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Verbrechen und Strafe. Fjodor Dostojewski
Читать онлайн.Название Verbrechen und Strafe
Год выпуска 0
isbn 9788726372038
Автор произведения Fjodor Dostojewski
Жанр Языкознание
Издательство Bookwire
,Das arme Mädchen!‘ sagte er sich mit einem Blick auf die nun leere Ecke der Bank. ,Wenn sie wieder zu sich kommt, wird sie in Tränen ausbrechen, und dann erfährt ihre Mutter das Geschehene . . . . Sie schlägt die Tochter mit den Fäusten, mit dem Stocke; oh, der Schmerz und die Schande! Vielleicht jagt sie sie gar aus dem Hause . . . Und wenn sie sie auch nicht aus dem Hause jagt: solche Kupplerinnen, wie Darja Franzowna, wittern die Sache doch, und dann fängt das Mädchen an, hierhin und dahin seine heimlichen Gänge zu machen. Dann kommt gleich das Krankenhaus (denn so geht es immer denen, die bei anständigen Mütternwohnen und sich so im stillen außer dem Hause herumtreiben), nun, und darauf . . . darauf folgt wieder das Krankenhaus, . . . der Branntwein, . . . die Kneipen . . . und nochmals das Krankenhaus, . . . in zwei, drei Jahren ist sie körperlich völlig ruiniert, also mit neunzehn oder auch nur achtzehn Jahren. Solche Mädchen habe ich ja schon massenhaft gesehen. Und wie sind sie so geworden? Genau auf die Weise wie hier . . . Pfui! Aber meinetwegen! Es heißt, das muß eben so sein. Ein gewisser Prozentsatz, heißt es, muß jedes Jahr draufgehen, zum Teufel gehen, damit die übrigen frisch und gesund bleiben und sich ungestört entwickeln. Ein Prozentsatz! Wahrhaftig, prächtige Fachausdrücke haben die Leute jetzt; sie klingen so beruhigend, so wissenschaftlich. Man hat den schönen Ausdruck erfunden: »ein Prozentsatz«, und nun braucht sich niemand mehr aufzuregen. Ja, wenn man einen andern Ausdruck dafür gebrauchte, nun, dann . . . wäre die Sache vielleicht aufregender . . . Wie, wenn nun auch Dunja irgendwie in diesen Prozentsatz hineingerät? . . . Und wenn nicht in diesen, dann in einen andern?‘
,Aber wo wollte ich denn eigentlich hingehen?‘ überlegte er auf einmal. ,Sonderbar! Ich hatte doch einen Grund, weshalb ich ausging. Als ich den Brief gelesen hatte, da ging ich fort, . . . nach der Wassilij-Insel, zu Rasumichin wollte ich gehen; das war’s, jetzt fällt es mir ein. Aber weshalb denn? Wie ist mir denn gerade jetzt der Einfall gekommen, zu Rasumichin zu gehen? Das ist doch merkwürdig!‘
Er wunderte sich über sich selbst. Rasumichin war einer seiner früheren Kommilitonen auf der Universität. Es war auffällig gewesen, daß Raskolnikow, solange er auf der Universität war, fast keinen Freund hatte, sich von allen zurückzog, zu niemandem hinging und nur ungern jemand bei sich sah. Auch wandten sich bald alle von ihm ab. Weder an gemeinsamen Zusammenkünften noch an Gesprächen, noch an Vergnügungen, an nichts beteiligte er sich. Er arbeitete angestrengt, ohne sich zu schonen; man achtete ihn deswegen, aber niemand mochte ihn gern. Er war bei seiner Armut von einem anmaßenden Stolze und einer seltsamen Verschlossenheit, wie wenn er bezüglich seiner Person etwas zu verheimlichen hätte. Manche seiner Kommilitonen hatten von ihm den Eindruck, als blicke er auf sie alle von oben herab wie auf Kinder, in der Vorstellung, daß er sie alle in der geistigen Entwicklung, den Kenntnissen und Lebensanschauungen weit überholt habe und als sehe er ihre Anschauungen und Interessen für minderwertig an.
Rasumichin war der einzige, mit dem er befreundet war; befreundet ist eigentlich zuviel gesagt, aber er war ihm gegenüber mitteilsamer und offener. Übrigens war es gar nicht möglich, sich mit Rasumichin anders zu stellen. Dieser war ein ungemein heiterer, offenherziger Bursche und von einer Herzensgüte, die an Einfalt grenzte. Aber unter dieser Einfalt verbargen sich Tiefe und Gediegenheit. Die besseren unter seinen Kommilitonen hatten dafür Verständnis, und alle mochten ihn gerne leiden. Er besaß einen guten Verstand, obwohl er sich manchmal tatsächlich etwas naiv benahm. Sein Äußeres fiel auf: er war hochgewachsen, hager, stets schlecht rasiert, schwarzhaarig. Mitunter suchte er Händel, und er stand im Rufe gewaltiger Körperkraft. Einmal hatte er in der Nacht, als er in Gesellschaft die Straße entlang zog, mit einem einzigen Schlage einen baumlangen Wächter niedergeschmettert. Trinken konnte er in unbegrenztem Maße; aber er vermochte auch sich des Trinkens völlig zu enthalten. Manchmal verübte er ganz sträfliche Streiche; indes konnte er sich auch durchaus gesetzt benehmen. Eine beachtenswerte Eigenschaft an ihm war ferner, daß er sich niemals durch ein Mißgeschick aus der Fassung bringen ließ und, wie es schien, auch in der schlimmsten Lage nicht den Mut verlor. Er war imstande, nötigenfalls auf dem Dachboden zu kampieren, einen barbarischen Hunger und die fürchterlichste Kälte zu ertragen. Er war sehr arm, bestritt aber seinen Unterhalt ganz allein, indem er sich durch allerlei Arbeiten Geld verschaffte. Er kannte eine Unmenge Quellen, aus denen er schöpfen konnte, d. h. natürlich, wo er durch Arbeit sich etwas verdienen konnte. Einmal ließ er den ganzen Winter hindurch sein Zimmer gar nicht heizen und behauptete, dies sei sogar angenehmer, da man im Kalten besser schlafe. Zur Zeit hatte auch er sich genötigt gesehen, die Universität zu verlassen; jedoch sollte das nicht lange dauern, und er bemühte sich mit aller Kraft, seine Verhältnisse möglichst schnell zu bessern, um das Studium wieder fortsetzen zu können. Raskolnikow war schon vier Monate lang nicht bei ihm gewesen; Rasumichin aber wußte überhaupt nicht einmal, wo der andre wohnte. Vor zwei Monaten waren sie einmal auf der Straße einander entgegengekommen und schon ziemlich nahe gewesen; aber Raskolnikow hatte sich weggewendet und war sogar auf die andre Seite hinübergegangen, damit jener ihn nicht bemerken sollte. Und Rasumichin hatte ihn zwar doch bemerkt, war aber vorbeigegangen, um seinen „Freund“ nicht zu belästigen.
V
,In der Tat, vor kurzer Zeit hatte ich wirklich noch vor, Rasumichin um Arbeit zu bitten. Er sollte mir Privatstunden oder sonst etwas verschaffen‘, überlegte Raskolnikow; ,aber womit kann er mir jetzt helfen? Angenommen, er verschafft mir Stunden, angenommen sogar, er teilt mit mir seine letzte Kopeke, wenn er noch eine hat, so daß ich sogar imstande bin, mir Stiefel zu kaufen und meinen Anzug ausbessern zu lassen, um zu den Privatstunden gehen zu können, . . . hm. Aber was dann weiter? Was kann ich mit so ein paar Groschen anfangen? Entspricht das etwa meinem jetzigen Bedürfnisse? Es ist rein lächerlich, daß ich jetzt zu Rasumichin gehen wollte.‘
Die Frage, warum er jetzt zu Rasumichin gehen wollte, regte ihn in Wirklichkeit mehr auf, als er selbst glaubte; voll Unruhe suchte er irgendwelchen für ihn unheilverkündenden tieferen Sinn in diesem anscheinend ganz gewöhnlichen Vorhaben.
,Wollte ich denn die ganze Angelegenheit einzig und allein durch Rasumichins Beihilfe in Ordnung bringen, und glaubte ich, bei Rasumichin Rettung aus aller Not zu finden?‘ fragte er sich verwundert.
Er sann nach und rieb sich die Stirn, und — seltsam! — ganz unvermutet, plötzlich und fast von selbst kam ihm nach langer Überlegung ein sonderbarer Gedanke.
,Hm . . . zu Rasumichin‘, sagte er im Tone einer endgültigen Entscheidung vor sich hin und fühlte sich auf einmal völlig ruhig, ,zu Rasumichin werde ich gehen, bestimmt, . . . aber nicht jetzt gleich. Ich will zu ihm hingehen am Tage nach der betreffenden Sache, wenn die bereits erledigt ist und mein ganzes Leben einen neuen Anfang nimmt.‘
Und auf einmal kam er zur Besinnung.
„Nach der betreffenden Sache!“ rief er und sprang von der Bank auf. „Aber wird die denn stattfinden? Wird sie wirklich stattfinden?“
Er verließ die Bank und ging weiter, er lief beinahe. Er war schon im Begriff, umzukehren und nach Hause zu gehen; aber hiergegen stieg ihm ein furchtbarer Ekel auf: dort, in jenem gräßlichen, schrankartigen Kämmerchen, war schon seit mehr als einem Monat dieser ganze Plan in seinem Gehirne herangereift — und er ging immer geradeaus weiter.
Sein nervöses Zittern ging in ein fieberhaftes über; er empfand sogar ein Frösteln; bei dieser Hitze fror ihn! Mit großer Anstrengung begann er, fast ohne sich dessen bewußt zu sein, einem inneren Zwange gehorchend, alle Gegenstände, an denen er vorbeikam, zu betrachten, als suche er sich gewaltsam zu zerstreuen; aber das gelang ihm nur schlecht, und er geriet alle Augenblicke von neuem in seine Grübeleien. Wenn er aber dann wieder zusammenfuhr, den Kopf hob und um sich blickte, so hatte er sofort vergessen, woran er eben gedacht hatte, und sogar, wo er ging. Auf diese Weise durchquerte er die ganze Wassilij-Insel, gelangte dann an die Kleine Newa, überschritt die Brücke und wandte sich den Ostrowa, den „Inseln“, zu. Das grüne Laub und die frische Luft taten anfangs seinen müden Augen wohl, die an den Straßenstaub, den Dunst des Kalks und die gewaltigen, beengenden und erdrückenden Häuser gewöhnt waren. Hier gab es keine dumpfe Luft, keinen üblen Geruch, keine Kneipen. Aber bald gingen auch diese angenehmen