wer Sie sind?«

      »Şahika Kabaoglu. Mein Vater …« Sie schluckte schwer. »Entschuldigen Sie.« Sie zog ein Taschentuch aus der Jeans und putzte sich die Nase.

      Marie nickte ihr freundlich zu. »Da gibt es nichts zu entschuldigen. Ihr Verlust tut mir sehr leid.« Sie hasste das Wort »Beileid« und die ganzen abgedroschenen Phrasen, aber sie wusste, dass alles, was sie sagte, lahm klingen musste.

      »Danke«, sagte Şahika Kabaoglu. »Sie möchten sicher mit meiner Mutter sprechen, oder?«

      »Wenn wir korrekt informiert sind, waren Sie beide am Flughafen. In diesem Fall würden wir gerne Sie beide sprechen«, antwortete Harald.

      »Natürlich. Kommen Sie herein.« Sie ging voran ins Wohnzimmer, wo vier Frauen um den Couchtisch saßen.

      Die Gespräche verstummten, als Marie und Harald den Raum betraten. Şahika Kabaoglu stellte sie kurz auf Türkisch vor; Marie verstand nur das Wort »Polis«. Kaum war es gefallen, da sprangen alle Frauen bis auf eine vom Sofa auf. Eine bot ihnen die frei gewordenen Plätze an, die beiden anderen liefen in die Küche und kamen gleich darauf mit Tee, Kaffee und Keksen zurück. Wortreich, halb auf Deutsch, halb auf Türkisch, nötigten sie Marie und Harald, sich zu setzen. Marie sah Hilfe suchend zu Şahika, die sich zu ihr beugte.

      »Wir alle haben große Hoffnung, dass Sie denjenigen finden, der meinem Vater das angetan hat.«

      »Das haben wir vor, das versichere ich Ihnen.«

      Şahika Kabaoglu stellte sie ihrer Mutter vor, die neben ihnen auf dem Sofa saß. Sie war Anfang 60, hatte eine stämmige Statur, eine gepflegte Hochsteckfrisur und trug dunkle Trauerkleidung.

      »Wollen Sie Kaffee«, fragte Mutter Kabaoglu mit einem mittelmäßig starken Akzent, »oder Tee?«

      »Vielen Dank, ich –«

      Harald fiel Marie ins Wort. »Tee, bitte. Für uns beide. Vielen Dank.«

      Die Tochter goss ihnen ein und schob den Teller mit Keksen herüber. Dann nahm sie gegenüber auf der Vorderkante eines Sessels Platz.

      »Frau Kabaoglu«, sagte Marie, »wir würden mit Ihnen und Ihrer Tochter gerne über das sprechen, was gestern auf dem Flughafen passiert ist. Ich verstehe, dass das alles noch sehr frisch und erschreckend für Sie ist. Trotzdem ist es leider notwendig, Sie jetzt schon zu befragen.«

      Frau Kabaoglu nickte tapfer. »Ist wichtig, dass Sie alles wissen, damit Sie finden können den, der mein Mann getötet hat. Ich helfe Ihnen.«

      »Vielen Dank. Ich –«

      »Er war ein guter Mann. Ganz fleißig. Ist schon in der Nacht zu Großmarkt gefahren und hat Ware gekauft, jeden Tag. Immer gute Ware, immer frisch. Kunden waren immer zufrieden. Alle haben gerne gekauft bei uns. Immer freundlich zu den Kunden. Immer viel gearbeitet, damit Şahika und Altay gute Ausbildung bekommen. ›Wir sind doch jetzt Deutsche‹, hat er immer gesagt, und für deutsche Kinder ist Ausbildung wichtig. Noch wichtiger als für türkische Kinder.«

      »Ihr Mann hat sich als Deutscher gefühlt?«

      »Halb und halb. Ja, hat er gesagt, wir sind als Türken geboren, und wir gehen zu Allah als Türken, aber wir sind in Deutschland, und Deutschland ist gut zu uns, also wollen wir auch Deutsche sein. Er hatte viele deutsche Freunde.« Sie seufzte und hob die Arme. »Und wo sind sie alle? Keiner von ihnen kommt.«

      »Ana, das ist anders hier in Deutschland«, sagte Şahika. »Die Deutschen kommen nicht zu Leuten, die trauern, weil sie Angst haben, zu stören.«

      »Wirklich?« Frau Kabaoglu sah Marie entgeistert an, die zustimmend nickte. »Das ist doch dumm! Wer traurig ist, der braucht Freunde!« Sie hielt erschrocken die Hand vor den Mund. »Oh, das war schlecht gesagt. Ich wollte nicht sagen, dass Sie dumm sind.«

      »Natürlich nicht.« Harald lächelte. »Wir sind ja hier.«

      Frau Kabaoglu lachte leise und legte ihm und Marie die Hand auf den Arm. »Sie sind gute Menschen. Sie werden helfen zu finden den Mörder von meinem Ibrahim.«

      Marie hatte einen Kloß im Hals. »Frau Kabaoglu, bitte erzählen Sie mir, wie der gestrige Morgen abgelaufen ist.«

      Die Witwe nickte. »Wir sind ganz früh aufgestanden, weil Ibrahim sagte, wir müssen unbedingt zwei Stunden vorher an Flughafen sein.«

      »Wann waren Sie am Flughafen?«

      »20 nach sieben. Ich weiß noch genau, weil Ibrahim so froh war, dass alles gut geklappt hat. Altay hat uns gebracht mit Auto.«

      »Wollte Altay nicht mit in die Türkei?«

      Şahika schüttelte den Kopf. »Er arbeitet im Mercedes-Werk in Harburg, und er hat leider keinen Urlaub bekommen.«

      »Weswegen wollten Sie in die Türkei? Wegen des Zuckerfestes?«

      »Nein, mein Cousin wollte morgen heiraten.« Şahika seufzte tief. »Das ist natürlich abgesagt. Die ganze Familie ist völlig fertig.«

      »Wo genau hat Ihr Bruder Sie abgesetzt?«

      »Direkt vor dem Terminal. Vor der Abflugebene gibt es einen Parkstreifen, da hat er den Wagen abgestellt und ist noch kurz mit uns rein, um mit dem Gepäck zu helfen.«

      »Heißt

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