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Verbrechen und Strafe. Fjodor Dostojewski
Читать онлайн.Название Verbrechen und Strafe
Год выпуска 0
isbn 9788726372038
Автор произведения Fjodor Dostojewski
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
Nein, ich werde es nicht aushalten, ich werde es nicht aushalten! Und wenn auch in all diesen Berechnungen kein einziger zweifelhafter Punkt ist; und wenn auch alles, was ich mir in diesem Monate zurechtgelegt habe, klar wie der Tag und richtig wie das Einmaleins ist. O Gott! Ich werde mich ja doch nicht dazu entschließen! Ich werde es nicht aushalten können, nein! . . . Warum . . . warum habe ich nur bis jetzt . . .“
Er stand auf, blickte erstaunt um sich, wie in Verwunderung darüber, daß er hierhergeraten war, und ging nach der T . . . brücke. Er war blaß, die Augen brannten ihm, alle seine Glieder waren matt und kraftlos; aber auf einmal hatte er die Empfindung, daß er wieder freier atmen könne. Er fühlte, daß er diese schreckliche Last, die ihn so lange bedrückt hatte, nunmehr abgeworfen habe, und es wurde ihm auf einmal leicht und friedlich ums Herz. ,O Gott‘, betete er, ,zeige mir meinen Weg, und ich entsage diesem unseligen Plane!‘
Als er über die Brücke ging, betrachtete er still und ruhig die Newa und die leuchtend rot untergehende Sonne. Trotz seiner Schwäche verspürte er eigentlich keine Müdigkeit. Es war, als ob an seinem Herzen plötzlich ein Geschwür aufgegangen wäre, das sich einen ganzen Monat lang entwickelt hatte. Freiheit! Freiheit! Jetzt war er frei von dieser Bezauberung, dieser Behexung, diesem Taumel, dieser Verlockung!
Sooft er sich später an diese Zeit und an all das erinnerte, was sich mit ihm in diesen Tagen von einer Minute zur andern, Punkt für Punkt zugetragen hatte, fiel ihm immer ein bestimmter einzelner Umstand auf, so daß er ihn beinahe abergläubisch machte; dieser Umstand war zwar in Wirklichkeit eigentlich nicht besonders ungewöhnlich, erschien ihm aber später stets wie eine Art Vorherbestimmung seines Schicksals.
Nämlich: er konnte es gar nicht begreifen und sich erklären, warum er, statt auf dem kürzesten und geradesten Wege nach Hause zurückzukehren, was bei seiner Schwäche und Erschöpfung das Zweckmäßigste gewesen wäre, über den Heumarkt nach Hause ging, den zu passieren er nicht den geringsten Anlaß hatte. Der Umweg war ja kein großer, aber es war eben doch ein Umweg und völlig überflüssig. Gewiß, es war bei ihm schon wer weiß wie oft vorgekommen, daß er nach Hause zurückkam, ohne sich erinnern zu können, durch welche Straßen er gegangen war. Aber warum — so fragte er sich später immer — warum ereignete sich eine so wichtige, für ihn so entscheidende und zugleich so höchst zufällige Begegnung auf dem Heumarkte (über den er gar nicht zu gehen brauchte) gerade jetzt zu dieser Stunde, in diesem Augenblicke seines Lebens, gerade bei einer solchen Stimmung seiner Seele und gerade unter solchen Umständen, die allein es ermöglichten, daß diese Begegnung eine entscheidende, endgültige Einwirkung auf sein ganzes Schicksal ausübte? Als ob sie hier absichtlich auf ihn gewartet hätte!
Es war gegen neun Uhr, als er über den Heumarkt ging. Alle Verkäufer, die auf Tischen, in Mulden, in Läden und Buden ihre Waren feilgehalten hatten, schlossen ihre Geschäfte oder nahmen ihren Kram weg und verwahrten ihn und begaben sich, ebenso wie ihre Käufer, nach Hause. Bei den Speisewirtschaften, die sich in den Kellergeschossen und auf den schmutzigen, übelriechenden Höfen der Häuser des Heumarktes befanden, und besonders bei den Schenken drängten sich Haufen von allerlei kleinen Gewerbsleuten und Gesindel. Raskolnikow hatte für diese Gegend sowie für die umliegenden Gassen eine besondere Vorliebe, wenn er so ohne bestimmtes Ziel ausging. Hier erregte seine zerlumpte Kleidung bei keinem Menschen eine naserümpfende Aufmerksamkeit; hier konnte man aussehen, wie man wollte, ohne bei jemand Anstoß zu erregen. Gleich an der Ecke der K . . . gasse hielten ein Kleinbürger und ein altes Weib, seine Frau, auf zwei Tischen ihre Ware feil: Zwirn, Band, baumwollne Tücher und dergleichen. Sie waren gleichfalls schon im Begriff, sich nach Hause zu begeben, wurden aber durch das Gespräch mit einer herangetretenen Bekannten noch aufgehalten. Diese Bekannte war Lisaweta Iwanowna oder schlechthin, wie sie von allen Leuten genannt wurde, Lisaweta, die jüngere Schwester eben jener alten Aljona Iwanowna, der verwitweten Kollegienregistratorin und Wucherin, bei der Raskolnikow gestern gewesen war, um seine Uhr zu versetzen und eine Probe vorzunehmen . . . Über diese Lisaweta war er schon lange vollständig unterrichtet, und auch sie kannte ihn einigermaßen. Sie war ein großes, plumpes, schüchternes und bescheidenes Mädchen, fast schwachsinnig, fünfunddreißig Jahre alt; sie lebte bei ihrer Schwester in richtiger Sklaverei, arbeitete für sie Tag und Nacht, zitterte vor ihr und ließ es sich sogar gefallen, daß diese sie schlug. Sie stand überlegend mit einem Bündel in der Hand vor dem Händler und seiner Frau und hörte ihnen aufmerksam zu. Die beiden setzten ihr etwas mit besonderem Eifer auseinander. Als Raskolnikow auf einmal Lisaweta erblickte, überkam ihn ein seltsames Gefühl, eine Art tiefen Staunens, obgleich an dieser Begegnung eigentlich nichtsErstaunliches war.
„Sie sollten mit den Leuten selber mal reden und sich danach entscheiden, Lisaweta Iwanowna“, sagte der Händler laut. „Kommen Sie morgen zu uns, so gegen sieben Uhr. Die andern werden auch herkommen.“
„Morgen?“ antwortete Lisaweta gedehnt und zögernd, als ob sie sich nicht entschließen könne.
„Sie haben viel zuviel Angst vor Aljona Iwanowna!“ schwadronierte die Frau des Händlers, ein resolutes Weib. „Wenn man Sie so ansieht — ganz wie ein kleines Kind. Und dabei ist sie nicht einmal Ihre richtige Schwester, sondern nur Ihre Stiefschwester, und was hat sie sich für eine Herrschaft über Sie angemaßt!“
„Ich möchte Ihnen raten“, unterbrach sie der Mann, „sagen Sie Ihrer Schwester diesmal doch nichts davon; sondern kommen Sie zu uns, ohne sie erst zu fragen. Es ist ein vorteilhaftes Geschäft. Nachher wird es Ihre Schwester selbst finden.“
„Dann soll ich also herkommen?“
„Morgen um sieben; und von denen werden auch welche hier sein. Dann können Sie persönlich die Sache ins reine bringen.“
„Tee wollen wir auch machen“, fügte die Frau hinzu.
„Nun gut, ich werde kommen“, erwiderte Lisaweta, immer noch überlegend, und schickte sich langsam an fortzugehen.
Raskolnikow war nun schon an ihnen vorbei und hörte nichts mehr. Er war sachte und unauffällig vorbeigegangen, bemüht, kein Wort von dem Gespräche sich entgehen zu lassen. Sein anfängliches Staunen ging allmählich in Schrecken über, und Kälte lief ihm über den Rücken. Er hatte erfahren, plötzlich und ganz unerwartet erfahren, daß morgen, genau um sieben Uhr abends, Lisaweta, die Schwester der Alten und deren einzige Wohnungsgenossin, nicht zu Hause sein werde und daß also die Alte genau um sieben Uhr abends allein zu Hause war.
Bis zu seiner Wohnung hatte er nur noch wenige Schritte zu gehen. Er kam nach Hause wie ein zum Tode Verurteilter. Er überlegte nichts und war auch völlig außerstande, etwas zu überlegen; aber in seinem ganzen innersten Wesen fühlte er plötzlich, daß er jetzt keine Freiheit der Überlegung, keinen eigenen Willen mehr besitze und daß auf einmal alles endgültig entschieden sei.
Gewiß: wenn er auch jahrelang auf einen günstigen Zufall hätte warten wollen, so wäre doch nicht mit Sicherheit auf eine bessere Chance für das Gelingen seines Planes zu rechnen gewesen, als diese war, die sich ihm soeben auf einmal darbot. Jedenfalls würde es schwer sein, einen Tag vorher zuverlässig, mit größter Genauigkeit und geringstem Risiko, ohne gefährliche Befragungen und Nachforschungen, in Erfahrung zu bringen, daß am andern Tage um soundso viel Uhr das und das alte Weib, auf das man einen Anschlag plant, mutterseelenallein zu Hause sein wird.
VI
In späterer Zeit erfuhr Raskolnikow zufällig, weshalb der Händler und seine Frau eigentlich Lisaweta zu sich eingeladen hatten. Der Anlaß war ein ganz gewöhnlicher gewesen, der nicht das geringste Absonderliche an sich hatte. Eine von außen zugezogene verarmte Familie wollte ihre Sachen verkaufen, Kleidungsstücke und dergleichen, lauter Frauensachen. Da es unvorteilhaft war, diesen Verkauf auf dem Markte zu bewerkstelligen, so suchten sie eine Zwischenhändlerin. Lisaweta aber gab sich mit dergleichen Geschäften ab: sie übernahm Kommissionen, machte Gänge in Geschäftsangelegenheiten und hatte eine recht bedeutende Praxis, weil sie sehr ehrlich war und immer gleich den äußersten Preis bot; wenn sie einen Preis genannt hatte, dann blieb es auch dabei. Sie redete überhaupt nur wenig und war, wie bereits gesagt,