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am Ende der Rinne nicht mehr, sondern nur noch Nebel unter sich und neben sich die zerklüftete Felswand, in deren Spalten sich die schräg gehaltenen Äxte feststemmten, während die Füße unbeweglich in den Stufen standen. Dann ein leichter Ruck am Seil, ein vorsichtiger Schritt in die nächsthöhere Kerbe und wieder ein langer Halt, in den von oben das Klirren und Splittern der Eisarbeit tönte.

      Da plötzlich pfiff einer leise durch die Zähne. Nun wurde es Ernst! Die bisher mäßig abfallende Eisrinne, in der sie emporklommen, bäumte sich jetzt auf einmal jäh vor ihnen auf und stürzte in fürchterlicher Steilheit, beinahe senkrecht, von oben aus dem Nebel herab. Daß der Nebel jeden Ausblick hinderte, daß man nicht erkennen konnte, wie lange diese bösartige Stelle dauerte, erhöhte das Unheimliche des Eindrucks. »Wer da den Halt verliert, dem gnade Gott!« Ein jeder schämte sich, das vor den anderen auszusprechen, und fühlte es doch in seinem Herzen.

      Sie standen beinahe übereinander in den Fugen des Berges, wie eine schwarze Riesenraupe, die, sich ruckweise zusammenziehend und streckend, an einer Wand in die Höhe kriecht. Keiner redete ein Wort. Sie atmeten schwer, mit gleichgültigem Gesichtsausdruck, als Männer, die sich vor ihresgleichen zu beherrschen wissen.

      Einmal mußte ja doch diese entsetzliche Leiter, auf der sie in die Nebelwelt hinaufstiegen, wieder in eine sanftere Krümmung übergehen. Aber es hatte nicht den Anschein. Im Gegenteil, je höher sie kamen, desto jäher schien der Abfall der Rinne. Und zugleich schoben sich die Felsen von beiden Seiten heran, so daß der Eisriß schließlich kaum mehr als drei oder vier Fuß breit war, in dem sie, frei in der Luft auf den Stufen fußend, zwischen den senkrecht abfallenden Wänden staken.

      »Hallo, Prinz!« tönte es von unten.

      Der Prinz drehte den Kopf nicht nach rückwärts. Er hätte den kleinen Amerikaner tief unter sich ja doch nicht gesehen. »Was ist denn los?« fragte er stumpfsinnig vor sich hin.

      »Es ist halb sieben! In einer Stunde fallen die ersten Steine! Wir müssen vorwärts um jeden Preis!«

      »Eilen Sie sich, Joseph!« sagte der Prinz zu dem hageren jungen Steinschläger. »Sonst fängt uns die Eislawine.«

      Der Berner drehte sich um. Sein sommersprossiges Gesicht schimmerte feucht von der Anstrengung. Es hatte seinen gewohnten nichtssagenden Ausdruck. »Schneller geht's nicht!« sprach er kurz. »Das Eis ist hart!«

      »Na, dann wird uns wohl der Teufel holen!«

      Der schmächtige Geselle lachte beinahe mitleidig. Er schien sich in dieser beklommenen Lage hier oben so wohl zu fühlen wie zwischen seinen vier Wänden. »Da wär' ich der Rechte!« sagte er. »Bin ich der Joseph oder nicht? In drei Viertelstunden sind wir draußen!«

      »Wahrhaftig?«

      »Ich hab's doch gestern geschätzt. Vierhundert Stufen sind's. Dreihundert hab' ich jetzt geschlagen!«

      Noch war es totenstill in den Kaminen und Schründen. Die tückischen Kobolde der Hochwelt, die Steine und Eisbrocken schliefen noch, als Spätaufsteher, die erst, wenn die Sonne schon hoch im Osten emporgestiegen ist, sich zu den todbringenden Sprüngen ins Tal rüsten. Die Steilheit des allmählich wieder breiter werdenden und an einzelnen Stellen von Felszacken durchbrochenen Couloirs blieb sich freilich immer gleich. Aber der Nebel änderte sein Aussehen. Er war nicht mehr gleichförmig grau, sondern bildete feine, weißliche Flocken, und dahinter leuchtete es goldig, in einem märchenhaften Schein.

      »Juhu!« Der Gletschermann aus Grindelwald durchbrach plötzlich das Schweigen mit einem Jodler, daß die unter ihm erschrocken zusammenfuhren.

      »Was gibt's denn?« erkundigte sich aus der Tiefe der Eisschlucht der Yankee.

      »Hol' der Herr seine Brille raus: die Sonne gibt's! Und gleich da oben ist der Gletscher!«

      Mann für Mann tauchte die ruckweise ansteigende Kette aus dem Nebelmeer in helles Licht und blauen Himmel hinauf. Hart über ihren Köpfen blinkte der hoch gewölbte, von bläulichen Spalten durchsetzte Eiswall der Gletscherzunge. Die Rettung war nahe, aber die Gefahr größer als je. Stumm wie Soldaten in der Schlacht, die jeden Augenblick ein Geschoß treffen kann, standen sie unter dem Firnstrom. Und auf ihm lagen die mählich in der Sonne rutschenden Schneemassen, die im tauenden Eiswasser langsam abwärts gleitenden Steine. Was sich dort oben löste, riß sie im Bogen mit in den Abgrund ... In dem wurde es allmählich licht. Die Nebelschwaden zerrissen, und plötzlich leuchtete ganz unten, in schwindelnder Tiefe, ein kleiner grüner Fleck auf. Er vergrößerte sich rasch, winzige Sennhütten zeigten sich auf dem immer weiter werdenden Wiesenplan, und endlich lag das Arvetal mit seinen blühenden Matten und dem niedlichen, wie ein Spielzeug aus der Schachtel gepackten Städtchen Chamonix frei vor ihren Augen.

      »Schade, daß wir sie nicht mit hier oben haben!« sagte der Amerikaner.

      »Angela?«

      »Ja. Das wäre mir eine angenehmere Gesellschaft als Sie!«

      »Mir auch. Aber in ein paar Stunden treffen wir uns ja und gehen zusammen auf den Montblanc!«

      »Aber Sie sind immer dabei! Das stört mich!«

      »Mich auch! Daß Sie da sind!«

      Der Riese lachte. »Ich bin zu faul, Franklin!« sagte er. »Schauen Sie doch mal nach, ob noch nichts von der Höhe kommt!«

      »Leider nein!«

      »Leider?«

      »Ja, wenn Sie's träfe!«

      »Na ... wenn Sie so sind,« der Riese war entrüstet, »dann wünsch' ich Ihnen auch ein Eisstück an den Kopf.«

      Dabei wiegte er den linken Arm hin und her. »Soll ich Ihnen einen Schubs geben, Franklin?« fragte er tückisch lächelnd. »Tun Sie's! Ich denunziere Sie noch im Herunterfliegen dem Friedensrichter. Die Führer sind meine Zeugen!«

      Die Führer hatten nicht auf das Gespräch geachtet. Starr wie Steinsäulen in den Tritten stehend, folgten sie mit den Augen der Arbeit ihres schmächtigen deutschen Genossen. Jetzt schlug er die letzte Stufe, jetzt schwang er sich über den Rand auf die Oberfläche des Gletschers, und aufatmend tönte sein Hallo herüber.

      Nun ging es rasch. Einer nach dem andern stieg lachend herauf. Es war ihnen allen merklich leichter um die Brust, als sie im Halbkreis auf dem Gletscher saßen, der, immer noch steil genug und listig mit Schnee bedeckt, sich vor ihnen auftürmte. Das gab noch harte Arbeit und ebenso das Klettern über den nadelscharf aus den Firnschründen aufschießenden Felsgrat, der zur Spitze führte. Aber das Schlimmste war doch überstanden, der Lawinenschlag, der den Tollkühnen wie den Schwächling gleichmäßig in die Tiefe reißt.

      Während sie im Schnee kauernd frühstückten, deutete der deutsche Führer Joseph, mit beiden Backen kauend, auf den Gletscherhang. Ein zerfressener Eisblock, in dem ein Haufen Steine von allen Größen feststak, löste sich da im Sonnenschein ganz still und lautlos von seiner Unterlage ab und glitt gemächlich, schneckengleich, über den Rand. Im nächsten Augenblick krachte er unten auf, ein Sausen und Poltern, das sich allmählich verlor, begleitete die pfeilschnelle Fahrt des Eis- und Steinhagels auf der Rutschbahn des Couloirs hinab in die Mulde.

      Franklin Moore zog die Stirne kraus und sah auf die Uhr. »Acht Uhr zwölf Minuten!« verkündete er. »Die Steine sind unpünktlich. Jetzt geht die Geschichte aber los.« Die Männer hatten sich ernst angesehen. »Wenn wir jetzt noch darin wären ...«, sagte ein französischer Führer und strich nachdenklich seine Bartkoteletten.

      »Man ist eben nicht mehr drin!« erwiderte Franklin kaltblütig. »Was, Prinz ... das ist die Hauptsache im Leben ... sich nicht erwischen lassen?«

      »Ja«, sagte der Recke, und beide lächelten sich feindlich an.

      »Dann auf!« Der Amerikaner sprang elastisch empor, » En avant, mes brave! en route au sommet!«

      » Au sommet!« wiederholte die dumpfe Bärenstimme eines welschen Gletschermannes, und die Führer rüsteten, einander stumme Blicke des Nationalitätenhasses zuwerfend, alles zum Weitermarsch.

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