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Gesammelte Werke: Historische Romane, Kriminalromane, Erzählungen & Essays. Rudolf Stratz
Читать онлайн.Название Gesammelte Werke: Historische Romane, Kriminalromane, Erzählungen & Essays
Год выпуска 0
isbn 9788075830760
Автор произведения Rudolf Stratz
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Der eine der Knirpse heulte auf. Er bekam plötzlich von rückwärts einen derben Klaps hinter die Ohren und sah, wie der herangetretene Bürgermeister ihm das Flugblatt aus der Hand nahm und zu dem anderen in die Dunggrube warf. »Dees hat uns grad' noch gefehlt!« grollte der hitzige kleine Bauer in Hemdärmeln zu dem Arzt. »Mannheimer Lausbube, wo so Zeug unner die Leut' verteile – un gar unner die Kinner! dees sind Bursche von der Fawrik, Na, wart' norr, wenn ich euch erwisch'!«
Der Doktor schüttelte gleichmütig den Kopf. Ihn, der eben aus dem Hause des Sozialdemokraten kam und gleich darauf mit der Gräfin vom Schlosse geplaudert hatte, interessierte dieser Zusammenstoß der kleinen Welten im Waldwinkel, dieser Sturm im Wasserglase wie ein wissenschaftliches Experiment, das man mit unparteiischer Neugierde verfolgt. »Norr kalt Blut, Herr Bürgermeischter!« sagte er im Vorübergehen. »Nor kei' Hitz' im Kopf! Sell is nix for Ihne ... sell gibt emol e Schlaganfall! Ich hab's Ihne jetzt schon so oft gesagt.«
Vor ihm lag jetzt, breit und protzig auf freiem Wiesengrund prangend, der rote Quaderbau der Fabrik, der qualmende Schornstein, ein paar Schuppen und Warenhäuser daneben, etwas abseits, inmitten eines eben erst angelegten, noch ziemlich kahlen Ziergartens eine kokette Villa im deutschen Renaissancestil – das Ganze ein beinahe unwahrscheinliches Bild im Rahmen der stillen Berge, der moosgrünen niederen Dorfdächer und des oben wie ein grauer Drache lauernden Schlosses.
Aus der Fabrik drang ein unbestimmtes Surren und Zittern. Dann klirrte in dem Landhause daneben ein Fenster. In ihm erschien der narbenübersäte, schnurrbärtige Kopf des Direktors.
»Komm doch herein, Doktor!« schrie er. »wo läufst du denn hin? Was, du willst dir erst von einem Burschen die Stiefel sauber machen lassen? Unsinn! Wozu leben wir denn in Sibirien? Unter den Wilden? Meine Frau ist schon an alles gewöhnt, die wundert sich über nichts mehr. Am wenigsten über kotige Teppiche.
»Eine freie Amerikanerin!« fuhr er fort, während der Kassenarzt eintrat und die Dame des Hauses, eine bildhübsche, etwas mokant aussehende Blondine, begrüßte. »Sie wußte ja, was uns bevorstand, als ich den großen Wurf tat und unser Geld in die Fabrik steckte. So 'ne Gelegenheit kam nicht wieder! Wasserkraft umsonst, Grund und Boden fast umsonst, Arbeitslohn billig und dazu die Eisenbahn! Kurzum – es muß gelingen! Nun heißt es eben aushalten im Gefängnis – in Sibirien! Ich schufte in der Fabrik, meine Frau zählt die Fliegen an der Wand, und so leben wir stillvergnügt dahin.«
»Zehn Jahre!« Die hübsche Hausfrau goß ihrem Gaste den Tee ein. »Dann haben wir hoffentlich genug, um unser Leben zu genießen.«
»Zehn Jahre!« Ihr Mann seufzte. »Zehn Jahre an diesen roten Kasten da gekettet. Da sagt man: ich hätte 'ne Fabrik. Nein, die Fabrik hat mich so gut wie das erste beste Hungerbäuerlein, das ich von seinem schimmeligen Kartoffelland erlöse und in bessere Nahrung setze. Wir sind bedauernswerte Kinder Gottes – was, Daisy? Ein freier Hamburger und eine freie Amerikanerin auf dieser wüsten Insel! Ewiger Ärger! Mit den Fossilen oben auf dem Schloß, die den Tunnel nicht haben wollen – mit der Gesellschaft hier unten – vorhin stapft mir wieder so ein Forellenfischer herein, mit sonderbaren Messingringen in den Ohren und einer tabakduftenden Flausjacke und Transtiefeln – meiner Frau wurde ganz übel – und behauptet, durch die Abwässer der Fabrik gingen die Fische zugrunde, oder so was Ähnliches.«
»Ärgere dich nicht, Darling!« sagte die hübsche Frau in dem leichten englischen Tonfall, der ihr sehr gut stand, und reichte ihm einen Teller mit Toasts.
Der Doktor sah sich inzwischen zerstreut im Zimmer um. Der Blüthnersche Flügel in der Ecke mit seinen frisch aus Berlin gekommenen Notenstößen, die deutschen, englischen und französischen Revuen und Romane, die Zeitungen aus New York, Hamburg und Berlin, die auf dem Seitentisch lagen, die wertvollen Ölgemälde an den Wänden, wie nebenan im Arbeitszimmer des Hausherrn die Haufen von wissenschaftlichen Fachschriften, Geschäftsbriefen und Depeschen – alles atmete den Geist modernen Lebens und moderner Kultur.
»Eingerichtet ist der Mensch wie ein Fürst!« sagte er. »Ein Leben führt er wie mitten in einer Großstadt und dabei ...«
»Ja – jetzt noch!« unterbrach ihn der andere. »Aber wer steht uns denn dafür, daß wir nicht schließlich doch noch verbauern, meine Frau und ich, in den zehn Jahren Strafzeit, und wenn wir dann das Leben endlich genießen wollen, selber ungenießbar geworden sind? Wir wehren uns ja aus Leibeskräften dagegen, musizieren, spielen Schach, lesen uns was vor und streiten über Politik – aber wenn das Jahr um Jahr so weiter geht ...«
»Heule nicht!« sagte der Doktor grob und ließ sich von der Amerikanerin zum drittenmal die Tasse füllen. »Was ist dir denn heute passiert, daß du so greulich schimpfst?«
Der Fabrikbesitzer zog mit gerunzelter Stirne ein Flugblatt aus der Tasche: »Da – lies mal! Das haben die Kerle heute nacht überall ...«
»Ach – laß mich damit aus!« Der Kassenarzt kaute mit beiden Backen. »Den Wisch hab' ich heute schon oft genug gesehen. 's hält ihn ja jeder in der Hand.«
»Das ist's ja eben! Die Leute werden aufgehetzt, und im Hintergrund des Ganzen steht wahrscheinlich wieder der Herr Irion – dies Kreuz von einem Menschen, den ich nicht wegjagen kann, weil er der einzige ist, der etwas von den Maschinen versteht. Ohne den könnt' ich selbst den halben Tag in der blauen Bluse herumstehen und hämmern!« Er schlug zornig mit der Faust auf den Tisch. »Dies Schandblatt ist verboten! In Mannheim drüben hat man's schon vor vier Wochen beschlagnahmt und die Verbreiter vor Gericht gestellt. Aber hilft das was? Nein!«
»Ich begreife gar nicht, wie du dich aufregen kannst!« sagte der Doktor phlegmatisch. »Du hast eine Fabrik gebaut, und wo eine Fabrik ist, ist die Sozialdemokratie. Da könnte ich mich gerade so gut wundern, daß, wenn ich einen Bazillus auf eine Kartoffelscheibe setze, binnen kurzem dort ein neuer Herd entsteht.«
Die Hausfrau erhob sich, um sich liebenswürdig zu verabschieden. Die beiden Männer blieben allein und rauchten gedankenvoll ihre Zigarren.
»Hast du viel zu tun?« fragte endlich der Hamburger.
Der Arzt nickte. »Mehr, als mir lieb ist. Und vor allem ... Dir kann ich's ja ruhig sagen, da ihr noch keine Kinder habt ...«
»Na – was ist denn los?«
»Wir haben die Diphtheritis im Dorf. Seit vorgestern. Die Erdarbeiter haben sie eingeschleppt.«
Der andere pfiff leise durch die Zähne. »Hast du Serum da?«
»Ja.«
»Und glaubst du, daß es eine Epidemie wird?«
»Ich hoffe nicht!«
Wieder verstummten die beiden. Der Doktor sah nach der Uhr.
»Wenn du mir was zu sagen hast,« sprach er, »dann mach', bitte, rasch! Ich hab' nicht viel Zeit mehr!«
»Zu sagen ... ja ... weißt du ... eigentlich fühle ich keinen Beruf dazu in mir ... es war nur ... wenn sich im Gespräch gerade so eine Anknüpfung gefunden hätte ...«
»Herrgott ... so red' doch!« rief der andere ungeduldig. »Druckst und würgt er da herum, als ob Gott weiß was ...«
»Nun ... wenn du willst. Ich muß ja allerdings von vornherein zugeben, ich kenne die Verhältnisse oben auf dem Schlosse gar nicht. Die Herrschaften haben jeden Verkehr mit uns wie mit der übrigen gewöhnlichen Menschheit abgelehnt. Der einzige, der oben aus und ein geht, bist du.«
»Ja! Worauf soll denn das ganze Gerede hinaus?«
»Das Gerede der Leute dreht sich eben um dich und um die Gräfin! Das ist's, was ich dir einmal bei Gelegenheit als Freund sagen wollte.«
Der Doktor lachte herzlich und wollte aufstehen. »Adieu!« sagte er. »Jetzt wird's mir zu dumm. Jetzt geh' ich!«
»Nein, hör' mal!« Der Hamburger drückte ihn in den Stuhl nieder. »Es ist ja sehr schön, wenn du das so heiter auffaßt.