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Zwei Mal war er unter dem Vorwand, seine alten Eltern zu besuchen, nach Schulschluss nach Butzbach gelaufen, war stundenlang durch die Gassen des Städtchens gestreift und hatte die Auslagen der Ladengeschäfte betrachtet. Doch er konnte sich zu nichts entschließen.

      Seiner ehemaligen Schülerin Wäsche zu schenken, kam ihm unpassend vor. Und ein Buch? Ein moderner Liebesroman durfte es natürlich nicht sein. Etwas Klassisches, ein Werk von Goethe oder Schiller? Das erschien ihm zu altväterlich.

      Schließlich entdeckte er bei einem Buchbinder das Album und die Stifte. Das war es! Ein noch ungeschriebenes Buch, dessen Seiten sie mit ihren eigenen Erlebnissen und Eindrücken füllen könnte!

      Luise hatte sich sichtlich darüber gefreut.

      Inzwischen ist ihm nicht mehr so recht wohl bei der Sache, denn sein Geschenk bezeugt seine unpassende Zuneigung zu dem Mädchen.

      Es wäre besser, die ganze Geschichte schnell zu vergessen. Doch die Sehnsucht, die das Mädchen entflammt hat, brennt noch immer in ihm.

      Es weiß, dass es sich nicht gehört, auch die beiden anderen Briefe zu lesen. Aber er ist ganz allein in seiner Stube. Vorsichtig faltet er das zweite Blatt auseinander.

      Lieber Herr Vater und liebe Mutter,

      wie geht es Euch? Mir geht es gut. Wir sind glücklich und gesund in Amerika angekommen. Von Hamburg nach New York ging es schnell, aber nach Kalifornien war es weit. Einmal hatten wir Sturm und ich war seekrank. Aber der Herr hat mich behütet.

      Der Schneider ist ein guter Dienstherr. Bald reisen wir zu den Goldminen. Schneider sagt, die Arbeiter warten dort schon auf uns.

      Bitte grüßt die Geschwister und den Oheim recht herzlich von mir und vergesst mich nicht.

       Viele Grüße Luise

      Behutsam streicht der Lehrer über das Papier. Es fühlt sich so warm und lebendig an, als hätte Luise den Bleistift gerade erst aus der Hand gelegt. Dann nimmt er das dritte Blatt mit dem längsten Brief in die Hand.

       Liebe Dora

      hoffentlich bist du nicht mehr böse mit mir, weil ich fort bin. Ich konnte dir nicht Lebewohl sagen, weil du auf dem Acker warst. Die Mutter hat dir bestimmt erzählt, dass ich nach Amerika in den Dienst gehe und in drei Jahren wiederkomme. Ich hoffe, du hast nicht zu viel Arbeit im Stall und auf dem Feld, seit ich weg bin und nicht mehr mithelfen kann. Vor allem wenn zu Michaelis die Schule wieder anfängt.

      Ich weiß, du magst das Lernen nicht, aber lass dir von deiner großen Schwester etwas sagen. Bitte lerne soviel du kannst. Wenn du erst einmal ins Land gehst, kannst du alles gebrauchen. Ich war bis jetzt die meiste Zeit auf dem Schiff oder in einem Gasthaus. Aber alle sagen, es ist in Amerika besser als daheim. Ein Mädchen kann sich viel mehr aussuchen. Ob sie in Stellung geht oder heiratet. Junge Burschen gibt es genug. Und Frauen können viel mehr Berufe als Dienstmagd machen.

      Am besten du fängst schon in der Schule mit der englischen Sprache an. Viele Leute sprechen es hier. Frag den Schulmeister, ob er ein Wörterbuch hat und dir beim Lernen helfen kann.

       Weißt du noch, wie wir die Wiesen zum Fluss heruntergekugelt sind bis uns schlecht wurde?

      Erzähle dem Vater nichts von meinem Brief. Wenn du mit der Schule fertig und konfirmiert bist, komme ich zurück. Vielleicht habe ich dann schon einen guten Mann mit einem schönen Haus in Amerika. Und du kannst mit mir gehen.

       Viele liebe Grüße von Luise

      Der Lehrer liest alle drei Briefe mehrmals durch. Dann weiß er, was er zu tun hat.

      Er nimmt seine Jacke vom Haken, um dem Bauern Ludwig seine Post zu bringen. Sicher warten die Eltern schon lange auf Nachricht vom Töchterchen. Den Brief an Dora steckt er in das Geheimfach in seinem Pult.

      Morgen früh wird er die erste Postkutsche nach Friedberg nehmen. Er erinnert sich noch genau an die Buchhandlung, in der er als junger Seminarist so oft war. Bestimmt kann er dort ein Lehrbuch für die englische Sprache kaufen.

      Es wird jedenfalls nicht so weit kommen, dass die rotznäsige kleine Schwester von Luise danach verlangt, eine Sprache zu lernen, in der er nicht einmal „Guten Tag“ sagen kann.

       II

       Im Goldgräberland

       Neuntes bis vierzehntes Kapitel

      August bis Oktober 1863

       Neuntes Kapitel

      Für ein paar Minuten sind sie mit Köberer allein im Saloon. Der düstere Gastraum, der nur von ein paar Öllampen beleuchtet wird, ist eigentlich nicht mehr als ein grob gezimmerter Bretterverschlag. In einigen Wochen wird er bereits wieder leer stehen. Kalter Wind wird dann über den Tanzboden in der Mitte des Raumes pfeifen und Schnee wird durch die Löcher im Dach herabrieseln. Wenn es Winter wird in den Bergen rund um den Lake Tahoe, bleibt kaum jemand freiwillig im Goldgräbergebiet.

      Der Abend beginnt mit einem schrillen Quäken, Stöhnen, Pfeifen und Klingeln aus Köberers tragbarer Drehorgel. Luise kennt die fünf oder sechs Melodien, die er aus dem schwarzen Kasten herausleiert, längst auswendig. Schon vor dem ersten Ton weiß sie, welches Stück als nächstes erklingen wird.

      Und doch erwacht mit dieser Musik für einen kurzen Moment wieder die Sehnsucht in ihr. Wie damals, in den Gassen von Langenhain, träumt sie von Amerika. Von einem Land, in dem sie in Wirklichkeit längst angekommen ist.

      Kaum eine Woche waren sie in San Francisco, da saß Köberer schon beim Schneider in der Gaststube. Luise konnte den Alten mit dem schütteren Haar und der speckigen Jacke von Anfang an nicht leiden. Nichts an ihm sah so blendend schön aus, wie sie sich das Leben in Kalifornien vorgestellt hatte.

      „Er ist ein Mädchenhalter“, zischte Anna ihr zu, bevor sie zu ihm an den Tisch geschoben wurde, „streng dich ein bisschen an!“

      Sie lächelte brav zur Begrüßung, aber dann rutschten ihre Mundwinkel wieder nach unten. Köberer schien es egal. Die Wahl zwischen Luise und der blassen, verstockten Tesi fiel ihm nicht schwer. Und Anna, die kurz vor der Niederkunft stand, hatte Schneider ihm gar nicht erst angeboten.

      Was ein Mädchenhalter ist, wusste Luise in San Francisco noch nicht so genau. Doch sie war froh, dass sie nicht mehr nutzlos mit den Schneiders in der Herberge herumhocken musste.

      Inzwischen hat sie gelernt, welchem Geschäft diese Männer nachgehen: Sie nennen sich Musikanten, aber in Wirklichkeit können sie nur eine Drehorgel bedienen. Ihr Geld verdienen sie damit, deutsche Mädchen in den Saloons der Goldgräberstädtchen zum Tanzen und Trinken zu vermieten. Hurdy Gurdy Girls nennt man sie hier, weil sie anfangs zur Musik von Drehleiern durch das Goldgräberland zogen. Die Arbeiter, die den ganzen Sommer über in den Minen schuften, verzehren sich regelrecht nach einem weiblichen Wesen und sind bereit, einen oder sogar zwei Vierteldollar für jeden Tanz zu bezahlen.

      Sobald die ersten Töne nach draußen dringen, strömen Burschen herein. Schon seit einiger Zeit lungern sie auf der staubigen Hauptstraße herum, warten nur auf diesen Moment. Ihre erste Runde müssen die Mädchen in ihren bauschigen Röcken allein auf dem Tanzboden drehen und sich von allen Seiten begutachten lassen. Erst danach nimmt der Wirt Bestellungen für Tänze und Drinks entgegen.

      Noch nie war Luise so wunderschön angezogen. Ihr Kleid ist aus einem schimmernden dunkelgrünen Stoff, wenn auch etwas zu klein: Das Oberteil endet weit oberhalb ihres Bauchnabels. Der Rock, der über der nach oben verrutschten Taille in unzähligen Falten aufspringt, reicht nur ein kleines Stück über ihre Knie. Und die schwarze Miederjacke schnürt sie besser nicht enger zusammen: Sie spannt ohnehin über der Brust und kneift unter den Armen.

      Sie weiß ja, dass sie nicht die Erste ist, die diese Sachen trägt. Jeden Tag näht sie ein paar Knöpfe wieder an, flickt

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