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die in der Vergangenheit ganze Gesellschaften zur Umkehr bewegten? Man denke da nur an Namen wie John Wesley (1703–1791) und George Whitefield (1714–1770) in England, Dwight L. Moody (1837–1899) in Amerika oder auch Elias Schrenk (1831–1913) in Deutschland. Sie haben Tausenden den Weg zum Glauben gewiesen.5 Ihr Wort hatte Kraft. Unsere Verkündigung – um ein Vielfaches verstärkt durch moderne mediale Hilfsmittel und begleitet von einer nie da gewesenen Hochglanzwerbung – verblasst regelrecht vor dem Lebenswerk dieser Männer. Haben wir keine Kraft des Geistes oder ist gar die Zeit der Billy Grahams vorbei? Oder liegt es vielleicht an der Gemeinde, die als eigentlicher Träger der Evangelisation ihren Auftrag falsch versteht? Solche und ähnliche Fragen müssen gestellt werden, wenn wir aus der pathologischen Unfähigkeit, unsere Zeitgenossen mit dem Evangelium zu erreichen, herauskommen wollen.

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       Abb. 1: John Wesley Statue in Wilmore, Kentucky 6

      1.2Wir machen Fehler, aber welche?

      Menschen werden grundsätzlich von folgenden Faktoren zu Inhalten gezogen, die ihnen so noch nicht vertraut sind: (a) die Darstellung des Inhalts, (b) die Darsteller des Inhalts, (c) der Ort, an dem die Darstellung stattfindet, (d) die gesellschaftlichen Möglichkeiten, die eine solche Darstellung eröffnet. Entsprechend werden die evangelistischen Programme der Gemeinden in der Öffentlichkeit beworben. Die Werbung unterstreicht das Thema, den Redner, den Ort oder auch das Ereignis als solches.

      Je nach Werbung wird dann der eine oder andere Aspekt stärker betont. Man sucht sich interessante Themen, die nicht direkt religiös anmuten, lädt bekannte Persönlichkeiten ein und wirbt mit ihren akademischen Titeln und Verdiensten, mietet sich in Räume ein, die sonst Welten vom religiösen Leben entfernt sind – z. B. Fußballstadien oder Konzerthallen –, und gestaltet ein buntes Programm um die eigentliche Verkündigung herum. Zuweilen hat man den Eindruck, dass man zu einer Zirkusveranstaltung eingeladen wird und nicht zur Evangelisation. Immer wieder erlebe ich, dass Menschen, die man zu einem Glaubensabend eingeladen hat, den Saal verlassen, weil sie sich hinters Licht geführt sehen. „Ich kam zu einem Vortrag über ein wissenschaftliches Thema und fand einen schlecht gemachten Gottesdienst vor“, beschwerte sich neulich eine ältere Dame bei mir über unseren evangelistischen Abend.

      An Mühen mangelt es uns nun offensichtlich nicht. Aber Erfolge können wir ebenso wenig verzeichnen. Hat sich unser Werben um den Menschen zu stark von einer einseitigen und deshalb falschen Kommunikationsart gefangen nehmen lassen? Oder ist es gar nicht mehr zeitgemäß, so für den Glauben zu werben, wie wir es tun? Und wenn ja, wie sollte es die Gemeinde Jesu denn tun?

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       Abb. 2: Gemeindeevangelisation im Koordinatensystem der Werbung

      Man hat in den letzten Jahren eine Reihe von denkbaren und ermittelten Ursachen evangelistischer Lethargie der Gemeinde Jesu in der westlichen Welt benannt. Sie reichen vom falschen Gemeinde- und Evangelisationsverständnis der jeweiligen Gemeinde über die Unfähigkeit, verständlich das Evangelium zu kommunizieren, bis hin zu einer evangelisationsfeindlichen Kultur der Gemeinde.

      So prangern eine Reihe von Autoren das nach innen gekehrte Gemeindeverständnis vieler evangelikaler Gemeinden als Hauptursache ihrer Fruchtlosigkeit an. In einer solchen Gemeindekonstruktion geht es zuallererst darum, den Glaubensgeschwistern zu dienen. Menschen außerhalb der Gemeinde sind eher eine Randerscheinung im Programm solcher Gemeinden. Wie aber will man evangelisieren, wenn diejenigen, die man evangelisieren soll, gar nicht erst im Blickpunkt des Interesses liegen? Eine evangelistische Gemeinde zeichnet sich durch eine deutliche Priorisierung der Programme für Nicht-Gläubige aus.

      Andere weisen auf das jeweilige Evangelisationsverständnis und die gewählten Methoden hin, die zeitlich überholt und deshalb denkbar uneffektiv geworden sind. Hunter sieht eine der Ursachen der evangelistischen Unfähigkeit der Gemeinde in der Vorstellung der Christen, dass Evangelisation ein attend, sit and listen-Event ist.7 Evangelisation ist somit ein einmaliges Programm, das bestimmte liturgische Elemente enthält und das man besucht und dem man in der Regel zuhört und zusieht. Die meisten Gemeindeglieder sind in diesem Modell zu Zuschauern degradiert. Und das Programm selbst appelliert in der Regel an den aufgeweckten Verstand, da die übermittelten Inhalte eher abstrakt-theologischer Natur sind. Konsequenterweise lädt man die Teilnehmer solcher Events dann zu einer Entscheidung ein, als wäre Evangelisation ein Diskurs, in dem man den anderen intellektuell zu überzeugen versucht. Evangelisation in diesem klassisch-evangelikalen Verständnis ist reduziert auf das individuelle Erlebnis des Einzelnen. Es ist in der Überzeugung begründet, „dass man ohne das persönliche Erlebnis der Wiedergeburt nichts Wirkliches vollbringen kann.“8 Diese Vorstellung passt recht gut in eine vom Individualismus durchtränkte Kultur. Wenn die Religion allem anderen voran eine private Angelegenheit ist, dann ist es auch verständlich, dass man das Individuum im Prozess der Aneignung der Religion möglichst privat belassen möchte. So kreiert man zwar Massenveranstaltungen, die aber in ihrem Wesen nur auf die Bekehrung des Individuums aus sind.9

      Wiederum andere sehen den Mangel an religiöser Erziehung in der Gesellschaft als den Hauptgrund für das abnehmende Interesse am christlichen Glauben. Sie begründen ihre Meinung mit den neuesten Erkenntnissen aus der Psychologie der Religion. Hier hat man sich in den letzten Jahren intensiv mit dem Prozess des Gläubigwerdens beschäftigt. Man spricht dabei von Encapsulation, einem Prozess der Sozialisierung des potenziellen Konvertiten in die Glaubensgemeinschaft hinein.10 Eine solche Sozialisierung verläuft im Prozess und setzt bei der materiellen, sozialen oder auch ideologischen Integration des Betroffenen in die Glaubensgemeinschaft an.11 Encapsulation als Prozess der Evangelisation setzt eine Gemeinde voraus, die bereit ist, den Menschen zu dienen. Und eine solche dienende Gemeinde wird sich nach Rene Padilla durch offene Türen für Sünder, die Annahme der Geringen, Inklusion und Solidarität auszeichnen.12 Der Mangel an einer solchen Kultur der Annahme ist dann auch die Hauptursache an der abnehmenden evangelistischen Kraft der Gemeinde.

      1.3Liegt es an der evangelistischen Kultur der Gemeinde?

      Über Gemeindekultur, Gemeindephänomene oder auch Gemeindecharakter wurde bislang nur sehr wenig geschrieben. Wie im folgenden Kapitel dargestellt, findet man Hinweise dazu nur am Rande entsprechender Werke zum Thema Gemeinde, Gemeindeaufbau oder Evangelisation der Gemeinde. Diese lassen aber den Verdacht zu, dass einer solchen Kultur doch viel mehr Bedeutung zugemessen werden muss, wenn die Gemeinde evangelistisch aktiv und effektiv werden soll. Hieraus ergibt sich die Forschungsfrage für meine Studie. Ich wende mich bewusst dem Phänomen einer evangelistischen Kultur der Gemeinde, die den Ungläubigen anzieht und zugleich integriert und in den rechten Glauben sozialisiert, zu. Mir geht es damit um Evangelisation als Prozess der Integration des Menschen in das Erleben des Glaubens. Dabei setze ich voraus, dass Evangelisation den Weg des Menschen zu Gott beschreibt. Ein solcher Weg schließt immer alle Lebensbereiche des menschlichen Daseins mit ein und er wird nicht allein durch Worte, sondern ganzheitlich durch Leben, Wort und Tat vermittelt.13

      1.4Flexicurity – Herausforderung und Chance

      Eine Studie zur Bedeutung der Gemeindekultur für Evangelisation erscheint mir als dringend nötig. Noch nie standen die Chancen für Evangelisation in unserem Land günstiger als heute. Noch nie waren Menschen so orientierungslos und verwirrt wie heute. Noch nie war unsere Gesellschaft so krank wie heute. Noch nie war das Evangelium vom Heil so gefragt wie heute.

      Zugleich aber liegt den Menschen die Welt zu Füßen. Die Menschen unserer modernen Gesellschaft sind überaus flexibel und mobil, und die Welt um sie herum ist zunehmend zu einem Dorf geworden, durch das man innerhalb weniger Stunden jettet. Mühelos holt man sich Orientierung und Lebensführung von nebenan. Im Internet kann jede Frage in wenigen

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