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könnte annehmen, wir Menschen haben bereits alles, was zu unserem Lebensglück nötig wäre. Mobilmachung galt lange als das Allheilmittel, mit dem man der wachsenden Flexibilität des Lebens und vor allem der Ökonomie zu begegnen suchte. Heute weiß man, dass die dadurch gewonnene Freiheit der Entscheidung wesentlich zur Entwurzelung der Menschen beigetragen hat und in der Konsequenz eine Reihe sozialer Übel mit sich brachte.14 Der Verlust der „Heimat“ resultierte nicht selten im Verlust sozialer Identität – mit all den vorhersehbaren psychosozialen Folgen. Mobilität und Flexibilität förderte und forderte Individualität, doch daraus ist nur zu oft Einsamkeit geworden. Der Mensch, auf sich allein geworfen, weiß bald nichts mehr mit sich selbst anzufangen.

      Flexibilität allein scheint daher nicht die erhoffte Antwort auf die Herausforderungen einer mobil gewordenen Welt zu sein. Der Mensch braucht Schutz, Geborgenheit, erschlossene soziale Räume, um gesund leben zu können. Diese Erkenntnisse führten dazu, neben der Flexibilität der Bevölkerung auch nach sozialen Sicherungsmechanismen für die Menschen zu fragen. Der Ruf nach einer „vorsorglichen Sozialpolitik“ ist nicht mehr zu überhören.15 Daraus ist das Modell der Flexicurity entstanden. Flexicurity, zusammengesetzt aus Flexibility und Security, beschreibt einen Lebensraum, der beides leistet – globale Beweglichkeit und lokale Verwurzelung.16 Es ist faszinierend zu sehen, wie man heute bemüht ist, ein solches Konzept städteplanerisch umzusetzen. In Berlin werden zum Beispiel Hochhaussiedlungen nicht nur mit einem dazugehörenden Parkhaus, sondern auch mit einem Gemeinschaftshaus im Hof gebaut. Die Bewohner einer solchen Anlage sollen nicht nur gut wohnen, sondern auch Gemeinschaft haben. Wohnraum in der Stadt soll Dorfcharakter erhalten. Nur auf diese Weise, so die Städteplaner, kann der Vereinsamung und dem sozialen Verfall Einhalt geboten werden.

      In der sozialen Arbeit hat man längst erkannt, dass man die soziale Verwurzelung der Menschen am gegebenen Ort nur schafft, wenn man diese zur Partizipation an der Entwicklung sinnvoller Lebensräume ermutigt. Dabei gilt das Prinzip „Teilgabe wächst mit der Teilnahme“.17 Menschen, die am Leben des Gemeinwesens teilnehmen, werden sich letztlich auch bei den Herausforderungen des Gemeinwesens mit einbringen. So entstehen jene inklusiven Netzwerke, die den Einzelnen abholen, wo er ist, und zur Teilnahme am gemeinschaftlichen Leben vor Ort ermutigen. Jerg und Goeke beschreiben das anschaulich am Beispiel der Integration von Behinderten in Projekte der Gemeinwesenarbeit (GWA).18

      Wo sonst, wenn nicht hier, kann und sollte die Gemeinde Jesu ihre Kraft und Energie einsetzen? Als Ekklesia Gottes ist sie die zur Verantwortung für den Ort zusammengerufene Gemeinschaft.19 Sie ist lokal verortet und zugleich global aufgestellt. Wie kein anderes Institut der modernen Gesellschaft verkörpert sie die Flexicurity-Ideale. Hier finden Menschen sowohl soziale Wurzeln wie auch Innovation und Flexibilität des Geistes Gottes. Denn Er weht, wo Er will. Er lässt sich nicht in das Korsett einer menschlichen Kultur und Ideologie fassen. Und die von ihm angeführte Gemeinde (2Kor 3,17) ebenso nicht. Sie kann den Juden ein Jude und den Heiden ein Heide sein, ohne dabei in absoluter Anpassung zu ersticken (1Kor 9,19ff). Ja, noch mehr, sie muss und sie wird, falls sie missionarisch interessiert ist, eine solche Kontextualisierung suchen. Nur so kann sie Menschen zum Glauben führen.

      Was aber wäre nötig, um Evangelisation in den Rahmen einer solchen Suche der Menschen nach Heimat und lokaler Verwurzelung zu verorten? Seit Gerhard Schulzes Forschung in den 70er- und 80er-Jahren zur deutschen Erlebnisgesellschaft20, leben wir in unserem Land in einer Welt, die viel Wert auf Freizeit- und Kulturerfahrung jenseits des normalen Alltags legt.21 „Der Erlebnismarkt hat sich zu einem beherrschenden Bereich des täglichen Lebens entwickelt. Er bündelt enorme Mengen an Produktionskapazität, Nachfragepotential, politischer Energie, gedanklicher Aktivität und Lebenszeit. Längst sind Publikum und Erlebnisanbieter aufeinander eingespielt.“22 Wenn Menschen nach Erleben suchen, wie müsste sich da Evangelisation gestalten?

      1.5GWA als Grundstruktur des modernen Gemeindebaus

      Eine Gemeinde, die sich der Flexicurity-Probleme der Menschen annimmt, die nach Heimat und Lebensorientierung, nach sozialer Verwurzelung und ganzheitlicher Erneuerung des menschlichen Daseins fragt, wird sich bewusst in Gemeinwesenarbeit (GWA) engagieren. Gemeinwesenarbeit stellt heute das Arbeitsprinzip der sozialen Arbeit dar und stammt ursprünglich aus der christlichen Nächstenliebe. Wie kein anderes Modell der Gesellschaftstransformation ist die GWA geeignet, christliche Gemeindearbeit zu fördern.23 Hier kann Evangelisation einen ganzheitlichen Rahmen finden.24

      GWA-Projekte stehen immer vor der Herausforderung, beides in den Blick zu bekommen – die Bedürfnisse und Notlagen der Einzelnen und die der Gemeinschaft als Ganzes. Ohne die Personalisierung der sozialraumorientierten Gemeindearbeit, verliert diese ihren Anschluss an den Einzelnen und damit auch den Kontakt zum Ganzen, stellt doch das Gemeinwesen immer auch die Gemeinschaft im Lebensraum lebenden Individuen dar. Auf der anderen Seite kann es unmöglich nur um die Belange des Individuums gehen, weil diese nicht selten unterschiedlich sind und die exklusive Konzentration auf die Bedürfnisse des Einzelnen letztlich die Gemeinschaft als Ganzes infrage stellt. Sozialraumorientierte Gemeindearbeit wird daher nicht ohne bewusste Sozialisierung in ihren GWA-Projekten auskommen.25 Imke Niediek schlägt vor, die Brücke zwischen den beiden Orientierungen in der Institutionalisierung der GWA-Projekte zu suchen.26

      Eine solche Institutionalisierung kann im Rahmen der lokalen christlichen Gemeinde erfolgen. Damit würde die lokale Gemeinde sowohl dem Einzelnen als auch der Gemeinschaft als Ganzes dienen. Freilich setzt die Entscheidung, die Gemeinde im sozialen Raum zu verankern und im Sinne einer GWA aufzubauen, eine Reihe von wichtigen theologischen Vorbedingungen voraus. Ein solches Konzept verlangt nach einem distinktiven gesellschaftstransformativen Gemeindebegriff, der in die Missio Dei eingebunden ist. Zum anderen wird in einer solchen Gemeinde Mission und Evangelisation ganzheitlich verstanden. Das Evangelium wird hier in Wort und Tat verkündigt und meint immer den Aufbau des Reiches Gottes mit seiner Konzentration auf eine Kultur der Liebe, Annahme und Partizipation. Einer solchen Gemeindekultur widmen wir uns nun im weiteren Verlauf der Studie.

2 Evangelisation – die ganze Gemeinde für den ganzen Menschen

      2.1Auf das rechte Verständnis kommt es an

      Wer sich anschickt zu evangelisieren sollte wissen, was man da tut. Einig sind sich die Christen in dieser Frage jedenfalls nicht. Während die einen an die verbale Verkündigung mit dem Ziel der Überzeugung des Nichtgläubigen denken, sehen andere eine ganzheitliche Veränderung des Menschen in das von Gott gedachte Bild, die sowohl verbale als auch tatkräftige Verkündigung meint.27 Alle Christen sind sich auf jeden Fall einig, dass die Evangelisation mit der Vermittlung des Evangeliums, der guten Nachricht vom Heil in Jesus Christus, zu tun hat. Damit geht es in der Evangelisation um das Evangelium und die Art und Weise, wie dieses Evangelium zu den Menschen gebracht wird.

      2.2Das Evangelium – Gute Nachricht vom Leben in der Kraft Gottes

      Evangelisation macht das Evangelium bekannt, jene, wie George Peters sie nannte, „außergewöhnliche Botschaft“28, die Leben schaffen und verändern will. Es ist Gottes Vorstellung und Gottes Angebot des Lebens unter seiner Herrschaft. Und dieses Angebot ist uns Menschen durch Jesus Christus formuliert worden. In Ihm allein ist Heil (Apg 4,12). Er ist es, der Leben vermittelt. Jesus selbst spricht: „Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben; niemand kommt zum Vater denn durch mich“ (Joh 14,6). Leben aus der Hand Gottes gibt es demnach nur in Christus. Wer in Christus ist, der ist „eine neue Kreatur“ (2Kor 5,17). Im Wort von ihm ist Gottes Kraft zum Leben (1Kor 1,18). Und dieses Leben schließt alle Lebensbereiche ein. Der Mensch ist immer ganz gemeint. Das Evangelium von Jesus Christus ist ein Evangelium vom Reich, vom Leben unter der Königsherrschaft Gottes (Mt 4,15). Es verbietet sich, es theologisch zu verengen.29 Wer evangelisiert, der wird den ganzen Ratschluss Gottes, sein Lebensangebot

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