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Freundin hatte sie. Am Ende des Dorfes, gegenüber dem ›Schwarzen Adler‹, lag der Kaufladen Dempe. Mit der einzigen Tochter des Inhabers war Regine befreundet, und diese Freundschaft sollte bis zum Tode dauern. Kaum ein Tag verging, an dem Regine nicht bei Dempes war. Der Laden war groß und dunkel, die ›aale Dempen‹, Lores Mutter, saß an der Kasse, klein und verhutzelt, und begrüßte Regine jedesmal mit gleicher Herzlichkeit. Dr. Haberlands waren gute Kunden. Im Laden roch es nach Sauerkraut und Bohnerwachs, Kaffee, Hanf und kaltem Porzellan. Denn auch Porzellan kann riechen, wenn es gestapelt in den Regalen steht. Vor Weihnachten gab es auch Spielzeug zu kaufen. Und Christbäume. Vater schimpfte immer, wenn Mutter einen Baum aussuchte, und nannte ihn »een Ladenhüter von der aalen Dempen«. Die Mutter war stets etwas nervös, wenn sie ihn geschmückt hatte – sie mußte sich des Vaters Kritik anhören. Der Vater ruckte den Baum hin und her, weil er, wie er fand, schief stand, und brachte es schließlich zuwege, daß er umfiel. Das war ihm peinlich; nun erinnerte er sich eines Krankenbesuchs und verließ fluchtartig das Haus. Zum Weihnachtsfest war meist Tante Agathe da, eine von Mutters Schwestern, und die beiden Damen mühten sich aufs neue um den Baum, stellten ihn wieder auf, befestigten ihn mit einer Wäscheleine und beschlossen dann, sich etwas auszuruhen, bis Vater wiederkomme. Tante Agathe legte sich aufs Sofa, und Mutter setzte sich in ihren Stuhl. Später entdeckte Regine am Kleid der Tante auf der Rückseite lauter runde braune Flecken. Das waren die Spuren des Christbaums, an den zur damaligen Zeit Näschereien gehängt wurden, so auch Schokoladentaler, die beim Sturz über dem Sofa abgefallen und unter Tante Agathes Gewicht und Wärme beim Erholungsschlaf geschmolzen waren.

      Da lachte auch der Vater, als man es ihm erklärte. Aber Dempes machte er weiterhin schlecht, sooft sich die Gelegenheit bot.

      2

      Der lustige Sachse

      1905

      Wieder war es Sommer, und der Vater machte mit Regine Ferien in Südtirol. Sie hatten einen langen Wandertag hinter sich. Regine kam die Treppe herunter und stieß die Tür zu dem kleinen Schankraum auf. Ach, wie gemütlich! Niedere Decke und blank gescheuerte Tische; ein Beisl nannte man das wohl. Ihr Vater saß am Fenster und las die Zeitung.

      »Hast du schon etwas bestellt?« fragte Regine und setzte sich zu ihm. Er nickte. Regine war so herrlich müde, wie durchmassiert von diesem Wandertag, aber nicht schläfrig. Gerade kam die Suppe.

      »Heiß. Verbrenn dich nicht, Väterchen«, warnte sie und nahm den Löffel auf. »Was meinst du, ob wir den lustigen Sachsen morgen wieder treffen?«

      Der ›lustige Sachse‹ war heute der Dritte im Bunde gewesen. Er wanderte allein. Der Vater hatte ihn nach dem Weg gefragt, den sie gehen wollten. Da hatte er sich ihnen angeschlossen.

      Er war älter als Regine, sah gut aus und sprach sein Sächsisch sehr mild, sozusagen ein höfisches Sächsisch. Während sie wanderten, erzählte er von einer Aufführung der ›Fledermaus‹ in Leipzig, und Regine lachte und sagte, ein Stück aus dieser Operette sei ihr Lieblingsstück auf der Spieluhr. Sie kannte nur das, wann wäre sie je ins Theater oder gar in eine Operette gekommen!

      Der lustige Sachse sang ihr sogleich vor, was sie am liebsten hatte: »Mein Herr Marquis, ein Mann wie Sie müßte das besser verstehen ...«

      Ihr Vater war so unmusikalisch wie ein Krokodil, auch Regine war nicht sehr begabt für Musik. Aber sie liebte Musik. Mittags waren sie zusammen eingekehrt, hatten gegessen und Tiroler Rotwein getrunken. Der Wanderkamerad hatte sich inzwischen vorgestellt: Dr. Geist aus Leipzig, am Bibliographischen Institut tätig. Nach dem Essen gingen sie zu dritt wieder los.

      Jetzt durchfuhr Regine ein kleiner angenehmer Schreck, als die Tür aufging und Dr. Geist hereinkam, sich umsah, sie und ihren Vater am Fenster erblickte und daraufhin die Tür leise hinter sich zuzog. Er trat an ihren Tisch. Der Vater sah auf.

      »Wie nett. Setzen Sie sich doch zu uns«, sagte er.

      Regine freute sich darüber. Ihr Vater war manchmal etwas schwierig in bezug auf Leute, die er nicht kannte. Siehe Dempes. Dr. Geist aber schien er zu mögen.

      So nahmen die Dinge ihren Lauf. Am nächsten Morgen setzte man sich schon wie zusammengehörig an einen Tisch, und Regine konnte vor Aufregung kaum schlucken. Dr. Geist fragte nach ihren Wanderplänen und meinte, er könne den seinen dem ihren vielleicht anpassen, wenn es ihnen recht sei. Regine wandelte wie auf Wolken.

      ›Ich bin meinem Schicksal begegnet‹, dachte sie im Stil der damaligen Romane, und wenn man es recht betrachtete, so war sie das auch. Diesmal sang Dr. Geist nicht Melodien aus der ›Fledermaus‹, sondern erzählte, von Regines Vater freundlich aufgefordert, von sich.

      Er lebte in Leipzig, war aber nicht dort geboren, sondern in Hosterwitz an der Elbe, wo sein Vater Pfarrer war. Diesem zuliebe hatte er zuerst Theologie studiert, seine Examina gemacht, hatte seine Probepredigten gehalten und dann eine Unterredung mit seinem Vater geführt, in der er ihn wissen ließ, daß er nicht Pfarrer werden wolle. Das kränkte seine Eltern tief, da sie einer langen Ahnenreihe von Pastoren entstammten und es als selbstverständlich angenommen hatten, daß Martin die Tradition fortsetzen würde. Er teilte ihnen mit, daß er sich für die Philologie entschieden habe, aber nicht Lehrer werden wolle, sondern ins Bibliographische Institut eintreten würde.

      Martin hatte drei Geschwister, er war der Älteste. Eine Schwester war mit einem Landschaftsgärtner verheiratet, der auf der Insel Mainau lebte und genau gesagt – aber Dr. Geist drückte sich bescheiden und sehr vorsichtig aus – die Mainau gestaltete und umgestaltete. Regine mußte sofort an ihr geliebtes Buch Ekkehard denken. Die andere Schwester hatte die Tradition gewahrt und einen Pastor in Sachsen geheiratet, der aus erster Ehe einen Sohn hatte, für den er eine zweite Mutter suchte. Der jüngste Bruder wollte später die Forstkarriere einschlagen und sollte Güterdirektor beim König von Sachsen in Sibyllenort werden. Jetzt war er noch im Studium.

      Dies alles erzählte Dr. Geist nach und nach auf Vaters freundliche Fragen hin, und Regine lauschte mit klopfendem Herzen. Sie versuchte herauszubekommen, wie lange sie noch gemeinsam wandern würden, konnte abends nicht einschlafen und heulte vor Glück und Angst um dieses Glück, kurz, sie benahm sich, wie man sich benimmt, wenn man das erste Mal richtig verliebt ist. Als dann der Abschied kam – Dr. Geist mußte seinen Urlaub früher beenden –, feierten sie am Abend mit einem Glas Wein, tauschten ihre Adressen aus, und Dr. Geist ließ sich versprechen, daß Regine am Morgen nicht aufstehen würde, um ihn zu verabschieden, da er zeitig wegmüsse. Sie war natürlich trotzdem auf und erwartete zitternd den ersten Kuß, den Dr. Geist ihr dann doch nicht zu geben wagte. Von nun an wanderten Vater und Tochter wieder allein, aber Regine hatte große Sehnsucht nach daheim und Martins erstem Brief, der auch prompt auf sie wartete. Sie widersprach nicht, als ihr Vater beim Einsetzen schlechten Wetters zeitiger heimfahren wollte. Von nun an wurden Briefe gewechselt, und am dreizehnten Dezember kam der erwartete, der den Heiratsantrag enthielt. Regine war selig.

      Für sie war die Welt verändert, es galten nur noch die Tage, an denen sie einen Brief von Martin erwarten konnte. Sie schrieb eifrig wieder, sie träumte, sie lief spazieren, um ungestört an ›ihn‹ denken zu können, und sie weinte am Neujahrstag herzlich und mit Genuß, weil gerade an diesem Tag kein Brief kam. Er kam am nächsten Tag, und dann, ja dann war es eines Tages soweit, daß Martin selbst kam.

      In diesem Jahr war es zeitig Frühling geworden. Regine hatte das Gefühl, als schmücke sich die Welt für den Tag ihres Wiedersehens, und wenn der Garten auch nicht viel hergab – Haberlands waren beide keine geschickten Gärtner –, so stand doch der Park im schönsten Frühlingskleid, und Regine brannte darauf, Martin alles zu zeigen.

      Um diese Zeit hatte die Familie es schwer mit Friederike. Es war, als ahnte das Kind, daß es nun für einige Zeit die zweite Geige spielen würde, und das gefiel ihm gar nicht. Friederike war gewöhnt, daß Regine ihr abends vorlas, aus dem geliebten schönen Märchenbuch, das Mutter vor Jahren gekauft hatte. Regine tat das gern, doch jetzt waren ihre Gedanken so von Martin erfüllt, daß diese Vorlesestunde manchmal ausfiel, und fiel sie nicht aus, so fühlte das Kind unbewußt, aber deutlich, daß Regines Gedanken woanders waren, auch wenn sie vorlas. Friederike reagierte, wie ein bis dahin im Mittelpunkt der Familie

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