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furchtbar!«, flüsterte Christin und strich eine der verfilzten Strähnen aus dem Gesicht der schlafenden Laura. Sie hatten die junge Frau auf das Sofa im Wohnzimmer gebettet. Die Pfarrerin hatte den beiden Polizisten einen Kaffee angeboten, den diese dankbar angenommen hatten. »Und man hat nie herausgefunden, wer eure Kollegin angefahren hat?«

      Schlüter schüttelte den Kopf. »Nein. Die Fakten waren eindeutig. Ein großes Auto, ein Jeep oder Transporter. Aber obwohl in dieser Nacht im Risselweg eine Party stattfand, gab es keine Zeugen. Es war kalt, damals hat noch jeder im Raum geraucht, gegen zwölf wurde dem Gastgeber ein Ständchen gesungen.«

      »Natürlich haben wir alle Werkstätten kontaktiert«, ergänzte Freddie, »auch über die Presse, ob irgendwo ein Wagen mit einem Frontschaden abgegeben wurde, aber nix.«

      »Du kannst dir nicht vorstellen, was wir und viele Kollegen von anderen Revieren alles unternommen hatten«, ergänzte Schlüter, »wochennein, monatelang immer wieder alles durchgegangen, rekonstruiert, angehalten, kontrolliert, bis wir einsehen mussten, dass wir tatsächlich niemanden zur Verantwortung ziehen konnten.«

      »Warum ist sie da überhaupt alleine hingefahren?«, hakte Christin nach, »darf man als Polizistin oder Polizist überhaupt alleine Streife fahren?«

      »Ja, das dürfen wir«, antwortete Schlüter, »es war ja auch keine gefährliche Situation oder ein Einsatz.«

      »Ich verstehe aber immer noch nicht, was sie da genau wollte?« Christin betrachtete Laura und wischte ihr dann wieder vorsichtig mit einem feuchten Waschlappen einen Speichelfaden, der aus ihrem Mund lief, vom Kinn.

      »Hm, wir glauben, dass sie tatsächlich auf der Party kurz ›Hallo‹ sagen wollte. Ein Bekannter von ihr und ihrem Mann hatte in dieser Nacht dort seinen dreißigsten Geburtstag gefeiert. Und dann hat sie dieses verdammte Auto erwischt«, Schlüter rieb sich mit der rechten Hand über sein Kinn. Christin konnte spüren, wie ihm die Geschehnisse dieser Nacht noch immer sehr nahe gingen. Schlüter war damals schon der Dienstälteste gewesen, Nicole eine junge Polizistin, frisch gebackene Mutter und sein Schützling.

      Dann auf einmal tot.

      »Ich hatte damals das Gefühl gehabt, als ob es im Grunde vor meinen Augen passiert war«, stieß Schlüter aus.

      »Und Laura ist ihre Tochter«, murmelte die Pfarrerin.

      »Ja«, nickte Freddie zur Bestätigung, »und uns leider schon bekannt. Bringt sich selber ständig in Schwierigkeiten.«

      Christin musste gähnen und schaffte es nur knapp, rechtzeitig eine Hand vor den Mund zu halten.

      »Na, wir gehen dann mal«, sagte Schlüter.

      »Können wir dich jetzt mit Laura alleine lassen?«, fragte Freddie.

      »Wenn ihr mir nicht verschweigt, dass dieses reizende Geschöpf eigentlich eine massenmordende Psychopathin ist, werd ich schon mit ihr fertig«, lächelte die Pfarrerin, sich wieder ein Gähnen verkneifend.

      »Danke, Christin, und jetzt schlaf noch schön!«, verabschiedete sich Schlüter.

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       Mittwoch, 30. Mai 2018, morgens

      Ein merkwürdiges Geklapper weckte Christin Erlenbeck. Einen Moment gab sie sich noch, um richtig wach zu werden und herauszufinden, was das für Geräusche waren. Dann wurden ihr einige Tatsachen schlagartig klar.

      Es war Mittwoch, ihre Kinder mussten zur Schule, sie hatte eventuell den Wecker nicht gehört, sie hatte einen sturzbetrunkenen Gast in ihr Haus aufgenommen, sie musste arbeiten – und irgendjemand hantierte in ihrer Küche herum. Zum Glück war es erst Viertel vor sieben.

      Langsam stand sie auf, schlich zur Treppe, die in das Erdgeschoss führte, und weiter einige Stufen hinab. Die Sonne schien schon durch alle Fenster herein, es würde wieder ein warmer Tag werden. Kaffeeduft stieg ihr in die Nase.

      »Aber warum tust du dann immer so unvernünftige Sachen«, hörte sie ihre Tochter sagen, »damit gibst du ihnen doch nur recht.«

      Christin schien es so, als ob sie einiges verpasst hätte. Verwundert lauschte sie dem Gespräch in der Küche.

      »Ich weiß es auch nicht.«

      Sie stellte fest, dass die zarte, junge Frau eine sehr tiefe und raue Stimme hatte.

      »Ein Therapeut hat mir mal erklärt, dass ich so nur Aufmerksamkeit bekommen möchte. Aber auch wenn ich das jetzt weiß, betrinke ich mich trotzdem immer regelmäßig.«

      »Aber der Therapeut muss dir doch …«, Mathilda sah zu ihrer Mutter auf, die die Küche betreten hatte. »Morgen Mama, das ist Laura.«

      Christin kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Dass ihre Tochter mit einer fremden Frau Gespräche über Alkoholkonsum führte, erstaunte sie nicht so sehr wie die Tatsache, dass Mathilda, die sich morgens vor der Schule immer weigerte, etwas zu essen, an einem schön gedeckten Frühstückstisch saß und Müsli mit Joghurt und Obst aß. Laura drückte gerade die fertig gepackten Brotdosen zu und griff dann zur Kaffeekanne, um ihrer Gastgeberin Kaffee einzugießen.

      »Guten Morgen«, sagte Laura und stellte die Kanne wieder auf die Wärmeplatte der Kaffeemaschine. Sie setzte sich dann auch an den Küchentisch. »Ich hoffe, der Kaffee schmeckt Ihnen. Matti sagte, Sie mögen ihn nicht so stark. Oh, übrigens«, sie deutete zu den Brotboxen, »die Fleischwurst ist jetzt alle.«

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      Ursula Höfer schaute ihre Chefin schon erwartungsvoll an, als diese um halb neun ins Pfarrbüro kam.

      »Wie geht es Laura?«, fragte sie nach einem schnellen Guten-Morgen-Gruß. »Schläft sie noch?«

      Pfarrerin Christin Erlenbeck verschränkte die Arme vor der Brust.

      »Sorry, aber langsam komme ich nicht mehr mit!«, schimpfte sie. »Ich habe im Moment wirklich andere Dinge im Kopf! Ich werde mitten in der Nacht wegen einer Betrunkenen geweckt. Meine dreizehnjährige Tochter verrät meine mütterlichen Bemühungen um eine gesunde Ernährung und führt mit einer völlig fremden Person ein Gespräch über Alkoholtherapien. Dann schafft es diese Laura auch noch, schon um Viertel vor sieben perfekte Lunchboxen für meine Kinder fertig zu haben und mir nebenbei einen göttlichen Kaffee einzuschütten. Und nun interessiert sich auch meine Sekretärin nur für diese geheimnisvolle Fremde!«

      »Sie ist meine Großcousine.«

      Christin brauchte eine Sekunde, um diese Aussage zu begreifen.

      »Genau genommen«, fuhr Ursula fort, »meine Nichte zweiten Grades. Die Tochter meiner verstorbenen Cousine.«

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      Sonntag, 20. Oktober 1985

       Ich habe mich das erste Mal bumsen lassen!

       So, meine liebe Cousine Uschi, hättest du mir auch so ein dämliches Tagebuch geschenkt, wenn du gewusst hättest, dass ich so böse Wörter da reinschreibe?

       Uschi Uschi Uschi

      Du hasst es, wenn ich dich so nenne, denn dann fangen alle an zu grinsen.

       Uschi Muschi

      Ich bin 16 geworden, du bist 18, aber hast bestimmt mit deinem Jürgen bisher nur Händchen gehalten.

       Aber bei mir ist nix mehr mit Like a Virgin!!!!

      Aber jetzt der Reihe nach. Schließlich ist das ein wichtiger Moment in meinem Leben, und du wolltest doch, dass ich wichtige Momente aufschreibe.

      Vor genau einer Woche bin ich 16 geworden. Das muss ich meinen Eltern lassen, die Party war spitzenmäßig. Die haben wirklich nicht genervt,

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