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straff gespannten Stoff befand. Er riss sich zusammen und trat zur Notärztin, um den Namen auf der blauen Karte zu lesen: Marie Schwartz, Kriminaloberkommissarin. Marie, richtig. Tim erinnerte sich.

      »Es ist für unsere Ermittlungen sehr wichtig, dass wir so früh wie möglich Spuren und Aussagen sichern«, sagte sie, »und es besteht Grund zur Annahme, dass dieser Mann uns wertvolle Hinweise geben kann.«

      »Erst einmal gebe ich Ihnen einen wertvollen Hinweis«, fauchte die Notärztin und schien eine Handbreit zu wachsen. »Der Patient ist schwerst verletzt, und wenn die beiden Jungs ihre Arbeit nicht verdammt gut gemacht hätten, könnten Sie da drüben versuchen, eine Aussage zu bekommen.« Sie deutete zur Leichensammelstelle. »Wenn Sie den Mann so dringend brauchen, dann sollten Sie dafür sorgen, dass der nächste freie Hubschrauber ihn ins Krankenhaus bringt. Und jetzt stehen Sie hier nicht im Weg herum.«

      Maries Kieferknochen mahlten, aber sie hatte der Notärztin nichts entgegenzusetzen. Der Kerl von letzter Nacht hielt die Spritze hoch und lächelte freundlich. »Auch eine? Entspannt ungeheuer.«

      So ein Idiot. Sie drehte sich um und stapfte davon. Egal wohin, Hauptsache weg.

      »Ich kann dir den Namen geben«, rief er ihr nach.

      »Danke«, rief sie zurück, ohne sich umzudrehen. »Im Gegensatz zu dir habe ich ihn mir gemerkt.«

      »Nicht meinen, Dummkopf. Den vom Patienten.«

      Sie blieb stehen, schloss die Augen und spürte, wie ihr die Röte ins Gesicht stieg. Sie öffnete sie wieder, vermied es sorgfältig, ihre Kollegen anzusehen, und drehte sich um. »Also?«

      Er stand immer noch da wie zuvor, die Spritze in der erhobenen Hand wie James Bond seine Walther PPK. Sie zog das Notizbuch heraus und entnahm den Stift. »Ich höre.«

      »Wolfgang Boskop.«

      »Boskop wie der Apfel?«

      »Ich denke schon.«

      »Geburtsdatum?«

      Er wies auf das Feuerwehrwappen an seiner Jacke. »Sehe ich aus wie das Einwohnermeldeamt?«

      Sie notierte den Namen und klappte das Notizbuch zu. »Sorgen Sie dafür, dass er am Leben bleibt.«

      »Das hatte ich vor. Aber danke für den Hinweis.«

      Sie drehte sich um und ging, ohne auf ihre Kollegen zu warten.

      Harald schloss zu ihr auf. »Was war das denn gerade? Oder besser: Wer war das?«

      »Frag nicht. Bitte.«

      »Zumal er recht hat. Was ist in dich gefahren, die Retter herumzukommandieren?«

      »Ich mache nur meinen Job.«

      Harald blieb stehen, griff nach ihrer Schulter und drehte sie zu sich. »Vergiss nicht, dass ich 20 Jahre mehr auf dem Buckel habe als du. Du bist eine brillante Ermittlerin, aber in Sachen Menschenkenntnis stecke ich dich in die Tasche. Also?«

      Sie fuhr sich mit den Händen durch das Gesicht. »Ach, ich weiß auch nicht. Das hier ist einsatztaktisch der pure Horror.«

      Er zog die Augenbrauen hoch. »Einsatztaktisch.«

      »Ja, und ansonsten auch, klar. Und ich bin … nicht richtig fit heute. Sieh dich doch um – wie soll ich hier jemals den Überblick bekommen? Überall Opfer, Spuren, Hinweise, und sie werden schneller zertrampelt, als wir sie sichern können. Du weißt so gut wie ich, dass es mit jeder Sekunde schwieriger wird. Wir können nicht einmal den Tatort vernünftig absperren. Der Mann ist die beste Spur, die wir haben.«

      Er drückte ihre Schulter. »Dein erster Einsatz in dieser Größenordnung, was?«

      »Bei den Mordermittlern, ja. Im Streifendienst ging’s da eher mal rund. Ich habe es immer gehasst.«

      »Ich weiß. Es ist nicht schön, wenn man das Gefühl hat, keine Kontrolle zu haben.«

      »Ach, das ist es nicht. Es ist nur …« Sie legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen. Sofort sprangen sie die Bilder an: Nacht. Nasser Asphalt. Ein zerstörtes Auto. Zuckende Blaulichter. Und das Gefühl, die Zeit zurückdrehen zu müssen. Rasch öffnete sie die Augen wieder. »Es erinnert mich an etwas. Ist lange her. Lass uns mit der Stewardess reden.«

      Harald kniff die Augen leicht zusammen. Marie kannte den Blick. Er setzte ihn immer auf, wenn er spürte, dass ein Zeuge mehr wusste, als er preisgab. »Okay«, sagte er.

      Sie drehten sich zu der jungen Frau in der blauen Uniform der Turkish Airlines um, die einige Schritte hinter ihnen unschlüssig stehen geblieben war.

      Marie zog ihr Notizbuch heraus und las den Namen der schwarzhaarigen Frau ab. »Frau Sayin, dürften wir Ihnen noch einige Fragen stellen?«

      »Muss das sein? Ich möchte lieber nach Hause, bitte. Kann ich nicht morgen zu Ihnen kommen?«

      »Ich weiß, es ist eine schlimme Situation, und ich glaube Ihnen, dass Sie mit Ihren Kräften am Ende sind. Aber die Erfahrung zeigt, dass unmittelbar nach einem Ereignis die Erinnerung am frischesten ist. Wenn es möglich ist, würde ich gerne alles mit Ihnen durchgehen. Es dauert nicht lange.«

      Die junge Frau schluckte. »Muss das sein? Es ging alles so schnell und es war so furchtbar …«

      »Nur ein paar Minuten, dann sind Sie uns los. Versprochen!«

      Seufzen. »Na gut.«

      »Vielen Dank. Sie arbeiten hier für Turkish Airlines?«

      »Als Check-in-Agent, ja. Aber das habe ich Ihnen schon gesagt.«

      »Natürlich. Erzählen Sie bitte trotzdem noch einmal, was sich zugetragen hat.«

      »Also, ich hatte Check-in-Dienst seit 6 Uhr heute Morgen, direkt in Reihe drei, wo die Bombe explodiert ist.« Sie zeigte auf die lange Zeile von Check-in-Schaltern, die sich von vorne nach hinten durch die Halle zog. Der rückwärtige Bereich war nahezu unversehrt, der vordere Teil hingegen lag in schwarzen Trümmern: Die Schwingtüren, die dem Personal Zugang zum Arbeitsbereich gewährten, hingen schief in den Angeln oder waren abgerissen, die metallene Überdachung der Schalter war zerfetzt und sah aus wie Papier, das mitten in einem Windstoß eingefroren war. Die elektronischen Anzeigetafeln, die daran gehangen hatten, lagen kreuz und quer auf dem Schalter und dem Fußboden. Von den Countern war die hölzerne Verkleidung abgerissen und hatte sich gemeinsam mit Bildschirmen, Druckern, Papieren und Gepäckstücken im Raum verteilt. Dazwischen lagen stumme Zeugen der so jäh unterbrochenen morgendlichen Geschäftigkeit: umgerissene Absperrungen und Gepäcktrolleys, aufgeplatzte Koffer, Kleidung, Schuhe, Brillen. Und Blut. Sehr viel Blut.

      »Oh nein, wie furchtbar!«, sagte die junge Frau mit erstickter Stimme. Offenbar nahm sie das ganze Ausmaß der Zerstörung erst jetzt wahr. »Das kann doch nicht sein! Da, da habe ich gestanden! Das ist …« Sie sah an sich herunter, als müsse sie sich vergewissern, dass sie wirklich bis auf ein paar Schrammen unverletzt war.

      »Frau Sayin, es scheint, als hätten Sie großes Glück gehabt. Sie sagen, Sie haben dort gestanden?«

      »Bei Schalter vier, genau.«

      »Beschreiben Sie bitte, was Sie vor der Explosion gehört und gesehen haben. Bitte versuchen Sie, sich an alle Details zu erinnern und nichts auszulassen, auch wenn Sie es im Moment für unwichtig halten.«

      Frau Sayin nickte tapfer. »Wir waren gerade beim Check-in für den Flug um 9.35 Uhr nach Istanbul. Die Schlange war lang, der Flug war ausgebucht.« Sie schluckte schwer und sah wieder zu den zerstörten Schaltern hinüber. »Viele Familien. Bald ist das muslimische Zuckerfest, das feiern viele bei ihren Verwandten in der Türkei.«

      »War etwas anders als sonst? Ist Ihnen etwas oder jemand aufgefallen, aus welchem Grund auch immer? Hat sich jemand verdächtig benommen?«

      Sie dachte kurz nach, schüttelte dann den Kopf. »Nein, es war alles normal.«

      »Was ist vor der Explosion geschehen?«

      »Ich habe gerade

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