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Prinzipien der platonischen Dialogschriftstellerei bekannt waren und daß er dann die genannte, auch sonst in christlichen Kreisen beliebte Literaturgattung ganz nach der gezeichneten platonischen Art in seiner Schrift „Über das Priestertum“ zur Anwendung brachte? Tatsächlich haben manche Kritiker in letzterer sogar „große Ähnlichkeit" mit und „direkte Beziehungen“ zu ganz bestimmten und speziellen Dialogen des großen Sokratikers finden wollen, so J. Volk62 mit dem Protagoras, S. Colombo63 zu Platons grandiosem Werk über den Staat.

      Das kann in der Tat nicht geleugnet werden, daß die ganze äußere Komposition des Chrysostomus-Dialogs „Über das Priestertum“ auffallende Ahnlichkeit aufweist mit der Anlage, wie sie verschiedenen platonischen Dialogen, z. B. Phaidon und dem über den Staat, zugrunde liegt64. In beiden gelangt eigentlich ein doppeltes Thema zur Behandlung, wie Hirzel65 es qualifiziert, „ein nominelles und ein faktisches“; geradeso bei Chrysostomus „Über das Priestertum”. Im Phaidon ist der Ausgangspunkt die Frage, ob dem Philosophen — Sokrates — das Recht zusteht, dem Tode getrost und ohne Furcht ins Auge zu sehen. Das bildet das nominelle Thema, das scheinbar ursprünglich dargelegt werden soll. In Wahrheit ist jedoch der eigentliche Kernpunkt, das faktische Thema des Dialogs die Auseinandersetzung über die Unsterblichkeit der Seele, indem der Unsterblichkeitsbeweis als wesentlich aus der zuerst aufgeworfenen Frage, ob der Weise den Tod zu fürchten habe, geschickt herausgeholt und im einzelnen durchgeführt wird. Ähnlich geht der Verfasser im Dialog über den Staat anfänglich von der Frage aus nach dem Wesen der Gerechtigkeit, nach dem Nutzen, welchen die Gerechtigkeit für den Einzelnen bringt oder nach dem Glück, welches sie gewährt. Er erwartet deren volle Verwirklichung in einem ideal ausgebildeten Staate. Und in dem Maße, als das Wesen des Staates deutlicher wird und zugleich die von der Gerechtigkeit ausgehenden Wirkungen klarer hervortreten, wird auch besser einzusehen sein, daß Einheit und Glück im einzelnen wie im ganzen auf der Gerechtigkeit beruhen. Das führt Plato zur weiteren Frage, in welchem Staate die volle Realisierung der Gerechtigkeit zu suchen ist und zu seinem eigentlichen Thema, zu seiner prinzipiellen Auseinandersetzung und Lehre über den Staat überhaupt. Das Schattenbild der Gerechtigkeit findet sich im Naturstaat, heller tritt sie in die Erscheinung im Kriegerstaat, so daß man hier bereits ihr Wesen zu haben glaubt, in Wahrheit enthüllt sich dieses Wesen aber erst auf der dritten Stufe, im Idealstaat, in welchem die Idee der Gerechtigkeit sich völlig verkörpert. Desgleichen soll im Protagoras und Phaidros der Vorzug der schlichten Art des Sokrates, durch Frage und Antwort die Menschen zu höheren Stufen des Erkennens zu führen und die Überlegenheit der sokratischen Philosophie vor der leeren Wortkünstelei der Rhetorik, namentlich vor den pomphaften, langen Reden der Sophisten, erwiesen werden durch Behandlung der Frage als des Hauptthemas, ob die Tugend lehrbar sei (Protagoras) und über den Begriff des Eros (Phaidros), den Plato aus der Sphäre gewöhnlicher Sinnlichkeit herauszuheben sucht und als das Streben nach dem Urschönen und der Welt der Ideen faßt66.

      Erinnert diese ganze Komposition, dieses zweifache, nebeneinanderherlaufende Thema der platonischen Dialoge nicht unwillkürlich an unseren Chrysostomus-Dialog? Geht doch in letzterem in ähnlicher Weise der Verfasser zunächst von der praktischen Frage aus, ob es nicht erlaubt, manchmal sogar geboten ist, der Bischofsweihe durch die Flucht sich zu entziehen. Die Beantwortung dieser Frage gleitet sodann Unversehens zu dem eigentlichen und faktischen Thema über, zu der bekannten, überaus herrlichen und trefflichen Schilderung der Erhabenheit, Würde und Bürde des Priester- bzw. Bischofsamtes. Überhaupt mutet die Art und Weise, wie Chrysostomus seiner eigentlichen Erörterung und Darstellung ein Proömium, eine szenische Einkleidung, vorausschickt, echt platonisch an. Denn auch in den meisten Dialogen Platons findet sich im Gegensatze zu denen des Aristoteles ein derartiges Proömium mit prächtigen Szenerien und fein ausgeprägten Charakterzeichnungen, eine Tatsache, auf die z. B. ein anderer Kirchenvater des vierten Jahrhunderts, der hl. Basilius der Große, ausdrücklich hinweist, wenn er in einem seiner Briefe bemerkt, daß Aristoteles und Theophrast, abweichend von Plato, in ihren Dialogen auf ihr Thema unmittelbar losgegangen seien67. Allerdings erscheint der Grund, um dessentwillen nach der Meinung des Basilius das geschehen sein soll, daß sich nämlich Aristoteles bewußt gewesen wäre, wie sehr ihm die platonische Anmut fehle68, weniger ansprechend, als was sehr scharfsinnig und einleuchtend Hirzel hierfür ins Feld führt: „Wenn Plato im Phaidon, im Phaidros, in der Republik und sonst Prooimien vorausschickte, so hatte dies seinen guten Grund darin, daß zu seiner Zeit oder in der des Sokrates, in die er uns versetzen will, dialektische Erörterungen der Unsterblichkeit, über den Wert der gewöhnlichen Rhetorik, den Idealstaat und anderes keineswegs an der Tagesordnung waren, sondern die betreffenden Probleme noch frisch aus den umgebenden Verhältnissen der redenden Personen und aus vorausgehenden Gesprächen über andere Dinge hervorsprangen. Diesen Vorgang der Wirklichkeit zu schildern, zu schildern, wie man dazu kam, gerade dieses oder jenes Problem zu erörtern, war eine Aufgabe, die sich Plato in der Mehrzahl seiner Dialoge gestellt hat und stellen mußte…. Die Fragen, die jedoch Aristoteles in seinen Dialogen behandelte, gehörten längst zum Inventar der Schule…. Es bedurfte also nicht erst umständlicher Prooimien, wie sie noch Plato für nötig befunden hatte, um ein Gespräch über solche Gemeinplätze zu motivieren“69.

      Diese Begründung darf mit vollem Recht auch wieder auf unseren Chrysostomus-Dialog angewandt werden. Wir sehen, die Parallelen brauchen nicht erst gesucht oder künstlich konstruiert zu werden, sie liegen offen da und häufen sich nach jeder Richtung hin. Denn auch bei dem Thema, dem Chrysostomus in seinem Dialoge seine Aufmerksamkeit und eigentliche Erörterung widmet, handelt es sich, um Hirzels Worte zu wiederholen, ebensowenig um eine Frage, die in patristischer Zeit „an der Tagesordnung" gewesen wäre. Über die Aufgaben und Pflichten des Priesteramtes hatte zum ersten Male eingehend und ex professo in einer speziellen Schrift sich verbreitet Gregor von Nazianz in seiner unmittelbar nach 362 verfaßten „Apologie wegen der Flucht nach dem Pontus"70. An ihn hat sich Chrysostomus, wie nicht zu leugnen ist, angeschlossen, hat sogar nicht wenige Einzelzüge direkt dessen Ausführungen entlehnt. Mit Recht werden die beiden Schriften als die ältesten pastoraltheologischen Abhandlungen und zugleich mit der Regula pastoralis Gregors des Großen als die Pastoraltrilogie der altchristlichen Kirche bezeichnet71. Wie in den meisten Dialogen Platons liegt also auch hier ein fast noch unberührtes, sicherlich noch unbebautes Thema vor, das demnach auch mit Rücksicht auf dieses Moment die platonische Art der Behandlung und Einkleidung rechtfertigt.

      An und für sich kann solche unserem Chrysostomus von Haus aus nicht fremd gewesen sein. War er doch sicherlich mit derselben in der Schule des Libanius, des gefeiertsten antiochenischen Lehrers und Rhetors, die er mehrere Jahre als dessen begabtester Lieblingsschüler besuchte72, bekannt geworden. Libanius erzählt uns selbst, wie die Klassikerlektüre den Mittelpunkt seines gesamten Unterrichtes bildete und wie seine Schüler sich mit großer Anstrengung durch die Schriften eines Homer, Demosthenes und anderer Dichter, Redner und Philosophen, darunter auch des Plato, hindurcharbeiten mußten73. Von des letzteren Werken waren aber bekanntermaßen alle mit einziger Ausnahme der Apologie in dialogische Form gekleidet74. Desgleichen war unserem Christ gewordenen Libaniusschüler auch während seiner späteren theologischen Ausbildung nach den Prinzipien der antiochenischen Exegetenschule, die gemäß ihrer historisch-grammatischen Methode zur Ergründung und Beleuchtung der biblischen Wahrheiten ihre Argumente mit Vorbedacht auch aus der Geschichte, Religion und Kultur des Hellenismus schöpfte75, dessen Literatur keineswegs entfremdet geworden. Vielmehr zeigen ungezählte Stellen seiner Schriften und Homilien, wie er, sich wiederholt auf das Beispiel des hl. Apostels Paulus wegen dessen Benützung heidnischer Literaturerzeugnisse berufend76, die Blüten griechischen Geisteslebens überall pflückte, wo immer er sie der christlichen Religion dienstbar machen konnte77. Und nicht nur das, er empfiehlt sogar seinen Zuhörern das Studium der poetischen, philosophischen, historischen und rhetorischen Werke des Hellenismus als Fundgrube der Lebensphilosophie und zur Stärkung seiner eigenen biblisch-homiletischen Ausführungen78. Wer nur immer sich etwas eingehender mit den Werken des großen Antiocheners beschäftigt, der wird staunen über die umfassende hellenische Bildung, die Chrysostomus mit gründlicher Beherrschung der christlichen Wissenschaft vereinigte. Mit Recht stellt ihn auch in dieser Beziehung E. Norden79 an die Seite des hell leuchtenden kappadokischen Dreigestirns, Gregors von Nazianz, Basilius von Cäsarea und Gregors

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