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Lukas recht behielt. Andrina war sich nicht sicher, ob die Beamten in Solothurn automatisch von den Ermittlungen am Hallwilersee wussten. Falls es einen Zusammenhang gab, hatte der Mann keinen Suizid begangen. Andersherum konnte es sich bei der Leiche im Ballyareal ebenfalls um Selbstmord handeln. Zwei Selbstmorde so dicht hintereinander an einem ähnlichen Schauplatz waren für Andrina ein zu grosser Zufall. Oder hatte sich die Frau von dem Mann am Hallwilersee «inspirieren» lassen? Immerhin hatte es eine Meldung in den Medien gegeben. Andrina lehnte den Kopf gegen die Fensterscheibe und genoss die Kühle des Glases. Sie sah die Pfahlbauten vor sich. Wie war die Frau dort hingekommen? Mit einem Boot? Das lag aber an dem Ufer, an dem sie mit Enrico gestanden war. Ein anderes hatte Andrina nicht gesehen, was nichts heissen musste. Es konnte auf der hinteren Seite der Pfahlbauten festgemacht worden sein.

      Hatten der Mann und die Frau sich gekannt? Warum war sie nicht zur Polizei gegangen? Immerhin war seine Identität weiterhin unbekannt. Zumindest war das der aktuelle Stand, den Andrina den Medien entnommen hatte, und von Susanna hatte sie bisher nichts Gegenteiliges erfahren.

      Hör auf, dir den Kopf darüber zu zerbrechen, dachte sie und drehte sich um. Sie starrte auf Lukas’ leeren Arbeitsplatz.

      Warum ritt er so hartnäckig auf einer möglichen Verbindung herum, die sie gerne ausklammern wollte?

      Sie kehrte zu ihrem Computer zurück und rief Google auf. Nachdem sie «Pfahlbauer Schweiz» in die Maske eingegeben hatte, liess sie den Cursor unschlüssig über die Links gleiten.

      Du solltest das nicht tun, sagte eine Stimme im Hinterkopf.

      Du steckst bereits mittendrin, hörte sie Lukas sagen.

      Hast du den Ärger vergessen, den du dir eingehandelt hast, wenn du deine Nase in kriminalistische Dinge gesteckt hast?, fragte die Stimme im Kopf.

      Das ist kein Ermitteln, sondern nur Interesse an der Geschichte. Andrina klickte auf den ersten Link und überflog die Zeilen.

      Im Alpenraum hatten Archäologen bis heute fast tausend Orte mit Pfahlbauten gefunden. Sie stammten aus der Zeit von ungefähr fünftausend bis fünfhundert vor Christus. Einige standen unter dem UNESCO-Kulturerbe. Die Häuser wurden auf Pfählen entlang von Feuchtgebieten, Seen oder Flüssen errichtet. Die erhöhte Bauweise war eine Absicherung gegen Hochwasser, wilde Tiere und feindliche Stämme.

      Andrina war vertieft in ihre Lektüre und zuckte zusammen, als es klopfte und gleich darauf die Tür geöffnet wurde.

      Kilian steckte den Kopf herein. «Hast du einen Augenblick Zeit?»

      «Kommt darauf an, wofür», erwiderte Andrina und kam sich ertappt vor. Sie hatte genug zu tun, statt im Internet zu surfen und sich den Kopf für andere zu zerbrechen. Was sie tun konnte, war, Susanna anzurufen und sie von Lukas’ Verdacht in Kenntnis zu setzen. Andrina klickte das Internet auf die Seite.

      «Ich habe einige Cover gestaltet», sagte Kilian und schloss die Tür. «Elisabeth kann sich nicht entscheiden, welche ich den Autoren zur Auswahl vorlegen soll. Sie meinte, ich solle dich fragen.»

      «Okay, zeig mal.»

      Am Nachmittag kam Andrina nicht dazu, Susanna anzurufen und ihr von Lukas’ Mutmassungen zu erzählen. Da Gabi einen Kontrolltermin beim Frauenarzt hatte, war es an Andrina, sich um den Adventsanlass von morgen zu kümmern. Wenn sie gerade nicht mit Dekorieren beschäftigt war, beantwortete sie E-Mails und Telefonanrufe mit Fragen zum Apéro. Wann er genau starte und ob man später kommen könne. Wo es Parkmöglichkeiten gebe. Sie musste kurzfristige Ab- und Neuanmeldungen vermerken. Inzwischen bezweifelte Andrina, dass die Räumlichkeiten des Verlags für diesen Anlass ausreichten, da es viele Anmeldungen gegeben hatte. Elisabeth hatte beschlossen, die Gäste im Sitzungszimmer zu begrüssen. Ausserdem konnten sie sich in Andrinas und Lukas’ sowie in Gabis und Kilians Büro und in dem leer stehenden Raum aufhalten, den Elisabeth als Reserve ansah, falls sie weitere Mitarbeiter einstellen wollte. Ihr Einzelbüro sollte jedoch nicht betreten werden. In der Küche sollte das Catering die Möglichkeit haben, die Speisen und Häppchen anzurichten. Das bedeutete, der Anlass fand auf ungefähr hundertfünfzig Quadratmetern statt. Andrina schaute auf die Liste. Dreissig Personen hatten sich angemeldet. Es würde eng werden, auch wenn man die Möbel auf die Seite rückte. Zum Glück trug Gabi die Hauptverantwortung.

      ***

      Als Andrina am Abend nach Hause kam, fühlte sie sich gerädert und liess sich erschöpft auf das Sofa fallen. Ihr Blick ging zum Schwedenofen. Sie sehnte sich nach der behaglichen und entspannenden Atmosphäre, die er ausstrahlte, wenn ein Feuer brannte. Der Korb daneben war leer, und sie konnte sich nicht aufraffen, Holz von draussen zu holen. Ihr Blick glitt weiter zu dem Esszimmertisch, auf den sie die Zeitung und drei Briefe gelegt hatte, die sie im Briefkasten gefunden hatte. Alles war an Enrico adressiert. Enrico würde heute etwas später nach Hause kommen.

      Andrina gähnte. Hin und wieder hatte er Bedenken angemeldet, ob es gut sei, wenn sie zu hundert Prozent arbeitete. Sogar ihr Frauenarzt hatte Andrina vorgeschlagen, das Arbeitspensum zu reduzieren. Obwohl sie in der letzten Zeit häufig erschöpft nach Hause kam, fühlte Andrina sich fit genug, weiterhin voll zu arbeiten. Sie war dankbar für den bisher unkomplizierten Verlauf ihrer Schwangerschaft, der das möglich machte. Sie hätte ein schlechtes Gewissen gehabt, weniger zu arbeiten, und wollte die Situation nicht ausnutzen.

      Nach einer Weile rappelte sie sich auf. Der Holzriemenboden knarrte unter ihren Füssen, als sie das Wohnzimmer verliess und zur Küche ging.

      Sie beschloss, zum Nachtessen einen Zwetschgenauflauf zu machen, damit sie das alte Brot verwerten konnte. Sobald sie ihn in den Ofen geschoben hatte, hörte sie die Haustür ins Schloss fallen. Einige Sekunden später steckte Enrico den Kopf zur Küchentür herein. Er küsste Andrina und musterte sie prüfend.

      «Du siehst müde aus.»

      «Es war heute einiges los», sagte sie ausweichend.

      Enrico neigte den Kopf, als Andrina nicht fortfuhr. Es war ihm eindeutig nicht recht, dass Andrina gerade eine Menge Arbeit und Stress im Verlag hatte. Wiederholt hatte er sich besorgt geäussert, es könne ihr zu viel sein. Andrina war froh, dass er sich heute Abend eines Kommentars enthielt.

      «Ausserdem hatte Elisabeth eine üble Laune, und sie hat alle damit angesteckt. Ich glaube, sie hat sich mit dem Backen übernommen.» Elisabeths Grosseltern hatten eine Confiserie gehabt. Offensichtlich hatte Elisabeth das Talent zum Backen von ihnen geerbt, das zu ihrem Lieblingshobby gehörte. Elisabeth hatte darauf bestanden, süsses Gebäck und Kuchen für den Anlass beizusteuern und dem Catering nur die herzhaften Speisen zu überlassen.

      Enrico warf einen Blick auf den Ofen. «Was ist da drin?»

      «Zwetschgenauflauf. Damit bin ich unser altes Brot los. Zwetschgen haben wir genug im Gefrierschrank, die unser Baum diesen Herbst in grossen Mengen geliefert hat. Brot und Zwetschgen mische ich mit Nüssen. Darüber kommt ein Guss, ähnlich wie ich ihn bei Wähen mache.»

      «Das kenne ich nicht, oder hast du das schon mal gemacht?»

      Andrina verneinte.

      «Es klingt auf jeden Fall fein.» Er schaute zum Ofen. «Das heisst, das Essen braucht eine Weile.»

      Andrina nickte.

      «Pause für dich.» Enrico nahm ihre Hand und zog sie ins Wohnzimmer. Erleichtert liess Andrina sich neben ihn auf das Sofa fallen. Enrico hob ihre Füsse auf seinen Schoss und begann sie zu massieren. Andrina lehnte sich nach hinten.

      «Tut das gut», murmelte sie.

      «Erzähl mal», sagte er und bearbeitete die Fusssohle. «Du siehst erledigt aus. Was war heute genau alles los?»

      Andrina berichtete von dem Tag und den letzten Vorbereitungen für den morgigen Anlass. «Zwar finde ich die Idee super, aber ich bin froh, wenn alles vorbei ist.»

      «Das kann ich mir denken.»

      «Immerhin gibt es danach genug Arbeit. Die Lektorate und Korrektorate sind mehr oder weniger liegen geblieben. Nur Lukas ist vom Fleck gekommen.» Andrina schwieg. Ihre Gedanken drifteten unweigerlich zu dem Gespräch,

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