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Harff, Jakobusreliquien in Toulouse vorhanden sein, wo doch der gesamte Leichnam in Compostela ruht? Die Kritik am Reliquienwesen ist alt, gewann aber neue Aktualität und hat später auch Martin Luther zu seiner Kritik an der Compostelafahrt geführt9. In Compostela bemängelte Münzer, dass er den Leichnam des Apostels nicht sehen konnte und fügte seufzend – oder ironisch? – hinzu, dass wir dies alles nur glauben könnten10. Der praktische Pilgerbetrieb in Compostela schien Münzer aber vor allem zu stören, und ähnlich kritisch vermerkt er zur Aachenfahrt, dass die Pilger dort mit viel Geld kämen und mit leerer Börse heimkehrten11.

      Es wäre einseitig, nur die kritischen Bemerkungen Münzers aufzugreifen: Pilgerorte wie St-Maximin, Les Saintes-Maries-de-la-Mer, Montserrat, Santiago de Compostela, Guadalupe, Toulouse, Tours oder Saint-Josse-sur-Mer fanden ebenso wie Aachen, Köln oder weitere bedeutende, auch künstlerisch interessante Klöster sein Interesse. Er wollte eben alles besuchen und sehen, was es zu sehen gibt. Und wo man den Reisenden Reliquien am Altar, in der Sakristei oder Schatzkammer zeigte, vermerkte Münzer dies gerne, manche Bemerkungen deuten darauf hin, dass er als Gedächtnisstütze vielleicht wie in Toulouse oder Tours einen Reliquienzettel erhielt oder abschrieb. Oft scheint er sich sogar mehr für den materiellen als für den spirituellen Wert zu interessieren, Reliquien und besonders Reliquiare waren schließlich zu teuren Kunstwerken geworden. In vielen Dingen sah Münzer aber auch auf den größeren politischen und kulturellen Kontext religiöser Phänomene. Deutlich wird dies zum Beispiel an den Gebräuchen in Saint-Josse-sur-Mer12, aber nicht nur dort. Wenn er in Santiago de Compostela Passagen des Liber Sancti Jacobi abschrieb, interessierten ihn vor allem die aus der Epik bekannten angeblichen Heldentaten Karls des Großen in Spanien. Aber er wollte auch mehr über einen so wichtigen Kult wie den Jakobuskult wissen – wenn er zum Beispiel das Kapitel über die Pilgermuscheln in seinen Bericht integrierte.

      In vielen Abschnitten beschritt die vierköpfige Gruppe Wege, die heutige Pilger wieder für sich entdeckt haben: Neben dem klassischen „Camino francés“, den er nach seiner Abreise aus Compostela bis zu den Bergen von León nutzte, folgte er von Almería nach Granada dem heutigen „mozarabischen Weg“, in Portugal auch dem sogenannten „Camino portugués“. In Frankreich reiste er nicht nur auf dem Hinweg von Arles bis Narbonne, sondern auch bei seinem Weg von Poitiers bis Paris und folgte damit der sogenannten Ober- und Niederstraße. Erst danach entfernte sich Münzers Route – wahrscheinlich des Seehandels wegen, von derjenigen des fast zeitgleich gedruckten Pilgerführers des Hermann Künig von Vach (1496)13.

      Unser Kosmograph notierte aber nicht nur die Distanzen zwischen den Städten, sondern auch die Lage (meist von einem Kirchturm in Augenschein genommen) oder auch die Bauwerke einer Stadt. Für viele (Sakral-)Bauten ist Münzer sogar die einzige Quelle, um den Zustand am Ende des 15. Jahrhunderts kennenzulernen. Größe, Breite und Höhe der Kirchen werden vermessen, mit Schritten, mit Handspannen, Ellen oder anderen Hilfsmitteln. Kleriker und Pfründen werden ebenso wie Ausstattungsgegenstände oder Gebräuche (Prozessionen in Santiago, Ritterschlag in Saint-Josse usw.) wahrgenommen. Er sah und hörte offensichtlich mit höchster Aufmerksamkeit.

      Für Kunst und Kunsthandwerk sind seine (freilich nicht immer ganz klaren) Beschreibungen oft einzigartig und werden von Kunsthistorikern sehr geschätzt, denn sie bieten nicht nur eingehende Beschreibungen der Objekte wie zum Genter Altar14, sondern auch Hinweise zum Entstehungsprozess, zu den (zuweilen aus Deutschland stammenden) Bauhandwerkern und vieles andere mehr. Förderer waren auch Kaufleute: Kunst und Kommerz hingen zusammen.

      Auch seine ständige Sorge, ob Klöster der Reformbewegung der Observanz folgten, zeigt, wie sehr der Nürnberger Humanist in den Diskussionen der Zeit zuhause war und wie er die Reformpolitik Ferdinands und Isabellas in dieser Frage zunehmend an den Orten kennenlernte und würdigte. Ob er die spezifisch iberischen Gemeinschaften der Hieronymiten und das Vorbild des Hieronymus so sehr schätzte, weil dies an seinen Namenspatron erinnerte? Ähnliches galt auch für andere Themen der Zeit, wie den Krieg von Granada, die Thronfolge in Frankreich oder Portugal und besonders für die Neuigkeiten zur sogenannten Europäischen Expansion.

      Die politischen Interessen, die sich in Besuchen niederschlugen und teilweise erst durch Empfehlungen und Vermittlung möglich wurden, sind vielfältig und wirkten wie ein Schneeballsystem. Herausgehoben sind die Besuche am portugiesischen und kastilisch-aragonesischen Königshof. Aber auch bei Statthaltern und Bischöfen war Münzer zu Gast. In Navarra oder in Orléans wollte Münzer die Herrscher sehen und erreichte dies auch, bis hin zu der etwas merkwürdigen Szene, als ihm der kränkelnde französische Thronfolger gezeigt wurde, den er von einer Brücke aus betrachten durfte15.

      Orte, Bauwerke, Institutionen und Personen waren wichtig, dazu traten aber die der Kosmographie geschuldeten Interessen, die Landschaft aufzunehmen. Zwar scheint hier später manches stereotyp und nicht immer stimmig niedergelegt, aber in der Regel beobachtete Münzer genau. Interesse an Flora und Fauna schloss wirtschaftliche Hintergründe ein, denkt man nur an den Safranhandel des 15. Jahrhunderts. Jedoch wird fast alles erfasst: Die genannten agrarischen Produkte und Pflanzen stellen für jede Übersetzung auch eine Herausforderung dar. Tiere in den herrschaftlichen Gehegen registrierte der Nürnberger Arzt ebenso, besonders exotische Tiere, von denen zum Beispiel eine Schlangenhaut oder ähnliches in Kirchen aufgehängt war. Und welche Mühe machte es Münzer, eine Gazelle zu beschreiben! Die genannten Früchte und agrarischen Produkte, deren Gedeih auch von den häufig gerühmten Bewässerungssystemen abhing, wurden oft exportiert, wie Malvasierwein, Safran, Wolle oder auch Rosinen. Deren Herstellung interessierte Münzer ebenso wie die Verarbeitung von Oliven zu Öl und anderes. Denkt man daran, dass er in jeder Landschaft immer auch Produkte, an den Kirchen Pfründen und beim Betrachten der Reliquien Geldwerte angab, dann scheint Münzer zwar Kosmograph, aber in vielem auch ein Homo oeconomicus gewesen zu sein. Er machte seinem Namen Münzer oder Monetarius also alle Ehre, obwohl ihn noch viel mehr interessierte, dies lässt der aufgezeichnete Bericht an vielen Stellen erkennen.

      4. Was ist aufzeichnenswert? Das Itinerarium

      Eine Skizze der Kathedrale in Santiago de Compostela steht fast genau in der Mitte des Itinerariums, wie der Bericht sich nennt. Was fand von Münzers Eindrücken Eingang in den Bericht? Konnte Münzer alles angemessen in Worte fassen? Zuweilen greift er – wie in Compostela – zur Zeichnung, obwohl dies nicht sehr oft geschieht. Die Entstehung des Itinerariums ist eine eigene Geschichte, die hier nur kurz resümiert werden kann1.

      Ohne Hartmann Schedel wüssten wir von Münzers Reise so gut wie nichts, denn fast alle Informationen entstammen dem Itinerarium, das uns nur in einer Abschrift Hartmann Schedels in der Münchener Handschrift (Clm 431) überliefert ist. Die Entstehung des Berichtes wird dort aber nicht explizit thematisiert, grundsätzlich folgt der Text dem Reiseverlauf. Trotzdem ist die gesamte Handschrift aufschlussreich, denn sie enthält neben dem Itinerarium weiteres Material, das zusätzliche Überlegungen zur Reise und zur Abfassung des Berichtes bereithält. So zeigen die weiteren Teile der Handschrift, dass Hartmann Schedel Materialien Münzers als Beilagen aufgenommen hat, die teilweise eine Grundlage zur Abfassung des Berichtes geboten haben dürften2. Einzelne Schriften wurden aber nicht wie der Liber Sancti Jacobi in den Text integriert, sondern ausgelagert, zum heiligen Mamertus in Vienne, zur Lobesrede des Alfons de Ortiz auf die Katholischen Könige oder zu den Entdeckungsfahrten nach Afrika. Weitere Ergänzungen betreffen die Epigramme des in Portugal von Münzer aufgesuchten Humanisten Cataldus und einige andere kleine Notizen, wie auf Folio 303. Dort wird die Situation in Freiburg im Üchtland beschrieben; dies zeigt, wie ein Notizzettel Münzers ausgesehen haben könnte3. Wer die Verschränkungen und die internen Verweise vornahm, Münzer oder Schedel, bleibt jedoch offen. Da Münzers Itinerarium aber nur über Schedels Abschrift greifbar ist, können Rückschlüsse auf die Eigenheiten im Einzelfall Hartmann Schedel und nicht Hieronymus Münzer selbst betreffen.

      Trotzdem suggeriert das Itinerarium, dass Münzers persönliche Reiseeindrücke in die schriftliche Fassung eingingen. Die Struktur variiert: Schon beim schlichten Durchlesen werden unterschiedliche Schwerpunkte erkennbar. Dominieren noch in Frankreich vielfältige Notizen zur Hagiographie, zu den Heiligen, zu Gräbern und ihren Epitaphien, so erscheint der insgesamt sehr lange Teil zur Iberischen Halbinsel deutlich ethnographischer. Die Fremdheit führt auch zu „politischen“ Kommentaren: Judenpolitik, Krieg von Granada, dynastische Entwicklungen

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