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gefangen war, nahm sie das Pferd an sich, legte es in ihr Bett und streichelte es sacht. Alexander sah zu und verhöhnte sie:

      »Der dumme Holzgaul!« spottete er. »Der fühlt doch nichts!«

      Iso brach in Tränen aus.

      »Und wenn ich dir auf dem Rücken herumtrampele – mit Schuhen?«

      »Versuch’s doch –!«

      Diesmal ließ Iso sich nicht einschüchtern. Sie stieß mit dem Fuß nach dem Bruder, erwischte ihn an der Hüfte und warf ihn um. Er flog gegen den Tisch und brüllte – da kam die Mutter herein.

      »Iso, was tust du da –?«

      Ritsch, ratsch, kriegte die Tochter ein paar Ohrfeigen, und der Sohn wurde getröstet. Iso kroch zu ihrem Schaukelpferd ins Bett und heulte, aber leise – ihre Mutter hörte es nicht. Die Mutter hörte und verstand häufig nichts von Isos Kümmernissen ...

      »Ich will wieder nach Camenz, ich nehm’ dich mit«, flüsterte Iso ihrem Pferd zu, »wir beide gehören hier nicht her – wir wollen nach Hause –«

      Sie malte sich aus, wie sie, das geliebte Tier unterm Arm, bei ihrer Großmutter ankäme und wie diese sie in die Arme nähme, sie samt dem Schaukelpferd, und die wunderbarsten Worte der Welt sagte: »Ich hab’ euch lieb. Ihr bleibt bei mir ...«

      Im Kinderzimmer über der großen Klappbank, die das Spielzeug beherbergte, hing ein großes Bild. Es zeigte einen Meeresstrand mit Brandung und eine Schar junger Reiter in der Badehose auf Schimmeln, die dem Betrachter entgegensprengten, daß es spritzte. Dieses Bild prägte sich Iso tief ein und lenkte sehr viel später ihren Lebenslauf in eine der Familie wenig erfreuliche, für sie aber von Sehnsucht getragene Richtung.

      Iso war eigentlich seit Anbeginn ihres Lebens der heikle Punkt der Familie, das unregelmäßige Verb, das Ärgernis und der Sorgenstein. Sie war kein ›richtiges Mädchen‹, spielte nicht mit Puppen, las Jungensbücher und wäre am liebsten in Hosen herumgelaufen, aber das war damals unmöglich. Als Alexander vier Jahre alt war, begriff sie zum ersten Mal den Unterschied und bildete sich ein, daß man mit vier Jahren ein Junge würde. Diese Enttäuschung an ihrem vierten Geburtstag! Die Mutter fragte, warum sie weine, und Iso gestand es unter Schluchzen. Da lachte ihre Mutter hell auf, und daß sie lachte, nicht tröstete, nicht versuchte, dem Kinde klarzumachen, daß ein Mädchen nicht weniger wert sei als ein Junge, das vergaß Iso nie. Immer hieß es: »Du bist bloß ein Mädchen, du darfst dieses oder jenes nicht.« Daß es ein Vorteil sein könne, ein Mädchen zu sein, war undenkbar.

      Die Spiele der beiden Geschwister waren natürlich nach Alexander ausgerichtet, denn er hatte zu sagen. Die Puppenstube, die Iso geschenkt bekommen hatte, damit sie endlich Mädchenspiele lernte, wurde zur Kajüte eines Schiffes. Die Kinder besaßen das Abenteuerbuch »Siegesmund Rüstig«, das wochen- und monatelang nachgespielt wurde. Hauptpersonen dieser Spiele waren kleine Bären, Plischel und Plummel, Petzel und Schluckel. Eine weiße Maus aus Zelluloid hieß Karoline und stellte merkwürdigerweise eine Negerin dar. Auch traurige Erlebnisse gab es für die Kinder. Sie waren schon größer und durften allein zur »Völkerschlacht« gehen – kein Leipziger sagte jemals »Völkerschlachtdenkmal« –, ein Spaziergang, den sie sonst täglich mit Mutter Regine hatten machen müssen. Sie nahmen ein kleines Segelboot mit, das Alexander gehörte. Da hinein kam Petzel, ein Bär des Bruders, und an der »Völkerschlacht« wurde das Schiff unter Beachtung der Windrichtung in das Wasserbecken gesetzt, das dem riesigen Denkmal vorgelagert ist. Nun sollte Petzel dieses Weltmeer überqueren. Den Kindern war es streng verboten, im Wasser zu waten, sie mußten das Schiff also am andern Ufer erwarten.

      Aber o weh! Der Wind hielt nicht, was er versprochen hatte, und Petzel segelte keineswegs dem gegenüberliegenden Ufer entgegen. Die Geschwister warteten, lauerten, wünschten, hofften und verzweifelten. Schließlich kenterte das kleine Boot auf hoher See. Sie wußten beide, daß sich ein solches Schiffchen mit nassem Segel nicht wieder aufrichten würde. Da befahl Alexander seiner Schwester, Petzel zu retten. Und trotz des Verbots der Mutter zog sie Schuhe und Strümpfe aus, schürzte ihr Kleid und watete ins Wasser.

      Es war eine Verzweiflungstat. Sie glich den vorwärts stürmenden Teutonen, denen, um die drohende Niederlage auszuschließen, die Häuptlinge mit der blanken Waffe folgten. Es gab kein Zurück. Iso watete und watete, weinend und in der Gewißheit, daß dieser Ungehorsam auch noch vergeblich sein würde.

      Und er war es. Sie erreichte das Schifflein, aber Petzel war nicht mehr darin. Er war ertrunken. Und auch als Alexander von neuem befahl, den kleinen Bären zu suchen, blieb der Erfolg aus, wenn man es nicht als solchen rechnen wollte, daß Iso unterwärts klatschnaß zurückkam, was zu Hause nicht verborgen bleiben würde.

      Schließlich mußten sie den Heimweg antreten. Alexander schickte Iso voraus, um den Sturm zunächst auf sie zu lenken, aber o Wunder, die Mutter schalt diesmal nicht ob des Ungehorsams, sondern lächelte immerhin mitleidig. Sie ging dem Sohn entgegen, gewärtig, er würde wie sie den Verlust ein wenig kindisch finden. Aber nein, auch Alexander war untröstlich.

      Die Mutter redete ihm gut zu. Sie stellte in Aussicht, daß das Becken irgendwann abgelassen und man den Petzel denn sicherlich finden würde. Das erstere geschah eines Tages, aber auch intensive Suche nützte nichts. Petzel blieb verschwunden.

      4

      Der Erste Weltkrieg

      1914

      In diesem Jahr kam Friederike nach Leipzig, um die höhere Schule zu besuchen. Sie wohnte natürlich bei Geists und war viel mehr eine Schwester der beiden Kinder als eine Tante. Einmal fragte ein Lehrer Alexander, wer ihn denn von der Schule abgeholt habe, und der Junge sagte: »Meine Tante.«

      »Wie alt ist die denn?« fragte der Lehrer. Alexander gestand, sie sei fünfzehn.

      »Das ist ’ne schöne Tante«, lachte der Lehrer.

      Dann brach der Erste Weltkrieg aus.

      Martin, zehn Jahre älter als Regine, wurde zunächst nicht eingezogen. Damals erwartete Regine ihr drittes Kind. Sie freute sich sehr darauf. Der Krieg war noch fern, er bestand vorläufig aus Siegen, die auf Extrablättern bekanntgegeben wurden. Und wenn man von Gefallenen hörte, so waren es junge Männer aus der weiteren Bekanntschaft. Schorschel wurde eingezogen, kam aber noch nicht an die Front.

      Viele Lehrer fehlten in den Schulen, und ihre Vertreter waren oft merkwürdig. So unterrichtete in Friederikes Klasse ein zwanzigjähriger Medizinstudent, der sie sehr verehrte. Ging die Familie am Freitagabend in die Motette, was üblich war, so erschien er regelmäßig auf der Grimmaischen Straße, überholte sie, grüßte Friederike und blieb dann an einem Schaufenster stehen. Wenn Mutter Regine mit den Ihren weitergegangen war, überholte er sie wieder, und das wiederholte sich durch die ganze Innenstadt. Auch in der Thomaskirche stand er immer so, daß er Friederike betrachten konnte. Alexander und Iso lachten darüber, Regine fand es unpassend. Friederike sei noch zu jung für so etwas. Das gleiche fand sie später auch bei ihrer eigenen Tochter, als Iso in das entsprechende Alter kam. Mütter sind Schwestern und Töchtern gegenüber oft wenig sachlich. Warum eigentlich? Sie waren doch selbst einmal jung. Aber nun verbieten und warnen sie und liegen nachts schlaflos. Sind sie selbst zu ihrer Zeit zu kurz gekommen? Man könnte es annehmen.

      In diesem Jahr, da Großvater Haberland zwei große Lazarette betreute, das Schloß und das Mariannenhaus, und auf der Höhe seines Schaffens stand, ereignete sich etwas Entsetzliches, etwas, vor dem jeder Arzt zittert. Er wollte an einem jungen Soldaten eine kleine Ohrenoperation vornehmen. Die Schwester, mit der er seit Jahren zusammenarbeitete, reichte ihm die Spritze für die örtliche Betäubung, und er setzte sie an. Sie enthielt jedoch nicht Novokain, wie er angeordnet hatte, sondern Kokain. Der Patient starb auf der Stelle.

      Dr. Haberland wurde von diesem Ereignis zutiefst getroffen. Er zeigte sich sofort selbst beim Schwurgericht in Glatz an. Dort wurde er nicht freigesprochen. Die Sache kam vors Reichsgericht in Leipzig. Beide Großeltern fuhren in die Stadt, und sosehr sich Regine sonst über einen Besuch der beiden Eltern gefreut hätte, jetzt waren alle sehr bedrückt. Auch die Kinder saßen still und verschüchtert in den Ecken und sagten

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