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mit Gefängnis bestraft.“

      „Schneider hat es mir aber befohlen!“ Luise kämpft mit den Tränen. Sie mag nicht glauben, dass ihr Vater, der brave und gottesfürchtige Balthasar Ludwig, unter den Augen des Bürgermeisters von Langenhain einen Kontrakt unterschrieben hat, der gegen das Gesetz verstößt.

      „Mach dir mal nicht ins Hemd“, herrscht Mathilde sie an, „hier oben in den Bergen lassen sie uns ja auch meistens in Ruhe. Wissen selbst, dass die Jungs ab und zu ein bisschen Abwechslung von der Schinderei brauchen. Aber es wäre schön blöd, jetzt zum Sheriff zu rennen und ihm die Ohren vollzuheulen.“

      Mit einem langen Blick auf den Planwagen fügt sie hinzu: „Wen interessiert schon ein toter Mädchenhalter?“

      „Er hätte mich nach San Francisco zurückgebracht. Zu Schneider. Er hat es versprochen“, schnieft Luise, während die Tränen über ihr Gesicht laufen.

      „Was willst du denn bei dem? Hör auf zu heulen. Wir müssen hier weg, und zwar schnell.“

      „Und Köberer?“

      „Nehmen wir mit. Wenn der Wirt aufwacht, sind wir schon über alle Berge. Er lässt bestimmt nicht nach uns suchen. Lieber streicht er das Geld von gestern Abend alleine ein.“

      Luise schluckt. Sie denkt an die vielen schönen Vierteldollarmünzen, die ihre Tanzpartner beim Wirt abgegeben haben.

      Der Gaul, den Köberer günstig auf einem Viehmarkt erstanden hat, lässt sich nur widerwillig vor den Planwagen spannen. Schwitzend zerren die Mädchen an dem bockigen Tier herum, das ihnen mehrmals schmerzhaft vor die Schienbeine tritt.

      Viele nehmen hier oben Ochsen als Zugtiere, weil sie kräftiger und billiger sind. Mit so einem Gespann würden sie aber erst recht nicht zurechtkommen.

      Nachdem sie das Pferd und die Deichsel endlich miteinander verknotet haben, springen Luise, Marie und Elisabeth schnell unter das Stoffdach des Fuhrwerks. Mathilde setzt sich auf den Kutschbock und schwingt die Peitsche. Alle paar Meter scheut der Gaul. Dann schlägt und schreit sie so lang auf ihn ein, bis er wieder ein Stückchen weiter trottet.

      Auf der staubigen Hauptstraße des Städtchens ist es noch menschenleer. Die Männer, die am frühen Morgen nicht zur Arbeit in den Goldminen sind, schlafen erst einmal ihren Rausch aus.

      Bald erreichen sie die bewaldeten Hügel am Stadtrand. Auch hier geht es nur mühsam voran. Bei jedem Anstieg bleibt das Pferd einfach stehen. Die Mädchen müssen aussteigen und nebenherlaufen, manchmal sogar das Fuhrwerk schieben, um über den Hügel zu kommen. Kaum aber geht es wieder bergab, rast das Pferd los, als sei es auf der Flucht vor seiner schweren Fuhre.

      Kreischend klammern sie sich dann an die Holzbogen unter der Plane. Alles, was im Wageninneren nicht festgezurrt ist, fliegt wild durcheinander. Sogar der starre Leichnam rollt auf der Ladefläche platschend hin und her, vom Rücken auf den Bauch und wieder zurück. Angewidert hält Luise den Toten mit den Füssen von sich weg.

      Zwar könnte man das ganze Fuhrwerk mit einem hölzernen Hebel direkt neben dem Kutschbock bremsen. Aber Mathilde weiß diesen nicht zu bedienen. Wahrscheinlich hat sie daheim nur ein paar Mal neben dem Vater vorne gesessen, aber nie kutschieren gelernt.

      Gelegentlich gibt ein Spalt zwischen den Stoffbahnen einen Blick auf die Landschaft draußen frei: Die riesigen Nadelbäume und bizarr geformten Felsbrocken am Wegesrand wirken viel größer und wilder als in der Heimat.

      Sie fahren den ganzen Tag. Luise merkt kaum, wie hungrig und durstig sie ist. Zwischendurch fallen ihr manchmal die Augen zu, aber entsetzt wacht sie wieder auf, wenn der kalte, steife Leib des Köberers auf ihre Beine kippt.

      Als die Sonne schon tief steht, bringt Mathilde das Fuhrwerk endlich zum Halten und wendet sich zu den Mädchen um: „Hier bleiben wir! Es wird bald dunkel. Ist Zeit zum Schlafen.“

      „Hier?“, fragt Elisabeth erschrocken und klammert sich verängstigt an ihre Schwester.

      „Wo sonst?“ Mit einem Blick auf die Leiche fügt Mathilde hinzu: „Bevor wir den da nicht los sind, können wir uns nirgendwo blicken lassen.“

      „Im nächsten Ort gibt es bestimmt eine Kirche“, schlägt Luise eifrig vor, „und einen Pastor, der ihn bestatten kann.“ Einmal hat sie unterwegs einen solchen Friedhof mit Gräbern von deutschen Männern gesehen.

      „Du hast es immer noch nicht kapiert?“, fragt Mathilde verächtlich, „was willst du dem Herrn Pastor denn erzählen?“

      „Ich weiß schon, dass Köberer sich versündigt hat“, erwidert Luise. Sie hat den ganzen Tag darüber nachgedacht: „Er war bestimmt kein frommer Christ, und er ist auch nicht jeden Sonntag zum Gottesdienst gegangen. Doch unser Herr in seiner Güte vergibt allen. Er nimmt jeden in sein Himmelreich auf, wenn man ihn um Vergebung bittet.“ Sie erinnert sich genau, was sie im Konfirmandenunterricht gelernt hat: Dass Jesus am Kreuz gestorben ist, um für die irdischen Sünden der Menschen zu büßen und sogar für die schlimmsten Trinker. Nur die Katholischen in Ober-Mörlen glaubten noch an die Hölle und das Fegefeuer und fürchteten sich vor dem Teufel.

      „Oha, wir haben eine Heilige unter uns!“, spottet Mathilde, „habe ich mir doch gleich gedacht, dass du ein ganz frommes Schäfchen bist.“ In einem Ton, der keinen Widerspruch duldet, bestimmt sie: „Heute Nacht bleibt Köberer bei uns. Im Wagen. Wenn wir ihn rausschmeißen, locken wir damit nur Aasfresser an.“

      Die drei Mädchen starren sie erschrocken an.

      „Keine Sorge. Der Alte kann euch jetzt nicht mehr antatschen.“

      Zu viert teilen sie sich die schmale Ladefläche neben dem Leichnam und breiten, vor Kälte zitternd, Köberers Decke über sich aus. Luise, die direkt neben dem Toten zu liegen kommt, kann sich in dieser Enge kaum rühren. Die Haare stehen ihr zu Berge.

      Seltsame Geräusche dringen von draußen herein. Das Rascheln, Trapsen und Jaulen im Wald klingt ganz anders als im Forst bei Langenhain. So oft haben Burschen ihr von den wilden Tieren hier oben erzählt. Riesige Bären, Luchse und Wölfe wagten sich manchmal bis zu den Hütten der Goldgräber vor. Außerdem schlichen Indianer durch die Wälder.

      Schweißgebadet richtet sie sich auf: „Ich setze mich auf den Kutschbock und halte Wache. Dann könnt ihr jedenfalls schlafen.“

      „So ein Quatsch!“, knurrt Mathilde gereizt, „willst du draußen den Lockvogel spielen? Leckeres, frisches Fleisch?“

      Sie hat Recht. Und doch mag Luise keine Sekunde länger zwischen dem eiskalten Toten und den Mädchen eingequetscht liegen. Leise richtet sie sich auf, beginnt im Dunkeln herumzukramen und einen Wall aus Kisten und Bündeln am Fußende ihres Schlaflagers aufzuschichten. Als sie darüber krabbelt, um sich ganz hinten im Wagen quer zu legen, atmen die anderen drei erleichtert auf.

      Zum Zudecken findet sie einen leeren Futtersack. Sie zieht ihre Knie bis zum Bauch hoch, schlingt die Arme darum und stemmt ihre Füße gegen die tragbare Drehorgel.

      Einschlafen kann sie auch hier nicht. Sie zittert vor Angst und vor Kälte. Immer wieder kreisen ihre Gedanken um die Frage, was jetzt werden soll. Ob sie jemals nach San Francisco zurückkann? Und eines Tages sogar in die Heimat?

      Luise erinnert sich noch ganz genau an Langenhain, an alle Gassen und Häuser, die Kirche, den Friedhof, den Brunnen, das Waschhaus, die Schule und das Schloss von Ziegenberg. Und die Menschen dort: ihre Namen, das Aussehen, die Kleidung, die Stimmen. Um sich die Zeit zu vertreiben, lässt sie ihre ganze Familie an sich vorbeispazieren: den Vater, die Mutter, die Dora und die Brüder. Dann die Nachbarn, den Pfarrer, den Bürgermeister und den Lehrer Faber. Die Mägde und Bauerntöchter im Waschhaus. Und alle Kinder, mit denen sie zusammen zur Schule gegangen ist.

      Auch an die Frau, die ganz allein in einem Haus am Waldrand lebt und von allen in Langenhain „die Amerikanerin“ genannt wird, erinnert sie sich genau. Bettelarm sei diese gewesen und ein Waisenkind, so erzählten die Alten im Dorf, als sie mit einem Händler ins Land ging. Jahre später kam die Amerikanerin mit Taschen voller Geld zurück, kaufte einem verarmten Bauern seinen Hof ab und holte Handwerker

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